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„Da steht mein Haus“

Hans Keilsons Lebenserinnerungen…

Von Roland Kaufhold

Sterne

„weißt du wieviel

das alte kinderlied
die kuchenform der mutter
als sie
für festtage
figuren schnitt
aus mürbeteig
herzen männchen tiere
und sterne
vor allem sterne
viele
(…)
Die süßen plätzchen
verbrannten
in den öfen

weißt du wieviel „

Hans Keilson, 1967 (Keilson, 2005, Werkausgabe Bd. 1, S. 41-43).

In diesem 1967 verfassten, mit Sterne betitelten Gedicht erinnert sich der große niederländische Schriftsteller und Psychoanalytiker Hans Keilson als alter Mann des Kinderliedes Weißt Du, wieviel Sternlein stehen? Er denkt voller Wärme an die Plätzchen, die seine Mutter als Weihnachtssterne gebacken hat: Ihr Leben endete in Auschwitz, gemeinsam mit dem seines Vaters.

Nun, 44 Jahre später, ist Hans Keilson 101 Jahre alt geworden und wird weltweit, insbesondere in den USA, geradezu hymnisch gefeiert. Die New York Times ernannte ihn zum „genius“, seine Romane zu „masterpieces“ – eine tröstende Erfahrung für diesen bescheidenen, trotz seiner verstörenden Erfahrungen lebensbejahenden Autor. Sehr lange war Hans Keilson nur Fachkreisen ein Begriff. Zuflucht suchte und fand der Exilant insbesondere beim P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland dessen Präsident er von 1985 – 1988 war; seit 2006 ist er Ehrenmitglied des Exil-P.E.Ns.


Foto: Martin Spieles / S. Fischer Verlag

Der Fischer Verlag hat soeben drei Neuerscheinungen Keilsons vorgelegt, zwei dieser neuen Werke haben wir kürzlich auf haGalil vorgestellt – nun folgt eine Besprechung seines letzten Werkes.

‚Da steht mein Haus‘. Erinnerungen ist dieser schmale Band betitelt, eine Sammlung kleiner, liebevoller Erinnerungsszenen an seine Kindheit in einem Dorf Brandenburgs, wie auch an seine Tätigkeit in der niederländischen Untergrundbewegung gegen die Nazis in den Jahren von 1936 – 1945.

Ungeachtet des Furchtbaren, welches folgen sollte, vermag sich Keilson an prägende Szenen aus einer jüdischen Kindheit zu entsinnen. Begonnen hat er mit diesem kleinen Werk vor zehn Jahren; seinerzeit hatte der schon über 90-jährige noch einige Patienten, seine Augen ließen noch längeres Lesen zu. Nun hat er diese literarischen Fragmente mit Hilfe seiner Ehefrau sowie seines Freundes Heinrich Detering zu einem anrührenden Erinnerungsbüchlein zusammengefügt. Ergänzt wird es durch ein längeres, ansprechendes Gespräch mit Detering.

Keilson eröffnet seine Erinnerungen mit einer lakonischen Bemerkung: „Wer als Jude und Verfolgter auf der Flucht mitten in Europa gelebt und überlebt hat, dem bietet sich im Rückblick als Hintergrund seines Daseins nur eine einzige, ungebrochene Kontinuität an: die des Kalenders mit seinen eintönig wiederkehrenden Zahlen“ (S. 9). Nein, auf eine nüchterne Aneinanderreihung verstreuter Lebensstationen lässt sich Hans Keilson nicht ein. Der am 12. Dezember 1909 in Freienwalde an der Oder Geborene – „Mein Leben und meine Erinnerungen sind verätzt von den Schwaden der Zerstörung“ (S. 10) – erzählt von der Landschaft seiner Kindheit, von einigen prägenden Szenen, aber auch von „bitteren Erfahrungen, unersetzlichen Verlusten und Abschieden, freiwilligen und ungewollten“ (S. 11). In seinen Erinnerungen entsteht dennoch ein Netz unverbrüchlicher Verbindungen, ein Gedenken an das Vergangene, Zerstörte und dennoch in ihm Lebendige.

Hans Keilson richtete sich darauf aus, sich „in der Fremde endlich zu Hause zu fühlen“ (S. 13) – in den Niederlanden, in Bussum, wo sein Haus steht – seit über 70 Jahren. „Auch diese Aufzeichnungen schreibe ich in den Niederlanden, wo ich nach der Verfolgung für immer blieb“ (S. 13), hebt der Exilant Hans Keilson am Ende seiner einleitenden Bemerkungen hervor.

Keilson erzählt von der Naturlandschaft im Oderbruch, den winterlichen, gewaltigen Eisschollen, den sanften Hügeln, der landwirtschaftlichen Industrie, in welcher er sich als Kind wohl fühlte: „Die Landschaft, in der man geboren und aufgewachsen ist, kann man nicht hassen. Sie erscheint wieder in Träumen – die Landschaft der Träume ist die Landschaft der Kindheit“ (S. 35) betont der Psychoanalytiker.

In der heimischen Kurkapelle erlebte er Geiger, Cellisten, Blechbläser, Trommler – prägende Erfahrungen für den späteren begeisterten Musiker. Er erzählt von den Kurpatienten seiner Heimat, auch von den zahlreichen jüdischen Gästen, die er gemeinsam mit seinen Eltern erlebte. Er erinnert sich der später von den Nationalsozialisten zerstörten Synagoge seiner Heimatstadt, die er gemeinsam mit seinen Eltern regelmäßig besuchte, wo er 13-jährig auch seine Bar Mizwa feierte. Anfangs führten seine Eltern „einen orthodoxen Haushalt“ (S. 22), später fühlten sie sich dem liberalen Judentum zugehörig. Keilson bemerkt über seinen Vater: „Zu den hohen Feiertagen schloss er sein Geschäft und ging, im schwarzen Anzug und mit einem Zylinder, zum Gottesdienst. Aber seine jüdische Erziehung war im Vergleich zu der meiner Mutter äußerst gering. Er konnte nur mit Mühe die hebräischen Texte der allfälligen Gebete lesen. Meine Mutter soufflierte ihm oft die Worte“ (S. 23).

Lange fühlte sich Hans Keilson seiner Umgebung zugehörig, religiöse und kulturelle Vielfalt erschien als eine Selbstverständlichkeit: „Auf den Straßen grüßten uns viele, die uns kannten, und wünschten uns gute Feiertage. Es bestand ein Einvernehmen ohne die geringsten Anzeichen eines späteren Wandels“ (S. 43).

Schleichend nistet sich die antisemitische Atmosphäre in sein Leben ein, er erfährt vereinzelt antisemitische Beleidigungen, Übergriffe, in seiner Klasse, aber auch im häuslichen Umfeld. Schrittweise wird ihm seine eigene Bedrohung bewusst. Ein Zeitungsbericht über den Hitler-Putsch führt zu einem politischen Gespräch des 13-jährigen mit seinem Vater: „Es war das erste Mal, dass mein Vater sich einem politischen Gespräch mit mir nicht verschloss. Vielleicht fand er mich jetzt erwachsen genug. Er blieb in diesen Gesprächen ruhig und gefasst“ (S. 28).

Er fühlt sich seinen Eltern nahe, im nachhinein betrauert er die verpassten Möglichkeiten von tieferer Nähe und gemeinsamer Gespräche: „Über seine Kindheit ist mein Vater immer schweigsam gewesen. (…)  Er hat nicht viel erzählt, und ich habe ihn zu wenig gefragt“ (S. 46).

Hans Keilson erlebt den wirtschaftlichen Niedergang, das väterliche Textilwarengeschäft hat zunehmend mit ökonomischen Schwierigkeiten zu kämpfen – eine Erfahrung, die er in seinem literarischen Erstlingswerk „Das Leben geht weiter“ (1933) verarbeiten sollte. 1932 geht er mit seinen Eltern nach Berlin, beginnt dort, auch Dank der finanziellen Unterstützung eines Onkels, ein Medizinstudium. 1936 flieht er dann in die Niederlande, schließt sich der dortigen Widerstandsbewegung an, 1940 muss er ganz in die „Illegalität“ abtauchen (vgl. vertiefend Kaufhold 2008).

1941, in der Illegalität, bekommt er mit seiner Frau eine Tochter, sie können wegen der Bedrohung nicht zusammen leben. Es gelingt ihm, seine Eltern in die Niederlande zu bringen, seine drei Jahre ältere Schwester emigriert in das damalige Palästina. Dorthin vermögen seine Eltern nicht mehr zu folgen. Sie werden in Auschwitz ermordet. Keilson bemerkt: „Während der ersten Jahre in den Niederlanden empfing ich dann regelmäßig Briefe von meinem Vater, ausführliche, vorsichtige Berichte über ihr Leben in Berlin und Fragen nach unserem Wohlergehen, einfühlsam und herzlich verfasst. Ich besitze sie noch“ (S. 48).

Es folgen Erinnerungen an seine Mutter – „eine schöne Frau, sie hatte ein ausdrucksvolles Gesicht, große strahlende, warme blaue Augen“ (S. 52)– , an ihren Gesang in der Synagoge, wie auch an seine Großmutter: „Meine Großmutter habe ich nur als eine an Jahren alte, aber lebhafte Frau in Erinnerung. Sie bewegte sich in ihrem Haus und auf der Straße auf eine Weise, die ihr Alter Lügen strafte. Sie trug eine randlose Brille, wie man einen Schmuck trägt“ (S. 55).

Hans Keilson erzählt von seiner Begeisterung für die Musik, wie auch für die Literatur – beides ließ sich auf Dauer nicht in gleichem Maße betreiben, neben dem Medizinstudium: „Inzwischen hatte ich angefangen, einen Roman zu schreiben. Ich musste mich entscheiden: entweder der Roman oder das Engagement. Ich entschied mich für den Roman“ (S. 80). Das hierauf folgende Kapitel eröffnet Keilson mit der Bemerkung: „Den Anfang der Shoa habe ich noch in Berlin miterlebt“ (S. 81). Er erzählt von einigen markanten Szenen aus seinem Überlebenskampf im Untergrund, mit einem gefälschten Pass, welchen ihm niederländische Freunde besorgt hatten. Die eigene existentielle Bedrohung war ihm stets gegenwärtig, dennoch scheint er von einer erstaunlichen Angstfreiheit gewesen zu sein: „Es gibt Extremsituationen, in denen man im Maul des Drachen gut aufgehoben ist. Ich reiste auf diese Weise durchs Land dorthin, wohin die Organisation mich hin schickte. Ich trug keine Waffe bei mir, ich habe nie den Umgang mit einer Waffe gelernt. Dadurch fühlte ich mich außerhalb meines Hauses in Delft stets sicher, sicherer“ (S. 91f.).

Keilsons Erinnerungen enden mit dem Krieg, aber er fügt noch eine kleine Szene bei, wie er 91-jährig, gesundheitlich bereits etwas angegriffen, bei einem Spaziergang einem dreijährigen Jungen aus der Nachbarschaft begegnet. Dieser interessiert sich für den alten Herrn: „Du bist alt“ (S. 107) ruft dieser ihm zu, um, über sich selbst Auskunft gebend, hinzuzufügen: „`Ich bin drei´, sagt der Junge selbstbewusst“ (S. 107). Hans Keilson verabschiedet sich von seinem jungen Bekannten, geht mit seinem Stock keine hundert Meter weiter, bis zu seinem Zuhause, „an der Kreuzung, da steht mein Haus, in Holland“ (S. 108).

Abgeschlossen wird dieser kleine Band durch das lange, verständige Gespräch mit seinem Kollegen und Freund Heinrich Detering. Ich möchte der Versuchung widerstehen, den Gesprächsfaden hier weiterzuspinnen. Der Leser möge sich selbst auf die Lesereise begeben…

Hans Keilson (2011c): „Da steht mein Haus“. Erinnerungen. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011, 130 S., geb., 16,95 Euro, Bestellen?

Literatur

„Keine Spuren mehr im Rauchfang der Lüfte – sprachloser Himmel“ – Zum Tode von Hans Keilson (12.12.1909 – 31.5.2011)

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