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Dieter Graumann: Geminderter Mahnsinn

Dieter Graumann ist promovierter Volkswirt und Chef einer Liegenschaftsverwaltung in Frankfurt. Er ist 1950 in Israel geboren, seine Eltern kehrten 1952 zurück nach Deutschland. Der Vater war durch Todesmarsch und La­ger geschwächt und hielt die israelische Hitze nicht aus. Der Protest gegen ein Theaterstück im Jahr 1985 wurde Initial für Graumanns Laufbahn im Zentralrat. 2006 wur­de er einer der beiden Vizepräsidenten, 2010 gilt er als Charlotte Knoblochs wahrscheinlicher Nachfolger im Prä­sidentenamt…

Aus „Jüdisches Vermächtnis. Porträt – Gespräche – Perspektiven“
Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland

Umbruchzeit?

Dieter Graumann lacht, als ich ihn auf den roten Faden an seinem linken Handgelenk anspreche. Dann sagt er: „Charlotte Knobloch trägt auch einen.“ Solche Armbänder kann man an der Klagemauer in Jerusalem kaufen. „Sie sollen den bösen Blick abhalten“, sagt Graumann, „das ist typisch: Wir Juden mögen solche Symbole.“ Allerdings ist die Bedeutung umstritten: „Auch das ist bei fast allem im Judentum so.“ Das Band markiert ein Stück weit auch ver­schiedenartige Vorstellungen von jüdischem Leben. Grau­manns Sohn Benny schätzt jüdische Traditionen und tritt in Vaters Fußstapfen; er trägt auch ein rotes Band. Tochter Jenny sieht das lockerer; sie will kein Band.

Wer nun glaubt, man müsse nur auf das Handgelenk schauen und könne gleich am roten Faden erkennen, wie jeder Einzelne, der täuscht sich. Die Wirklichkeit ist auf­regender.

Graumanns Sätze klingen nach Umbruch: „Der Zentral­rat der Juden muss raus aus der Dauermeckerecke, wir dürfen nicht länger in eine Empörungsroutine verfallen.“ Die Schoah dürfe nicht Ersatzreligion oder Ersatzidentität werden, Juden müssten endlich auf die positive Kraft einer Gemeinschaft mit einer besonderen Religion, einer reichen Kultur und einer langen Tradition setzen.

Neue Töne nach Zeiten, in denen man in Deutschland Juden überwiegend als traurige Opfer von früher oder als Dauermahner von heute wahrnahm?
Ja. Und nein.

Anders als viele Medien behaupten, wird mit dem Ende der Amtszeit von Charlotte Knobloch im November 2010 nicht das Thema Holocaust archiviert, sagt Graumann. Kein Jude wolle einen Schlussstrich unter das Thema Ho­locaust, wie ihn der Schriftsteller Martin Walser in seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche verlang­te. Walser brach damals eine Lanze für einen „Antisemitis­mus für Intellektuelle“, empört sich Graumann.

Erinnerung habe für Juden auch nichts Museales. „Wir brauchen kein Holocaustmuseum und kein Stelenfeld. Wir tragen das Mahnmal in uns, in unseren Herzen.“ Das verer­be sich an die nächsten Generationen: „Wir Juden sind eine Gemeinschaft mit einem sehr guten Gedächtnis. In unserer Religion gedenken wir Ereignissen, die zweitausend Jahre zurückliegen. Warum sollen wir den Holocaust vergessen, der Millionen von Menschen verschlungen hat und gerade mal 70 Jahre zurückliegt?“

Wird sich also etwas ändern? „Wir müssen künftig Holo-caust-bewusst sein, nicht Holocaust-zentriert“, sagt Grau­mann. Weil sich Zeitläufte verändern: Die Erlebensgene­ration geht, aus Osteuropa wanderten jüdische Menschen zu, die sich nicht nur als Hitlers Opfer sehen, sondern als Soldaten der Roten Armee auch als seine Besieger. Deshalb erinnern sie sich nicht nur am 9. November der Reichspog­romnacht, sondern auch am 9. Mai des Siegestages. Grau­mann will diese Geschichtskulturen verbinden.

Der Zentralrat war häufig der Zeremonienmeister der Mahnkultur, bisweilen wurde ihm unterstellt, regelrecht nach Hinweisen auf Antisemitismus zu suchen. Oder? „Das stimmt“, gibt Graumann zu. Teils war das eigene Überzeu­gung und Verletzung, teils bürgerte es sich so ein: Medien und Öffentlichkeit erwarteten das sozusagen. „Wenn ich einem Journalisten erzähle, auf deutschem Boden leben seit 1700 Jahren Juden, doch noch nie so frei wie heute, winkt er ab. Das will keiner wissen“, behauptet Graumann. Medienleute fragen ihn oft nach seiner Meinung über be­stimmte Dinge. Das Spiel folge immer denselben Regeln: „Schimpfe ich, kommt das in den Medien, lobe ich, kommt nichts.“ „Wir müssen diesen Mechanismus selbst durchbre­chen“, sagt er. Dauerndes Mahnen werfe kein gutes Licht auf den Zentralrat und man erweise sich einen Bärendienst: „Uns nimmt keiner mehr ernst, wenn es wirklich brennt.“

Sein Vermächtnis ist sein Programm: Wir müssen unse­ren „Mahnsinn vermindern“.

Bloß nicht auffallen

Graumann ist kein Revolutionär, sondern Geschäftsmann, Makler und ein politischer Kopf. Er beobachtet scharf, spricht schnell, laut und argumentiert pragmatisch. Er hat nichts dagegen, aufzufallen. Seine Eltern wollten, kurz nach Kriegsende, genau das Gegenteil für sich und für ih­ren Sohn: Bloß nicht auffallen.

Dieter hieß David. Bis er in die Schule kam. Seine Eltern benannten ihn um, damit er nicht als Jude erkannt wür­de. Sie fürchteten, er habe dadurch Nachteile. Beide hatten Konzentrationslager überlebt, sein Vater zudem den Todes­marsch nach Buchenwald. Am ehesten überlebte, wer nicht auffiel. Die Eltern lernten sich in einem Flüchtlingscamp in Frankfurt kennen und lieben, heirateten, wanderten 1950 aus nach Israel, wo David wenige Wochen später geboren wurde, in Ramagdan, nicht weit von Tel Aviv. Der Vater war durch Todesmarsch und Lager jedoch so geschwächt, dass er die Hitze nicht aushielt. 1952 kehrten sie zurück nach Frankfurt – „erst einmal“, sagt Graumann.

Im Land des Regimes, das sie einst töten wollte, saßen sie auf gepackten Koffern, unschlüssig, ob sie bleiben oder wohin sie gehen sollten. „Ich fühlte die Zerrissenheit der Eltern“, erzählt Graumann. Als kleiner Junge schon hörte er die Geschichten aus den Lagern. „Meine Mutter hat nie verwunden, dass sie sich von ihren Eltern nicht verabschie­den konnte.“ Viele Kinder hatten das Gefühl, ihre seelisch tief verwundeten Eltern schützen zu müssen. So verschwieg Graumann seinen Eltern, dass er bereits in der ersten Schul­stunde seine Konfession nennen musste. Der Namenstausch war also wirkungslos. Obwohl er seinen neuen Vornamen nicht mochte, blieb es auch später bei Dieter.

In jenen Jahren eröffnete sein Vater an der Frankfurter Uauptwache das erste Schneilimbissrestaurant der Stadt. Die Mutter packte kräftig mit an, briet Schaschlik und kochte Frankfurter Würstchen. Die Eltern verdienten so gut, dass sie investieren konnten. Graumann senior kaufte gemeinsam mit einem Partner einen Bauplatz und errich­tete Mietwohnungen – der Grundstein einer erfolgreichen Liegenschaftsverwaltung. Langsam verblassten die Pläne auszuwandern. Deutschland wurde zur Heimat.

Dieter Graumann hatte es leicht. Seinen Kameraden schien gleichgültig, dass er jüdisch war, er fühlte sich ak­zeptiert – im Unterricht, beim Schach, beim Skat, auf dem Fußballplatz. In der Grundschule war er der einzige Jude in der Klasse. Auch im Gymnasium war seine Religion nie ein Thema. Graumann war ein sehr guter Schüler. „Da hat man es immer einfach, weil jeder Lehrer glaubt, es liegt an ihm, wenn man gut ist“, sagt er. Trotzdem: „Ich war immer auf der Lauer, ob mich einer benachteiligte.“ Viele Lehrer erzählten vom Krieg, den sie als Soldaten selbst erlebt hat­ten, von der Front, von soldatischer Disziplin. Über die Verbrechen der Nazis verloren sie kein Wort. „Ich sah mir jeden genau an“, erzählt Graumann, „und fragte mich, was der wohl im Krieg noch getan hat.“ Dabei habe er stets ge­spürt, wenn einer Schuld trug und etwas zu verbergen hat­te. So sehr sei er von Eltern und Freunden für das Thema Antisemitismus sensibilisiert worden, dass er ihn gleichsam erfühlen konnte, auch wenn sein Gegenüber keine Worte verlor, behauptet Graumann. Das sei wie bei einer schönen Frau: Keiner könne definieren, wann eine Frau schön sei, aber wenn sie vor einem stehe, sehe es jeder.

Graumann studierte in Frankfurt Volkswirtschaft und am King’s College in London Rechtswissenschaft, promo­vierte über die Europäische Währungsunion, arbeitete ein paar Jahre bei der Deutschen Bundesbank, stieg dann in die Liegenschaftsverwaltung des Vaters ein. Er heiratete eine Jüdin, ihre beiden Kinder besuchten jüdische Kinder­gärten, später jüdische Schulen in Frankfurt. In der jüdi­schen Gemeinde übernahm er Ehrenämter, wurde Präsi­dent des jüdischen Fussballvereins „Makkabi“. „Wir leben religiös, nicht orthodox“, erzählt Graumann. Kurz: Er war der Mustersohn, den seine Eltern sich wünschten. Doch seit er öffentlich als Nachfolger von Charlotte Knobloch gilt, seitdem er immer mehr im Rampenlicht steht als Jude, ist sein Vater nicht gut auf ihn zu sprechen.

Kämpferisches Judentum

Graumanns Karriere im Zentralrat begann eigentlich vor 25 Jahren, mit der Premiere von Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ am 31. Oktober 1985 im Frankfurter Schauspielhaus. Die Inszenierung ge­riet zum Skandal: Vor dem Gebäude wurde demonstriert, drinnen sprangen Zuschauer, darunter viele Mitglieder der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, auf die Bühne, um die Schauspieler am Weiterspielen zu hindern. Sie empfanden das Stück als antisemitisch, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde und Investor Ignatz Bubis fühlte sich durch die Rolle des reichen Juden persönlich angegriffen und stellte sich schimpfend vor die Mikrofone. Dieter Graumann „war fasziniert, wie Bubis sich für die jüdische Sache einsetzte -ein Coming Out der jüdischen Gemeinschaft. Zum ersten Mal stellten wir uns offensiv gegen eine herrschende Stim­mung in Deutschland, die den Boykott als Bedrohung der Kunstfreiheit kritisierte“.

Die Aktion machte Bubis bundesweit bekannt. Der spä­tere Zentralratspräsident verkörperte eine neue Haltung: Wer Gesicht zeigte und sich traute, bewegte etwas. Erstmals zeigte eine jüdische Gemeinde öffentlich und offensiv, wie verletzt sie sich fühlte. Durch den Holocaust traumatisiert, versteckten bis dahin viele Juden lieber ihre Identität und fürchteten aufzufallen. Bubis‘ Beispiel war für Graumann auch persönlich eine „Erweckung“. Bubis wurde sein Men­tor, „vererbte“ ihm den Posten des „Finanzministers“ der Gemeinde, animierte ihn, für den Gemeinderat zu kandi­dieren, und sorgte nach der Wahl auch sofort dafür, dass er in den Vorstand kam. Sogar zu seinen Terminen mit Staats­chefs der Welt nahm Bubis ihn mit. Der Präsident umgab sich gerne mit jüngeren, handverlesenen Leuten, die er sich selbst aussuchte, erzählt Graumann. Gemeinsam mit Mi­chel Friedmann kümmerte sich Bubis um jüdische Belange… … …

In der Friedens-Harmonie-Soße

Graumann arbeitet noch als Makler, widmet aber längst die Hälfte seiner Zeit der Politik und ist bereit für mehr. Auf den blauen Ledersofas in seinem Büro, wo wir nun sitzen, stritt er vor einiger Zeit mit Guido Westerwelle. „Er suchte das Gespräch“, sagt Graumann, und zwar letztlich wegen der „tief antisemitischen Wahlkampagne der FDP“ im Jahr 2002. Graumann empört sich über diesen Wahlkampf bis heute. Kopf der Kampagne war zwar Jürgen Möllemann, damals Landtagsabgeordneter sowie Bundestagskandidat. Aber der damalige FDP-Bundesvorsitzende Westerwelle habe sie „nicht nur laufen lassen, sondern sie auch befürwortet“.

Möllemann kritisierte Israel, zeigte Verständnis für die Selbstmordattentate von Palästinensern und umwarb mit­telbar für die FDP-Fraktion in Nordrhein-Westfalen, den Ex-Grünen Jamal Karsli, einen Politiker, der Israel „Na­zi-Methoden“ unterstellte . Und Möllemann stellte Ari­el Scharon (damals israelischer Ministerpräsident) sowie Michel Friedmann (Moderator und damals Vizepräsident des Zentralrats) in eine Reihe, indem er behauptete, sie för­derten durch ihre Äußerungen den Antisemitismus. Durch ein Flugblatt kurz vor der Bundestagswahl trieb er diese Unterstellung auf die Spitze. Das Wahlergebnis war für die FDP enttäuschend, die Partei stand vor der Spaltung. Als herauskam, dass das Flugblatt auch dubios finanziert war, spitzte sich der Konflikt zu auf Möllemann; er trat im Mär/ 2003 aus der Partei aus.

Graumann nimmt Westerwelle ab, dass er den Schulterschluss mit Möllemann nicht wiederholen würde. „Ich lasse aber offen, was passiert wäre, wenn die Umfragen damals die FDP nicht so in den Keller gebracht hätten.“ In dieser „Möllemann-Vorbelastung“ sieht Graumann das Motiv, weshalb Westerwelle vor seinem Antrittsbesuch als deutscher Außenminister in Israel im November 2009 bei der Zentralratspräsidentin anfragte, ob sie ihn begleite. Die Entscheidung von Charlotte Knobloch sei wohl eher eine persönliche Geste der Vergebung. Eine Aufgabe des Zent­ralrats sei eine solche diplomatische Tour nicht.

Der Zentralrat vertritt Juden in Deutschland und damit weder deutsche Interessen in Israel noch israelische Interes­sen in Deutschland. Jedenfalls wäre das so vorgesehen.
Tatsächlich sei es immer wieder anders.

Graumann erzählt ein Beispiel: Eigentlich müsse der is­raelische Botschafter in Deutschland den Deutschen die Position Israels verständlich machen. Der jetzige Amts­inhaber, Yoram Ben-Zeev, halte sich aber sehr zurück. Des­halb fragen viele den Zentralrat und deshalb falle jegliche Äußerung des Zentralrats besonders auf. „Wir wollen und dürfen die Funktion des Botschafters nicht wahrnehmen.“

Ihm gefiel weit besser, dass ein Vorgänger Ben-Zeevs, Avi Primor, in seiner Amtszeit (1993-1999) eine deutlich hörbare Stimme im deutsch-israelischen Dialog wurde. Primor, Jahrgang 1935, wurde wegen eines Interviews aus Deutschland abberufen. Die „Welt“ zitierte ihn, die der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu angehörende religiöse Schas-Partei basiere nicht auf demo­kratischen Prinzipien. Primor machte geltend, in diesem Text seien Äußerungen aus dem Zusammenhang gerissen worden. Er schied aus dem diplomatischen Dienst aus und gründete ein internationales Studienzentrum; im Mai 2010 trat er als Unterzeichner der europäischen , JCall-Initiative“ für Israel auf.

Der Gaza-Konflikt 2008/09 war für Graumann ein Bei­spiel, wo der amtierende Botschafter unbedingt sich laut hätte zu Wort melden müssen. Er hätte erklären müssen, dass die Operation „Gegossenes Blei“, eine Militäroperati­on der israelischen Streitkräfte gegen die Hamas im Gaza­streifen, gute Gründe gehabt habe. Denn seit Jahren habe die Hamas israelische Städte aus dem Gazastreifen atta­ckiert.
Außerdem war dies ein Stellvertreterkrieg, weil der Iran Israel das Existenzrecht abspricht und die Hamas unter­stützt. Die Lager wurden offen sichtbar: Ägypten trat als Vermittler auf, unterstützt von EU und Vereinten Nationen, und heftig kritisiert von den arabischen Medien. Syrien und Iran wollten Israel politisch isolieren.

Doch dies alles wurde nicht deutlich genug. So erklärt sich Graumann letztlich die Israel-kritische Haltung der deutschen Öffentlichkeit. Der damalige Bundesaußenmi­nister Frank-Walter Steinmeier (SPD) billigte Israel zwar ein Recht auf Selbstverteidigung zu. In seiner Partei wuchs aber die Kritik am israelischen Vorgehen. Wieder musste der Zentralrat zwangsläufig ins Scheinwerferlicht, klagt Graumann, und wieder wäre eigentlich der Botschafter in der Pflicht gewesen, all jenen Deutschen, die Israels Lage nicht begriffen, die Hintergründe zu erläutern.

Beim Thema Zuwanderung hingegen sei direkt der Zen­tralrat gefragt. Graumann war Verhandlungsführer bei der 2005/06 in Kraft getretenen Neuregelung in Deutschland. Die deutsche Regierung wollte weit restriktivere Regeln als der Zentralrat, die israelische Regierung ebenso; ferner sollten Ostjuden in Deutschland über in Israel beheimate­te Organisationen betreut werden. „Das wollen wir nicht. Wir brauchen das nicht, das machen wir schon selber“, echauffiert sich Graumann, „dafür gibt es uns, dafür ist der Zentralrat da.“

Der Graben zu den Zionisten ist tief. Graumann betont, für jeden Juden sei wichtig, dass es einen jüdischen Staat gibt, in dem er berechtigt ist zu leben. Aber freiwillig. Er akzeptiert die zionistische Position nicht, nur Israel sei Zu­fluchtsort für Juden und der Zentralrat müsse verhindern, dass diese Juden nach Deutschland kommen. „Wir ermun­tern nicht, schaffen aber großzügige Zuwanderungsrege­hingen. Jeder Jude soll selber entscheiden, in welchem Land er leben will.“ Auch das Argument, vor allem das Land der Täter zu meiden, lässt er nicht gelten. In Deutschland „existiert ein Klima der Liberalität, ein Klima offener Oh­ren und Herzen jüdischen Belangen gegenüber“. Besonders seit der Amtszeit von Bundeskanzlerin Angela Merkel sei sichtbar, dass Deutschland ein Freund von Israel ist. „Und es ist wahrlich nicht leicht, ein Freund von Israel zu sein, weder für den Zentralrat, noch für einen Staat.“

Im Jahr 2004 wurden die Beziehungen zwischen Zen­tralrat und Israel richtig „heikel“, beschreibt Graumann. Denn in jenem Jahr (und bislang nur da) zogen mehr Ju­den aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland als nach Israel. „Die israelische Regierung wurde extrem ner­vös und fühlte sich in ihrem zionistischen Stolz tief verletzt“ – ungeachtet dessen, dass über die Jahre die Zuwanderung nach Israel immer höher war als die nach Deutschland.

Die Lage des am 14. Mai 1948 gegründeten Staates war nie sehr stabil. Gleich in der Gründungsnacht erklärten Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon, Saudi-Arabien und Sy­rien dem neuen Staat den Krieg. Er dauerte bis Juli 1949 und brachte Israel, verglichen mit dem UN-Teilungsplan 1947, einen beträchtlichen Gebietsgewinn. Bis heute gab es in Israel nie einen Gesamtfrieden, sondern meist nur Waf­fenstillstandsabkommen.

Graumann kam mit zehn Jahren, gemeinsam mit den El­tern, wieder nach Israel. Für ihn verbinden sich zwei tiefe Gefühle mit diesem Land: die Liebe zum Ursprungsland des Judentums und die Entschlossenheit. „Wir Juden wol­len nie mehr Opfer sein“, sagt Graumann, „deshalb gibt es unter uns Juden diese kämpferische Einstellung. Deshalb unterstützen wir Israel, weil wir wissen, dass Israel nach wie vor bedroht ist in seiner Existenz.“

In Deutschland hingegen provoziert genau diese Haltung. Denn man zog aus der Geschichte die Lehre: Nie wieder Täter sein. „Die Deutschen meinen, alles müsse man fried­lich lösen“, sagt Graumann. Sie ertränken die Unterschie­de zwischen richtig und falsch, gut und böse in einer „di­cken Friedens-Harmonie-Soße“. Deshalb lehnen sie Israels Wehrhaftigkeit ab. „Manche Deutsche benehmen sich wie selbsternannte Bewährungshelfer, die aufpassen, dass die Nachkommen der Opfer nur nichts Schlimmes anrichten“, sagt Graumann. Einige wollen die Schuld ihrer Vorfahren verkleinern, indem sie die Nachfahren der Opfer mit neuer Schuld beladen – bis hin zu dem Satz, Israelis von heute sei­en wie Nazis von damals. „An diesem Punkt setzt für mich der Antisemitismus ein“, protestiert er. „Das geht nie, bei aller Berechtigung zur Kritik an der Politik Israels. Solche Parallelen sind antisemitisch.“ Ähnlich unfassbar sind für ihn Klischees, Israel könne sich mehr erlauben als ande­re Länder oder: Deutsche dürfen Israelis nicht kritisieren. „Das stimmt doch gar nicht, im Gegenteil“, ärgert er sich, „in Deutschland ist es populär, Israel zu verdammen.“


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Michel Friedman: Die Zeit ist reif, die Führung nicht

Michel Friedman ist Journalist und Anwalt

Michel Friedman, Jahrgang 1956, ist Anwalt in einer Kanz­lei, die auf Wirtschafts- und Medienrecht spezialisiert ist, Moderator („Vorsicht Friedman!“, „Studio Friedman1) und CDU-Politiker. Er stammt aus einer polnisch-jüdi­schen Familie, engagierte sich in der Jüdischen Gemein­de Frankfurt, wurde Vizepräsident des Zentralrats (2000) und Präsident des Europäischen Weltkongresses (2003). Im Jahr 2003 rückte ihn ein Skandal um Kokain und Zwangsprostitution in den Fokus der Staatsanwaltschaft, er legte alle Ämter nieder. 2010 schloss er seine zweite Promotion ab – in Philosophie. Darin befasst er sich mit Hirnforschung und der Frage, inwiefern Haftstrafen helfen, jugendliche Gewalttäter zu resozialisieren.

Spricht man gegenwärtig über den Zentralrat der Juden in Deutschland, riechen die Worte nach Aufbruch: Genera­tionswechsel, Epochenwechsel, Dynamik, Neuanfang. Als Motor der Wende gelten die Zuwanderer aus Osteuropa, durch die neue Anforderungen entstehen, und als Macher die Leute, die nun in die erste Reihe rücken und nicht mehr der Erlebensgeneration angehören. Michel Friedman wi­derspricht: „Die Wende kommt nicht; jedenfalls noch nicht, behauptet er. Die Zeit sei reif, die gegenwärtigen Führungsleute seien es nicht. Keiner von ihnen wisse, wie die Zukunft des jüdischen Lebens in Deutschland aussehen müsste, jeder kenne die“… … …

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