Yitzhak Laor:
Steine, Gitter, Stimmen
Unionsverlag 2003
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Leseprobe Yitzhak Laor:
"Steine, Gitter, Stimmen"
Freitagmorgen, 6.3.81, 8:09 Uhr, drei Goldkränze werden sie
Mama machen. Manchmal befällt Djamila Angst, ihr Leben könnte verlaufen
wie das Leben von Tante Na’ila, nur weil sie geschieden wurde – und ihr
Mann, anstatt zu Gott zu beten ›Gib ihr die Frucht des Leibes‹, ließ sie
gehen wie eine freigelassene Sklavin und machte sich davon, und alles,
was danach kam, kam durch Niedertracht von Menschen, denn sie brachten
sie um, weil sie schwanger wurde, und wenn sie schwanger geworden war,
wie konnte es dann sein, dass ihr Mann sie wegen Unfruchtbarkeit
verstoßen hatte, denn in Wahrheit verabscheute er sie und sagte, ich
kann nicht mit einer Frau leben, die wie meine Mutter ist, und auch,
wenn Djamila nicht wusste, was das heißen sollte, wusste sie, dass der
Koran eine solche Begründung verbietet, weshalb ihre Mutter immer sagt,
»Ich suche Zuflucht beim Herrn der Morgenröte vor dem Unheil von dem,
was er geschaffen hat, von hereinbrechender Finsternis, von bösen
Weibern, die Zauberknoten bespucken, und von einem Neider, wenn er
neidisch ist.« Und vielleicht hat Djamila Angst, weil ein Soldat sie
einmal angelächelt hatte? Nein, denn sie hatte sogleich auf die Straße
gespuckt. Und vielleicht kommen dem Menschen Ängste einfach so, in den
Stunden, da das Universum still und das Sausen der Zeit zu hören ist,
ohne den Körper des Menschen, der mit ihr schlägt, allein für sich, denn
der Zeit ist der Körper einerlei (dachte Djamila tatsächlich so? Ja,
doch, so dachte Djamila, die Welt ist ein flüchtiger Duft, aber es gibt
keinen Ausweg, und deshalb muss man sich freuen, doch im Herzen nagt die
Angst, und eine Frau, die keine Kinder hat, hat keine Beschützer,
weshalb sie fürs Erste auf Yazid und Marwan Acht gibt, dass diese nicht
losgehen und Steine werfen, und stattdessen Goldarmbänder für Mama
auffädeln. Oh, Mama, Mama). Freitagmorgen, 6.3.81, 8:10 Uhr, das Lager
Deir el-Balah liegt in Stille gehüllt, bis die Bienen in den
Zitrusplantagen zu hören sind, als herrschte Ausgangssperre, aber noch
ist keine Ausgangssperre. Wer zum Arbeiten gefahren ist, ist bereits um
vier in der Früh aufgebrochen, und wer geblieben ist, wartet zu Hause,
und der Patrouillenjeep rollt ganz langsam daher, gut gepanzert mit
Sandsäcken, seine Insassen sind angespannt, auf der Hut, wenn sie
sprechen, ist nicht klar, mit wem, mit sich selbst, mit Gott, mit ihren
Kameraden, doch die Helme schützen ihre vor lauter Angst betäubten
Köpfe. Früher, noch vor ein paar Jahren, sagt Benjamin Cohen, war es
möglich, neben einem Café anzuhalten, in der Jaffa-Straße, und mit ihnen
zu sitzen, sogar die Waffe im Wagen zu lassen, um Kaffee zu trinken,
aber jetzt ist alles anders, sagt Benjamin Cohen angsterfüllt, und wie
wir früher Olivenöl und Mandeln gekauft haben, und die anderen nicken:
Bei jedem frisst sich die Angst anders in den Bauch. Khajun schwitzt an
den Händen, das Lenkrad ist bereits schweißnass, er wischt eine Hand an
der Hose ab und danach die andere, Freitagmorgen, 6.3.81, 8:11 Uhr, man
sieht das Lager von der Straße aus, was soll schon sein? Steine? Und
Cardoso muss schon wieder scheißen, »Was machst du dir in die Hose?«,
fragt Primo murmelnd, »Das stimmt nicht«, streitet Cardoso ab, verstummt
und findet dann eine Antwort. Er braucht immer eine Stunde bis zum
ersten Schiss und danach noch eine halbe Stunde bis zum zweiten Schiss,
deswegen trinkt man Kaffee, und der Kaffee, den sie morgens in der
Truppe trinken, das ist kein Kaffee, er hat Verstopfung, nur eine
Zigarette hilft da, und am allerschlimmsten ist, dass seine Frau denkt,
er rauche aus Angst während des Reservediensts, denn es ist ihm
unangenehm, ihr zu erklären, warum er morgens eine raucht. Was ist los,
Cardoso, wie viele Jahre bist du schon verheiratet, und du kannst deiner
Frau Sachen nicht erzählen, die du uns erzählst? Stille, Freitagmorgen,
6.3.81, 8:12 Uhr, nur Nathan, der Patrouillenführer fürchtet sich,
vernehmlich, schreit plötzlich: »Der den Himmel hüllt in Gewölk, der der
Erde Regen bereitet, der die Berge Gras sprießen heißt, dem Vieh seine
Speise gibt, den jungen Raben, wonach sie rufen. Nicht an des Rosses
Gewalt hat er Lust, nicht an den Schenkeln des Mannes Gefallen«, und
irgendeiner meint, »Nathan, halt die Schnauze«, worauf er nur noch
murmelt, im Chor mit dem quäkenden Funkgerät (in Patrouille 3 ist einer,
der zurückwill, und die Kompaniesekretärin sagt ihm über Funk: »Beruhig
dich, Josef, der Kommandeur wird mit euch reden, sobald er zurück ist«,
»Er heißt nicht Josef«, »Egal, sagt ihm, er soll sich beruhigen«), doch
da gibt Nathan von neuem Prophezeiungen von sich, es wird ein Unglück
geben, sagt er. Wer braucht diese Patrouillen überhaupt?, fragt Primo
und antwortet dann selbst: Nicht ins Lager zu gehen, was heißt das? Das
heißt, auf die Kontrolle zu verzichten, ehe er (Primo) fragt: Wer sagt,
auf die Kontrolle verzichten? Man umkreist es, geht aber nicht rein, und
er (Primo) erwidert: Und wenn wir vorher reingegangen sind und jetzt
nicht mehr, das ist doch, als hätten wir es abgeschrieben. Und bis sie
reingehen, grübeln sie vor sich hin, der eine über seine Verstopfung,
der andere über die Notwendigkeit, reinzugehen, und der Dritte über den
Streit mit seiner Frau, ihre bitteren Tränen, die hässlichen Sachen, die
er ihr über ihren seligen Vater gesagt hat, und plötzlich ist die Sonne
weg, eine Zitrusplantage, der Duft der Blüten, wer soll schon aus der
Zitrusplantage auf sie schießen? Aus jedem Schatten lugt ein Terrorist,
jetzt ist es bereits 8:13 morgens, was interessiert ihn ihr Vater,
seligen Andenkens, wenn die das Feuer auf sie eröffnen? Und Khajun denkt
an seine schwitzenden Hände, irgendjemand hat ihm mal gesagt, das käme
von mangelnder sexueller Befriedigung, aber seine Hände haben auch schon
geschwitzt, als er sexuelle Befriedigung hatte, doch zählt Onanieren
oder zählt es nicht? Der Motor hustet, sie fahren runter zum Lager,
halten die Augen gut offen, wie kann man nur so leben, fragt Rowigo, wie
Ratten leben die hier. An den Mauern rote Graffitis, die Sonne ist
wieder da, sie fahren zwischen den ersten beiden Häusern hindurch, du
weißt nicht, von wo es dich erwischen wird, wer ist hier der Starke und
wer der Schwache? (sagt sich Primo).
Freitag, 6.3.81, ein Frühlingsmorgen, 8:14, ein Steinhagel von der
Straßenecke und Benjamin Cohen sagt: »Ich bin verwundet«, während Nathan
prophezeit: »Die Jungleuen brüllen nach Raub, vom Gottherrn ihre Nahrung
zu fordern, – strahlt die Sonne auf, ziehen sie heim, lagern sich in
ihre Gehege, hervor kommt, an seine Arbeit, der Mensch, an seinen Dienst
bis zum Abend«, und Benjamin sagt ganz leise: »Was faselst du da? Ich
darf mich nicht verletzen. Ich hab problematisches Blut, es gerinnt
nicht, mein Körper wird ausbluten wie eine verdorrte Wassermelone, ich
bin verwundet, was prophezeist du die ganze Zeit, was …« Sie sahen ihn
an, sahen, dass er ohnmächtig geworden war, gaben ihm eine Ohrfeige und
er kam zu sich. Die Kinder sahen sie noch vor dem Steinhagel, auch
während der Salve und auch danach noch. Der Motor hustete, sie stoppten,
ein Fuß auf der Kupplung, Stille ringsum, die Kinder waren nicht
geflohen, dachten vielleicht, sie sähen sie nicht. Primo sagte: »Es
waren zwei, drei Kinder auf der Müllhalde, die haben das Zeichen
gegeben.« Und Rowigo darauf: »Was für ein Zeichen denn, Schwachkopf? So
eine ratternde Klapperkiste, muss man da noch ein Zeichen geben? Was
sind wir denn? Taucher?« Fünf Kinder hockten gebückt in der Gasse zur
linken, eines stand mit den Händen an den Hüften, größer als die
anderen, mager, flachsfarbenes Haar und erdbraune Haut, eine Narbe auf
dem Gesicht, vielleicht auch nur eine Schokoladenwaffel, und in der
Gasse gegenüber vier weitere Kinder, auch sie mit einem Haufen Steine,
eines von ihnen brüllte der anderen Seite etwas auf Arabisch zu, und
Benjamin sagte: »Gleich werden meine Venen leer sein wie rostige
Leitungen.« Sie sahen ihn an, nicht, dass er noch mal bewusstlos wird.
(Einmal hab ich einen Epileptiker bei einem Anfall gesehen. Beim
Reservedienst oder zu Hause? Ich erinnere mich nicht.) Sie wussten
nicht, was sie tun sollten, auch andere Patrouillen waren angegriffen
worden, brüllten durchs Funkgerät. Sie beschlossen, das Funkgerät
auszuschalten und weiterzufahren, und dann, als sie stotternd
weiterfuhren, ging der zweite Hagel nieder, jetzt tat es auch weh, sogar
ein Stein auf den Helm tat weh, aber nur Benjamin Cohen sagte: »Bei der
Möse ihrer Mutter, ich hab noch mal was abgekriegt«, brüllte dann nach
draußen, »Genug«, und wie ein Echo kam es zurück, aber in Wahrheit waren
es die Steine werfenden Kinder, die spotteten: »Genug, genug, genug.«
Am Freitag, den 6.3.81, in etwa gegen Viertel nach acht, wurde Benjamin
Cohen auf einer Patrouille im Flüchtlingslager Deir el-Balah verwundet.
Den Jeep steuerte zu diesem Zeitpunkt Nechamija Khajun, neben ihm saß
der Zugführer Nathan [ein Familienname ist nicht angegeben]. Wir saßen
mit aufgesetzten Helmen und entsicherten Galil-Sturmgewehren,
Gasgranaten und Funkgerät. Hinter Nathan, auf der rechten Seite, saß
Shmuel Primo und hinter Khajun, dem Fahrer, saß Michael Cardoso. Links
von Primo, auf der rechten Seite des Jeeps, saß Benjamin Cohen, der
verwundet war, und ihm gegenüber Avraham Rowigo, der den Auspuff abbekam
und dem übel war. Er hustete. Vor dem Reservedienst hatte er versucht,
freigestellt zu werden wegen des Asthmas, das er bekommen habe, wie er
sagte, aber sie glaubten ihm nicht, und auf jeder Patrouille litt er
unter dem Auspuff, saß aber trotzdem immer neben dem Auspuff, um zu
beweisen, dass, wenn die Ärzte ihn umbringen wollen, sie ihn umbringen
sollen. Benjamin Cohen wurde mit dem ersten Stein verwundet. Khajun
setzte weder zurück noch floh er aus dem Lager, sondern gab Gas, mit
halb getretener Kupplung, und der Zugführer brüllte, »Fahr, fahr«, als
Cohen sagte: »Ich glaube, ich blute.« Khajun drehte sich um, um zu
sehen, ob er tatsächlich blutete, denn wenn jemand blutet, darf
geschossen werden, aber da ich sah, das Benjamin Cohen überhaupt nicht
blutete, wusste Khajun nicht, was er machen sollte, vor allem, weil wir
noch mehr Steine abbekamen, sehr viele Steine, wir sind alle verletzt
worden, ohne Ausnahme [dies wurde zu einem anderen Zeitpunkt
hinzugefügt], und als wir sahen, dass Gefahr für unser Leben bestand,
sagte irgendeiner zu Khajun, ich erinnere mich nicht mehr, wer,
rückwärts fahren, und dann fing das Geschrei an, eine Frau schrie von
weitem und rannte auf uns zu, und dann Massenauflauf und viele Steine,
Menschen kamen aus den Häusern, riefen, jemand sei verletzt worden, aber
wir hatten nicht geschossen, und erst, als scharenweise Leute auf uns
zukamen, beschlossen wir, den Jeep aufzugeben und den Kontakt
abzubrechen, haben die Gewehre, die Munition und das Funkgerät
mitgenommen. [So weit der handschriftliche Bericht eines der Soldaten,
den Rowigo unterschrieben hatte, aber es war nicht Rowigo, der den
Bericht verfasst hatte, wie der Armeekorrespondent einer der Zeitungen
aufdeckte.]
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hagalil.com
26-10-03 |