
Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan
Sznaider (Hg.):
Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte
edition suhrkamp 2004
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Leseprobe: Von Zeesen bis Beirut:
Nationalsozialismus und
Antisemitismus in der arabischen Welt |
Eine globale Debatte:
Neuer Antisemitismus?
Von Andrea Livnat
Es musste erst bis zum Eklat der
Auschwitz-Gedenkstunde im sächsischen Landtag kommen, bis die breite
Öffentlichkeit und allen voran ihre Politiker, das "wahre Gesicht" der
NPD erkannt haben. Nun ist der Schreck groß, eine antisemitische,
rechtsradikale Partei sitzt mit nicht unerheblichem Stimmenanteil in
einem deutschen Parlament. Verfolgt man die Diskussionen der vergangenen
Wochen, könnte man meinen, das Problem ist aus dem Nichts ganz plötzlich
entstanden. Dabei gibt es seit längerem eine Entwicklung hin zu einem
"neuen" Antisemitismus und auch hin zu einer neuen Aggressivität rechter
Netzwerke, in der der sächsische Wahlerfolg der NPD nur ein Kapitel von
vielen ist.
Die ganze Welt redet davon und schon hat es auch die
deutsche Politik gemerkt. Zur Wissensvertiefung rate ich zur Lektüre
eines neuen Bands der edition suhrkamp, herausgegeben von Doron
Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, der alle Aspekte der
Diskussion um einen "neuen" Antisemitismus beleuchtet.
Antisemitismus wird in Deutschland weiterhin im Kontext
des Paradigmas der "Vergangenheitsbewältigung" diskutiert, konstatiert
das Herausgebertrio in der Einleitung. Dabei werde nicht ausreichend
wahrgenommen, dass sich ein Wandel der Kontexte und Bezugspunkte
vollzogen habe. Bei den Skandalen der vergangenen Jahre, wie
beispielsweise um Möllemann, Karsli oder Blüm, stehen nicht mehr die
Vergangenheit des Nationalsozialismus im Zentrum, sondern der
Nahostkonflikt und die Legitimität Israels.
Die Beiträge des Bandes kreisen um drei Hauptfelder der
Debatte über einen "neuen" Antisemitismus, die alle Bezug zum
Nahostkonflikt haben. Israel rückt ins Zentrum der
Antisemitismus-Diskussion und wird zum moralischen Gradmesser für Juden
in aller Welt. Die Frage nach der Grenze zwischen legitimer Kritik und
antisemitischer Argumentation ist daher auch das erste der drei
Hauptfelder, die im Band behandelt werden. Ein anderer Schwerpunkt
widmet sich der Frage nach Antisemitismus und Antizionismus in der
Linken. Der dritte Schwerpunkt befasst sich mit dem Antisemitismus in
der islamischen Welt.
Kontroverse Positionen kommen nicht zuletzt durch die
Internationalität der Autoren zustande, so dass dem deutschen Leser ein
heilsamer Blick über den eigenen Tellerrand geboten wird. Für manch
einen wird beispielsweise der Beitrag der Gender Forscherin Judith
Butler ein harter Brocken sein. Butler, Professorin für Rhetorik und
Literaturwissenschaften in Berkeley, setzt sich mit einer Rede von
Lawrence Summer, Präsident der Harvard Universität, auseinander, in der
er vor wachsendem Antisemitismus in intellektuellen Kreisen warnt.
Hintergrund ist eine Desinvestitions-Petition, die von MIT- und
Harvard-Professoren in Umlauf gebracht worden war. Butler, selbst Jüdin,
fragt: "Und was machen wir mit den Juden, die - mich selbst
eingeschlossen - für den Staat Israel gefühlsmäßig engagiert sind,
seiner Form kritisch gegenüberstehen und eine radikale Umstrukturierung
seiner wirtschaftlichen und rechtlichen Basis fordern, gerade weil sie
innerlich stark beteiligt sind?" Ihre Forderung nach einem öffentlichen
Raum, in dem Juden Kritik an Israel artikulieren können und in dem es
keine verkürzte Definition von "Jude" ist gleich "Israel" gibt, ist gut
und richtig. In Deutschland ist man davon allerdings noch meilenweit
entfernt.
Ulrich Becks Beitrag über die "Entgrenzung der Intifada"
erklärt den "neuen" Antisemitismus als Ausdrucksform der Globalisierung:
"Das Außen ist innen; der "äußere" israelisch-palästinensische Konflikt
bricht im "Inneren" der EU-Länder auf und bedroht den nationalen
Kompromiß des Ausgleichs von Juden und Nicht-Juden." Fernsehbilder
bringen die Auseinandersetzungen zu jedem Bildschirm der Welt, das
Leiden der Opfer wird erfahrbar, Emotionen werden globalisiert. Beck
weist jedoch darauf hin, dass das Mitleiden selektiv konstruiert ist:
"Ohne Pressefreiheit keine Fernsehbilder. Ohne Fernsehbilder kein
globales Mitleiden mit den Opfern, radikaler noch, im Weltbewußtsein
keine Opfer, also keine Anklage der Täter. (...) Vielleicht müßten die
europäischen Medien ihre Leser und Zuschauer einmal daran erinnern, daß
wir so viele schreckliche Bilder vom israelisch-palästinensischen
Konflikt zu sehen bekommen, weil es in Israel Meinungs- und
Pressefreiheit gibt."
Thomas Haury berichtet über den "neuen
Antisemitismusstreit der deutschen Linken" und legt dabei die
unterschiedlichen Positionen der einzelnen Gruppierungen zwischen
"Antiimperialisten" und "Antideutschen" dar. Ein Gespräch mit Michael
Walzer über linke Israel-Kritik ergänzt einige wichtige Aspekte, wie
beispielsweise die Tatsache, dass Israel mit anderen Standards als
europäische Demokratien gemessen wird. Dabei gelte es zu bedenken, dass
Israel "ein demokratischer, die Menschenrechte respektierender Staat
ist, daß aber die benachbarten arabischen Staaten, einschließlich des
entstehenden Palästinas, dies nicht sind. Und das hat Konsequenzen für
die Art von Kompromissen, die man von Israel erwarten kann."
Der Band enthält zahlreiche weitere empfehlenswerte
Beiträge, darunter zu Antisemitismus in der arabischen Welt, die
Beziehungen zwischen Amerika und Israel und das Verhältnis zwischen
Antisemitismus und Antiamerikanismus, und sei jedem wärmstens empfohlen,
der sich darüber informieren will, wie es um das älteste und
hartnäckigste Ressentiment der Welt derzeit bestellt ist.
hagalil.com
14-02-05 |