Von Südtirol
über das Baskenland bis Korsika:
Minderheitenkonflikte in Europa
Rezension von Karl Pfeifer
Wer hätte Mitte der achtziger Jahre ahnen können, dass nach den
Schrecken des Zweiten Weltkriegs es noch mitten in Europa zu einem Krieg
kommen könnte, wie das im ehemaligen Jugoslawien – in einem Land dessen
Leitsatz über Jahrzehnte "Brüderlichkeit und Einheit" war – geschehen ist?
Kein Zweifel, dass dabei die Frage der jeweiligen ethnischen Minderheit eine
bedeutende Rolle gespielt hat.
Bis heute glauben viele, dass der Hauptgrund für die Machtübergabe an die
Nationalsozialisten und die darauf folgende Katastrophe der Friedensvertrag
von Versailles gewesen wäre. Tatsächlich blieben viele Deutsche außerhalb
der Grenzen der Weimarer Republik und dies war ein mächtiger Antrieb für
völkische Ideologen.
In Ungarn demonstrieren bis heute Rechtsextremisten gegen Trianon, d.h.
gegen den 1920 von den Vertretern des von Horthy angeführten Ungarns
unterzeichneten Friedensvertrag. Wie im von Samuel Salzborn herausgegebenen
Buch nachgewiesen, wird die völkische "Volksgruppen" Theorie in Deutschland
und Österreich immer noch von vielen vertreten.
Samuel Salzborn erklärt in seiner Einleitung die historische Entwicklung,
die aktuellen Kontroversen und Lösungsstrategien.
Salzborn resümiert: "Wird die europäische Integration aber auch als
gesellschaftlicher Integrationsversuch mit dem Ziel der Minimierung von
Diskriminierungen aus völkischen, antisemitischen und rassistischen Gründen
verstanden, dann liegt die Perspektive des Minderheitenschutzes vor allem in
einer kritischen Reflexion der vielfach anzutreffenden Problematik der
Ethnisierung von gesellschaftlichen Konflikten. Denn, da ist Rolf Dahrendorf
voll zuzustimmen, das "Syndrom der ethnischen Homogenität" stellt nach wie
vor die "größte Bedrohung der offenen Gesellschaft" dar – auch und gerade in
europäischer Dimension."
Dieses "Syndrom" ist eine Wunschvorstellung rechtsextremistischer
Politiker, hat jedoch wenig mit der Realität der meisten europäischer
Staaten zu tun.
Reinholf Gärtner beleuchtet die Grundfrage "Ethnos oder Demos? Individuum
oder Kollektiv? Zur Frage des Subjekts in der Minderheitenpolitik.
Franz Valandro befasst sich in seinem ersten Beitrag mit dem Konflikt in
Baskenland. Tatsächlich ist erstaunlich, dass gerade im Baskenland, "mit
seinem spezifischen politischen Institutionen, eigenen Steuergesetzen, einem
speziellen Schulsystem und eigener Polizei" also in einem Teil Spaniens, das
weitreichende Autonomie erhalten hat, sich eine Bande von Terroristen so
lange halten kann.
In Valandros zweitem Beitrag werden Gegenwart und Perspektiven des
Nordirlandkonfliktes thematisiert.
Dirk Gerdes berichtet über das Beispiel Korsika, wo eine Minderheit
gemacht wird und zeigt auch eine demokratische Konfliktregelungsmöglichkeit
auf.
Günther Pallaver berichtet über die Südtiroler Autonomie zwischen
"Gemeinschaft" und "Gesellschaft". Die Tatsache, dass Südtirol heute eine
der blühendsten und prosperierendsten Landschaften Italiens ist, lässt sich
nicht leugnen. Pallaver stellt die berechtigte Frage, ob denn das für die
Befriedung des Konflikts entwickelte politische System es ermöglicht, nicht
nur einen negativen, sondern einen positiven Frieden herbeizuführen. "Unter
einem negativen Frieden wird die Abwesenheit von personaler Gewalt
verstanden, unter einem positiven Frieden die Abwesenheit von struktureller
Gewalt."
Pallaver erklärt, wie die "ethnische Gemeinschaft", also die
Zugehörigkeit zum Ethnos, zur Gemeinschaft das Leben der deutschsprachigen
Südtiroler bestimmt, die eine konstruierte Einheitlichkeit der Abstammung,
der Tradition, der Seelenverfassung als Basis der Zusammengehörigkeit
versteht und zeigt die Gefahren auf, die vom Mangel einer gemeinsamen
politischen Kommunikation bestimmt sind.
Gudrun Hentges befasst sich mit der Minderheiten- und Volksgruppenpolitik
in Österreich. Ein Aufsatz, der jedem Kärntner in die Hand gedrückt gehört,
der dazu gebracht werden könnte, seine Vorurteile zu überprüfen. Dieser
Aufsatz gewinnt Aktualität durch die Aktionen des Kärntner Landeshauptmanns,
dem Verfassungsbruch vorgeworfen wird, weil er die Entscheidungen des
Verfassungsgerichts bezüglich der zweisprachigen Ortstafeln nicht
respektiert. Mehr als 50 Jahre nach dem Staatsvertrag, wird die Republik
Österreich – von einer Gruppe deutschnationaler Chauvinisten – noch immer
gehindert, dessen Bestimmungen in Kärnten Respekt zu verschaffen.
Samuel Salzborn schildert die Minderheitenpolitik in Deutschland zwischen
Homogenitätsdruck, (Selbst-)Ethnisierung und Segregation. "Dieser Prozess
der Homogenisierung und Vergemeinschaftung mit dem Ziel der
gesellschaftlichen Segregation ist in Deutschland nicht nur bei autochtonen,
sondern auch bei allochthonen Minderheiten festzustellen, wie in den letzten
Jahren in verstärktem Maße unter anderem bei islamisch geprägten
Minderheitengruppen, die dem homogenisierenden und Differenz negierenden
Konzept einer islamischen Umma anhängen, das in gewisser Hinsicht das
Konzept völkischer Homogenität spiegelbildlich religiös reformuliert und mit
diesem nicht nur seine antifeministische, sondern auch seine antisemitische
Grundierung und Affektstruktur teilt.
Eva Hahn und Hans Henning Hahn zeigen wie aus der deutschsprachigen
Minderheit in der ersten Tschechoslowakischen Republik die sudetendeutsche
Volksgruppe entstand, beide dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Die
beiden Autoren zeigen, welche politische Bedeutung die Vertretung dieser
"Volksgruppe" in Deutschland und insbesondere in Bayern hat.
Andrzej Sakson thematisiert die polnische Nationalitätenpolitik vom
multinationalen zum ethnisch (fast) homogenen Polen.
Magdalena Marsovszky setzt sich mit der völkischen Bewegung und
Antisemitismus in Ungarn auseinander. Sie zeigt die Kontinuität des
völkischen Denkens, von der Zeit der Monarchie, über die Horthyperiode und
bis zum Realsozialismus. Sie bezeichnet mit Recht die Wende nach dem Ende
des Realsozialismus als "ethnonationalistisch". Die Ausgrenzung richtet sich
gegen Juden und "Juden" aber auch gegen Roma und Homosexuelle. Traurig, aber
wahr und belegbar, die großen christlichen Kirchen unterstützen diese
völkischen Strömungen. "So kommentierte beispielsweise im Februar 2005 der
Präsident der Christlich Demokratischen Volkspartei (KDNP) und Vizepräsident
des Komitees für Menschenrechte im Parlament, Zsolt Semlyén, [dessen Nähe
zur katholischen Amtskirche offensichtlich ist K.P.] die Wertorientierung
der Liberalen folgendermaßen: "Wer möchte, dass sein pubertierender Sohn
seine ersten sexuellen Erfahrungen von einem bärtigen Mann erhält" der möge
ruhig die Liberalen wählen, was dem antisemitischen Stereotyp der
"pathologischen Sexualität der jüdischen Männer" entspricht."
Laut Marsovszky wird der traditionelle Ethnonationalismus zur
Ethnoreligion, in dem der Kampf geradezu gegen den "Antichrist" und gegen
"gigantische, bolschewisierende, satanische Kräfte" geführt wird.
Markus Bickel zeigt auf, dass die internationale Intervention im Kosovo
nicht die Vertreibung von Serben verhindern konnte. Ein im November 1999 von
der UNHCR (Flüchtlingskommissariat der UNO) erstellter Bericht macht das
deutlich: "Es herrscht ein Klima der Gewalt und Gesetzlosigkeit ebenso wie
der weit verbreiteten Diskriminierung, Schikanierung und Einschüchterung der
nichtalbanischen Bevölkerung. Die Kombination von fehlender Sicherheit,
eingeschränkter Bewegungsfreiheit und mangelndem Zugang zu öffentlichen
Einrichtungen (insbesondere im Erziehungswesen, dem Gesundheitswesen und der
Auszahlung von Renten) ist gegenwärtig der bestimmende Faktor vor allem für
Serben, aber auch für andere nichtalbanische Gruppen, das Kosovo zu
verlassen." Die Kfor-Truppen und die Beamten der UN-Übergangsadministration
sind mitverantwortlich für diesen Zustand. Fünf Jahre nach Etablierung der
internationalen Administration sorgten kosovo-albanische Extremisten für
einen Rückfall in längst überwunden geglaubte Zeiten. 2004 kam es zu einem
antiserbischen Pogrom bei dem 19 Menschen ums Leben kamen und 800 Personen
verletzt wurden. Der Aufbau einer multiethnischen Gesellschaft, wie noch
nach Kriegsende 1999 anvisiert ist kläglich gescheitert.
Sabine Riedels Artikel zeigt die "Instrumentarien des
Minderheitenschutzes in Europa". Die Einsetzung eines Kommissars für
Menschenrechte durch den Europarat und die Ahndung von Verstößen durch den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte scheint ein wirksames Instrument
zu sein, wirksamer als die Einführung neuer Kollektivrechte.
Das vorliegende Buch regt zum Denken an und zeigt für die EU die
Möglichkeit demokratischer Lösungsansätze. Es zeigt auch, wie verschieden
die Minderheitenprobleme sind und dass es kein einfaches Allheilmittel gibt,
mit der Minderheitenkonflikte vermieden werden könnten.
hagalil.com
18-02-07 |