Samuel Salzborn (Hrsg.):
Minderheiten-konflikte in Europa.
Fallbeispiele und Lösungs-ansätze
StudienVerlag 2006
Euro 29,90
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Rezension zu 'Minderheiten-konflikte in
Europa'
|
Neue völkische Bewegung und Antisemitismus im
heutigen Ungarn
Von Magdalena Marsovszky
Auf
die Frage, was Antisemitismus sei, haben viele eine einfache Antwort parat:
Judenfeindlichkeit. Liest man jedoch Definitionen wie Antisemitismus sei ein
"kultureller Code",
eine "Weltanschauung"
oder sogar "neuzeitliche irdische Metaphysik",
so merkt man, dass es nicht einfach ist, dieses Phänomen zu bestimmen.
Obwohl der Begriff Antisemitismus als eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts
von den Vertretern der Doktrin erfundene bewusste Selbstbezeichnung nicht
unproblematisch ist, hat sich in den letzten Jahren in der Forschung ein
Konsens um seinen Gebrauch herausgebildet. Demnach können die Ansätze, in
denen er geistig-strukturell erkennbar ist, nur dann aufgedeckt werden, wenn
man ihn als erweiterten anthropologischen Begriff interpretiert. Was heißt
das genau?
Die anthropologische Verschiebung des Antijudaismus zum Antisemitismus im
Zuge der tiefgreifenden Säkularisierung der Aufklärung sowie die Bedeutung
Herders und die Vorstellung von Volk und Volkscharakter führten dazu, dass
Juden nicht mehr wegen ihrer Religion, mit Hilfe der Theologie, sondern
wegen ihres vermeintlich anderen Volkscharakters, mit Hilfe der
Anthropologie, abgelehnt wurden.
Gleichzeitig verselbständigten sich die jahrhundertealten, auf eine
bestimmte, identifizierbare Gruppe zielenden negativen Stereotype und
konnten nunmehr auch auf Menschen oder Gruppen angewandt werden, die mit der
jüdischen Religion nichts gemein hatten. Auch in Ungarn richtet sich der
Antisemitismus nicht nur gegen Juden oder vermeintliche Juden, sondern gegen
all diejenigen, die im Gegensatz zum Blut- und Bodenmythos den
Kosmopolitismus, die Urbanität und die Intellektualität verkörpern.
(…)
Typisch für die gegenwärtige Vergangenheitsverdrängung in Ungarn ist die
Wortwahl, mit der bis zum heutigen Tag die völkischen Intellektuellen der
Zeit zwischen dem I. und dem II. Weltkrieg bezeichnet werden. Schon die
meistbenutzten ungarischen Ausdrücke 'népi' oder 'populista' sind
irreführend und bagatellisieren die Gefährlichkeit der Bewegung. So hat man
auch meistens Schwierigkeiten, sie ins Deutsche zu übersetzen und benutzt
die Worte "volkstümlerisch", "volkstümlich" oder "populistisch".
Wie in der Wortwahl, so gibt es auch in der Forschung in Ungarn keinen
Konsens darüber, ob die so bezeichnete Bewegung die ungarische Variante der
deutschen völkischen Bewegung ist, in die typologische Nähe der
osteuropäischen Narodnik-Bewegungen gehört, eine Art Sonderstellung, d.h.
einen 'Dritten Weg' verkörpert, in der die Bauernromantik die wichtigste
Rolle spielt, oder aber in den Typus der amerikanischen populistischen
Bewegungen zu platzieren ist.
In der jüngsten Forschung in Deutschland ist es allerdings keine Frage mehr,
dass die ethnonationalistischen Tendenzen in Ungarn um die Jahrhundertwende
'völkische' Tendenzen waren.
Für HROCH
ist es überdies keine Frage, dass es sich hierbei auch um eine Bewegung
handelte. Der Historiker geht sogar so weit zu behaupten, es hätte nicht
einmal einen von Deutschland ausgehenden Kulturtransfer nach Ungarn gegeben,
es sei also nicht um eine einseitige Rezeption gegangen. Er vertritt
vielmehr die These, dass es bei beiden um - durch eine gegebene historische
Situation stimulierte - parallele 'patriotische Bewegungen' geht und weist
auch nach, dass der Ausdruck 'népi' etymologisch nicht mit dem Wort 'narod',
sondern mit dem Wort 'gens' verwandt ist.
Obwohl es Unterschiede in den Strukturen beider Bewegungen gibt, sprechen
auch die Gemeinsamkeiten dafür, dass die ungarische völkische Bewegung eine
Variante der deutschen ist.
Strukturell
typisch für
beide Bewegungen ist der Ethnonationalismus, der die Identität des Landes
als ethnisch homogenes Deutschtum bzw. Magyarentum, das heißt, die
Zugehörigkeit zur Nation aufgrund des Blutes und der Abstammung, bestimmte,
was mit einer aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammenden Ablehnung des
Westens, des Liberalismus und des Kapitalismus' einherging. Doch die
Bestimmung einer Nation als ethnisch-homogene Abstammungsgesellschaft führt
auf der anderen Seite immer zu Exklusion, also zur Ausgrenzung, was sich in
beiden Bewegungen als Antisemitismus niederschlug.
Die Ablehnung fremder Einflüsse manifestierte sich zusätzlich in Deutschland
in der Ablehnung des lateinischen und des französischen
und in Ungarn in der des deutschen Einflusses.
Typisch für beide Bewegungen war die paternalistische, autoritäre
Kulturauffassung, die sich auch auf die politische Kultur, auf soziale Werte
und auf die Moral bezog. All diese Kategorien verstärkten das ethnische
Identitätsbewusstsein. Die autoritäre Kultur manifestierte sich auch in der
Heroisierung der Macht, wie z.B. auch in der Kultivierung des Militärs und
der militärischen Tugenden.
Der Unterschied zwischen beiden Bewegungen bestand darin, dass die
ungarische – im Gegensatz zur deutschen – nach den 20er Jahren so massive
Proteste im Hinblick auf das Elend der bäuerlichen Schichten zeigte,
dass dies einer sozialen Revolte gleichkam. Diese Tatsache verleitet
Wissenschaftler dazu, die ungarische Bewegung fortwährend als
'volkstümlerisch' einzustufen und damit den Schwerpunkt auf ihre
bauernromantische Seite zu legen. Diese Seite ist sicherlich ein wichtiger
Bestandteil, sie ist aber nur ein Element. Forscht man in dieser Richtung
weiter, erscheint einem jene destruktive Dynamik, durch die im Sommer 1944
mit dem deutschen Vorgehen vergleichbare gründliche, bürokratische
Konsequenz möglich wurde, mit der binnen acht Wochen beinahe eine halbe
Million ungarischer Juden deportiert wurde,
nicht logisch. Bauernromantik bietet nicht genug Motivation zum Morden.
Es scheint viel mehr angebracht, die Komponente der Ethnizität als
kulturellen Faktor, als 'imagined community'
in den Vordergrund zu stellen und, da beide Bewegungen 'Kulturbewegungen'
waren (bzw. die ungarische heute wieder eine ist), sie in
kulturwissenschaftlicher und kulturpolitischer Perspektive, d.h. den
völkischen Nationsgedanken und die völkische Organisationspraxis zu
untersuchen. Dem Faktor Kultur wird seit dem zurecht umstrittenen aber
dennoch bedeutenden Arbeit von HUNTINGTON, 'The Clash of Civilisations',
allgemein mehr Aufmerksamkeit geschenkt, und spätestens seit dem 11.
September 2001 hat man auch eingesehen, dass Kultur sicherheitspolitische
Relevanz besitzt: Sie ist eine der wichtigsten Triebfedern
gesellschaftspolitischer Prozesse. Ethnizität im Zusammenhang mit der
gängigen, im Land üblichen Kulturtheorie, dem Kulturbegriff und diesen
Kulturbegriff in die Praxis zu übertragenen Kulturpolitik zu prüfen heißt,
festzustellen, welche kulturpolitische Strategien und operative Maßnahmen es
sind, die die Ausgrenzungstendenzen der Gesellschaft unmittelbar
mobilisieren, und welche diesen zugrunde liegenden und gültigen
Kulturtheorien und Kulturbegriffe es sind, die die Strategien und
Instrumentarien permanent mit ideologischer Nahrung füttern. Denn, wenn die
Kulturtheorie, die 'ideologische Nahrung' an sich ausgrenzend ist, dann
werden die auf diese aufgebauten kulturpolitischen Strategien und operativen
Maßnahmen die Ausgrenzungstendenzen in der Gesellschaft reproduzieren und
sogar verselbständigen.
Eine der wichtigsten Objektiviationen des völkischen Denkens in Ungarn war
und ist die 'nationale Kultur'. Diese wurde seit den 1890er Jahren immer
statischer und im Kern unveränderbar als Kultur des 'Magyarentums', also im
ethnischen Sinne verstanden. Man suchte nach einem reinen, völkischen Kern
des Magyarentums und betrachtete jeden fremden Einfluss als Verunreinigung.
Biologische und kulturelle Elemente mischten sich in den allgemein
herrschenden ethnischen Diskurs, und die magyarische Nation wurde bald als
Rasse verstanden.
Die völkische Bewegung
hatte verschiedene Zweige. So gab es z.B. bereits am Anfang des 20sten
Jahrhunderts eine 'Volkskunstbewegung', deren Vertreter, vor allem Lehrer
und Künstler, die positivistischen Tendenzen der ungarischen Ethnographie
entschieden ablehnten und den vorherrschenden Historismus durch eine reine
nationale Kunstsprache ersetzen wollten. "Die archaische Sprache der Rasse
(d.h. der Nation) enthält das, was das Denken der Rasse leitet", hieß es.
Diese hygienische Auffassung der magyarischen Rasse führte dazu, dass die
Angst vor einer zunehmenden Bedrohung 'fremdvölkischer Elemente' wuchs. Die
zunehmende Kommunikation, der Verkehr, die Presse "erschweren die Stärkung
der nationalen Eigenheiten /.../ und immer mehr werden wir uns gleich /.../.
Vergessen wir nicht, dass unsere eigenständige nationale Persönlichkeit
dadurch gefährdet ist, dass hier mehrere Völker unterschiedlicher Art in
diesen einen Staat hineingepresst wurden. Und dass eine solche Nähe nicht
gerade der Stärkung des Nationalcharakters zuträglich ist /.../, sondern
dass wir gegenseitigen Einflüssen ausgesetzt sind, unter denen die Reinheit
des Nationalcharakters leidet", schrieb ein bedeutender Lehrer und
Kunstkritiker.
Zwischen den völkischen und den liberalen Denkern des Landes gab es zwar
einen Konsens darüber, dass die Machtstellung der magyarischen Eliten
erhalten bleiben solle, es gab jedoch einen Unterschied in der Auffassung,
wer diese 'wirklichen Magyaren' seien. Diese waren für die völkischen Denker
die armen Bauern, die sie in die bürgerliche Gesellschaft integrieren
wollten. Sie verbanden den Rassismus mit sozialen Forderungen. Entgegen der
'dekadenten Kultur' in den urbanisierten Ballungsräumen wurde der Jugendstil
von einigen Theoretikern als 'magyarische Kunst' sui generis betrachtet,
wobei, wie es hieß, die Künstler "unter dem Volk leben sollten, so dass wir
alles, was unbewusst, instinktiv magyarisch ist, in unsere bewusste Kunst
einbringen können. /.../ Ich bin umgeben vom turanischen Atem ich atme
seinen uralten, heidnischen Geruch in meine Seele ein, so dass er mich
durchdringe und meine Eingebung und Phantasie bereichere".
Im erwähnten Zitat ist eine weitere Richtung der völkischen Bewegung
angedeutet: der Turanismus, der bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts
einen immer größeren Einfluss auf das ungarische kulturelle und politische
Bewusstsein ausübte. Die Turanische Gesellschaft wurde 1910 gegründet und
hatte als Ziel die wissenschaftliche Erforschung "Turans, unserer großen
Vergangenheit und vielleicht noch größeren Zukunft".
Unter 'Turanismus' wurde eine Hinwendung zu den eurasischen Ursprüngen der
Zivilisation verstanden.
Schon zu Beginn des Ersten Weltkrieges kam ihr – mit Deutschland
vergleichbarer - nationaler Größenwahn zum Vorschein, der sich im Falle
eines Sieges der Monarchie einen
deutsch-österreichisch-ungarisch-zentrischen Machtblock vorstellte, der über
den ganzen eurasischen Kontinent dominieren sollte. Auch Ungarn sollte dabei
eine Großmachtrolle zukommen.
In der orthodoxen Abzweigung der Bewegung, der durch entschlossene
Westeuropafeindlichkeit, Antiklerikalismus und Rassenschutz hervortrat, gab
es auch Schamane (ung.: táltos), die täglich ihre Zeremonien am Sonnenberg
verrichteten. Sie wandten sich statt dem Christentum lieber vermeintlich
uralten Riten zu, weil nach ihrer Meinung das Christentum, das in erster
Linie international sei, das Rassen- und Nationalbewusstsein töte.
In einer weiteren turanistischen Abzweigung spielte als Großmachtideologie
die geopolitische Lage Ungarns eine große Rolle, nach der aus
hydrographischen und orographischen Gründen der Karpatenraum zur Schaffung
eines selbständigen Staates prädestiniert sei. In diesem Land gehöre die
Führungsrolle der Donau-Theiß-Ebene, da sie die Größte Raumenergie darstelle.
Wichtigstes Moment, und für die kulturelle Entwicklung des Landes bis zum
heutigen Tag von grundlegender Bedeutung ist der Friedensvertrag von Trianon
(1920) nach dem Zusammenbruch der Monarchie, als Ungarn – nach dem Ersten
Weltkrieg als Teil der Monarchie auf der Verliererseite – zwei Drittel
seiner Gebiete an die Nachbarländer abtreten musste und nahezu ein Drittel
der ungarischen Bevölkerung von einem Tag auf den anderen Staatsbürger der
Nachbarländer wurden. Seit dieser Zeit wurde die wichtigste Frage der
Politik, der Kultur und des alltäglichen Lebens die Wiederherstellung des
'status quo ante Trianon', die Revision der Grenzen von 1914. Auch der
ungarische Faschismus war bis zuletzt von der Ideologie des Revanchismus
geleitet.
(…)
Das völkische Denken der Zwischenkriegszeit schlug sich in der Literatur so
nachhaltig nieder, dass sich ein literarischer Streit entwickelte, der unter
der Bezeichnung 'Streit zwischen den Völkischen und den Urbanen' in die
Literaturgeschichte einging.
Die völkischen Literaten verurteilten die westlich orientierten
'Modernisierer', auch 'Urbane' genannt, die eher zu Abstraktionen geneigt,
am Individuum interessiert und Kosmopoliten waren.
Auch sie waren vom Turanismus beeinflusst; nach ihren Vorstellungen war der
Idealstaat ein turanisch-slawischer Bauernbund, in dem anstatt des
Individualismus und dekadenten Liberalismus der asiatische Kollektivismus
herrscht.
Sie setzten sich für die Verbesserung der sozialen Lage der 'einzig
werttragenden Klasse', also des Bauerntums ein, womit gleichzeitig das
Problem der 'Gegensätze' zwischen der bäuerlichen, 'rein-magyarischen' und
der 'städtisch-dekadenten' Kultur auftauchte. Das typische antisemitische
Stereotyp der 'sündigen Stadt', bzw. die 'sündige urbane Lebensweise', das
auch in der völkischen Bewegung im wilhelminischen Deutschland eine große
Rolle spielte
und das in der ungarischen Literatur bis 1897 zurückzuverfolgen ist,
erschien besonders bildhaft und vehement bei Dezsö Szabó gleich nach dem
Zusammenbruch der Monarchie.
Er schrieb in seinem dreibändigen Werk 'Das weggefegte Dorf': "wie sehr
diese Stadt [Budapest/ M.M.] das Symbol des leidvollen madjarischen Lebens
ist. Wenn man jeden einzelnen seiner Steine auswränge, flösse aus ihnen
madjarisches Blut, madjarischer Schweiß, madjarischer Schmerz, und in dem
aus ihnen erblühten Leben genießen Fremde, herrscht eine fremde Sprache,
eine fremde Kultur. Und der davongejagte Sohn steht ohne Brot da und sucht
sich heimatlos ein Grab".
Die soziale Empathie der völkischen Literaten für die bäuerlichen Schichten
führte so weit, dass wegen der Kulturüberlegenheit eines vermeintlichen und
nur im dörflichen Milieu erhalten gebliebenen "Rassencharakters' sogar die
Konzeption des Rassensozialismus auftauchte.
Das völkische Denken im Realsozialismus
Das
völkische Denken konnte auch nach dem Zweiten Weltkrieg
trotz der
universalistischen Idealen des Realsozialismus nicht zurückgedrängt werden.
Vielmehr kehrte sie nach den wenigen 'nicht-nationalen' Jahren der
Nachkriegsperiode mit sowjetischer Unterstützung wieder.
Nachdem ab 1951 die kommunistische Parteiführung aus manipulativen Gründen
die der 'nationalen Frage' seit Jahrzehnten verbundene und angesehene
Intelligenz in ihr totalitäres System einbezog und diese fortan ihre Macht
legitimierte, wurde erneut die 'nationale Tendenz' bestimmend. Sie wurde
nach Stalins Tod – bis auf die Jahre um 1956 herum – auch von der
sowjetischen Führung unterstützt, und mit der Zeit wurde daraus ein
Sozialismus mit 'nationalem Antlitz'.
Dieser Sozialismus mit dem nationalen Antlitz wurde zum großen Teil von den
vorhin erwähnten völkischen Literaten unterstützt.
So spielte auch in dieser Zeit die Konzeption der 'Nationalkultur' ein große
Rolle. Ab der 60er, 70er Jahre bekam das völkische Denken sogar als
kulturnationalistischer, völkischer Widerstand neue Triebe. Da Kunst und
Kultur in Ungarn damals einen elitären Charakter hatten (und zum großen Teil
auch heute noch haben) und die Rolle eines "nationalen Orakels" erfüllten,
nahmen an diesem Widerstand in erster Linie und zum größten Teil zur
'nationalen Seite' gehörenden Schriftsteller, Publizisten und Philosophen
teil. Besonders in den 80er Jahren blühten auch die sog. Tanzhausbewegung,
durch die der authentische ungarische Volkstanz auch aus den Gebieten
außerhalb der heutigen Landesgrenze erlernt werden konnte und der
Schwarzhandel mit Gegenständen der authentischen Volkskunst aus abgetrennten
Gebieten. Gegen den Universalismusanspruch des Realsozialismus verstand sich
der Widerstand auch als ein ethnischer Widerstand des Magyarentums als
'ethnos', d.h. als imaginäre Gemeinschaft der Abstammung und Affiliation.
Der ethnische Kulturnationalismus entwickelte durch den von ihr propagierten
nationalen Mythos mit der herrschenden (paternalistischen,
autoritätsgläubigen) Ideologie verwandte Reflexe, zudem bedeutete das
Erstarken des nationalen Mythos vom 'kleinen aber reinen Magyarentum in der
Rolle des Opfers fremder Großmächte' für die Gesellschaft eine
Kohäsionskraft. So wurde der Widerstand vom Regime als Opposition toleriert,
wodurch sich ein gesamtgesellschaftlicher Konsens entwickelte. "Die
traditionelle kommunistische Politik /.../ hatte über Jahrzehnte eine viel
stärkere Affinität zu den Völkischen, als zu den Liberalen, Sozialdemokraten
oder zu den radikalen Vertretern der Selbstverwaltung, den
Reform-Kommunisten".
Auch Züge einer Solidargemeinschaft konnten damals beobachtet werden: Obwohl
die 'Urbanen' in ihrer Sozialismuskritik den Weg des westlichen Liberalismus
einschlagen wollten, sprach man mit ihnen. Einen Dialog konnte man das
jedoch nicht nennen, denn die Zügel der offiziellen realsozialistischen
Kulturpolitik waren im Hinblick auf die Aktivitäten der 'Urbanen' besonders
straff angezogen, zudem war die antisemitische Konnotation des 'Urbanen' als
'Jude' im Lande, wenn auch unausgesprochen, dennoch jedem geläufig.
Trügerisch war dieser Zusammenhalt auch deshalb, weil er nicht etwa durch
demokratische Bestrebungen, sondern durch das gemeinsame Feindbild der
Besatzermacht Sowjetunion zusammengehalten wurde. Ehemalige Dissidenten
('Urbane') beklagen heute, dass auch die deutschen Politiker und
Journalisten, die infolge von Brandts Ostpolitik vermehrt Ungarn besuchten,
mit ihnen nicht nur keinen Kontakt pflegten, sondern sie sogar als
"Fantasten" abtaten.
Ein Großteil der gesellschaftlichen Elite (Kulturpolitiker und die völkische
Intelligenz) erhoffte also die gesellschaftliche Integration von einem
ethnonationalistischen, also völkischen Kulturnationalismus. Da sie dazu
nicht nur von ihren eigenen Unterdrückern eine immer offenere Unterstützung
bekamen, sondern auch vom Westen, bedeutete für viele die
kulturnationalistische Form des nationalen Widerstandes die progressive, von
unten kommende 'Revolution' und die Möglichkeit der gesellschaftlichen
Integration.
Das völkische Denken nach der Wende
Durch das Zusammenspiel dieser Faktoren bedeutete das Ende des
Realsozialismus eine ethnonationalistische Wende.
Die Auflösung traditioneller sozialer Bindungen führte zum Entstehen
individueller, vereinzelter Existenzen, die ihre Identitäten heutzutage
weniger in traditionellen religiösen als vielmehr in diesseitigen,
ethno-religiösen Bindungen finden, in denen der kulturelle und sprachliche
Zusammenhalt als Insignien der Differenz in den Vordergrund gestellt werden.
Auch die heutige ethnonationalistische Ideologie hat eine totalistische
Logik, weil die Grundlage ihrer Existenz dadurch bestimmt wird, dass sie als
Basis für die individuelle Identität die Gruppenidentität betrachtet. Da sie
zu einer Homogenisierung der eigenen Gruppe drängt, führt dies auf der
anderen Seite automatisch zur Ausgrenzung von irgendwelchen 'Fremden'. Auch
der heutige Ethnonationalismus ist also vorurteilsgesättigt, gleichzeitig
aber alltagstauglich, weil er in der erlebten Ungleichzeitigkeit
Orientierungsschablonen bietet, in denen religiöse und Abstammungskategorien
plötzlich neu zum Leben erwachen.
Die Grundlage dieser Ideologie ist die Nation als kulturelle Kategorie,
'imagined community'' ein Gefühl kultureller Zugehörigkeit, das sich in
imaginierten und erfundenen Traditionen und runderneuerten Religionen
offenbart. Als moderne Ideologie ist der Ethnonationalismus als
Alltagsreligion zu bestimmen, in der sich Säkularisation, Nationenbildung
und der Realsozialismus miteinander verbinden. Er beruft sich auf kein
konkretes historisches Bild, sondern raubt seine Legitimation "willkürlich
und opportunistisch /.../ aus der Geschichte zusammen".
Da die ethnonationalistische Ideologie immer zur Homogenisierung der eigenen
Gruppe und zur Ausgrenzung einer vermeintlichen 'fremden' Gruppe führt, sind
der Ethnonationalismus und der moderne Antisemitismus vielfach die zwei
Seiten der gleichen Medaille.
(…)
Seit der Wende
unterliegt Ungarns Kulturpolitik ein - je nach Einstellung der Regierungen
unterschiedlich intensiv ausgeprägter - nationalistischer Kulturbegriff,
dessen Basis das romantische Ideal der Nation und ein ethnischer
Volksbegriff bilden. Der sowieso vorhandenen Bereitschaft zum völkischen
Denken wurde so nach 1989/ 90 zu einer neuen Blüte verholfen. Kultur wird
auch heute statisch und im Kern unveränderbar als Kultur des 'Magyarentums'
verstanden. Das Volk wird ebenfalls als ethnisch-homogene
Abstammungsgemeinschaft im Sinne von 'ethnos' (im Gegensatz zu 'demos')
verstanden.
Wenn 'nationale Kultur' eine 'einheitliche, homogene nationale Gemeinschaft'
voraussetzt, dann ist dies eine Fiktion, eine imaginierte, also kulturelle
Konstruktion, eine 'imagined community', da in Ermangelung einer religiösen
bzw. ethnischen Einheit nur historische Mythen und ein von allen Beteiligten
der Gemeinschaft akzeptiertes Geschichtsbild und eine von allen akzeptierte
Symbolwelt als Kohäsionskraft der Gemeinschaft dienen können. Die nationale
Gemeinschaft ist auch deshalb eine imaginierte Gemeinschaft, "weil die
Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten Anderen niemals kennen,
ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines
jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert".
Das auf diese Volkstheorie aufgebaute Kulturkonzept und die aus ihm
abgeleitete Kulturpolitik trugen zum Entstehen von kulturellem
Ethnozentrismus
bei.
Zudem basiert der
Kulturnationalismus Ungarns auf der Volks- und Kulturbodenthese, wonach die
1920 infolge des Vertrags von Trianon abgetrennten Gebiete kulturell noch
immer zu Ungarn gehörten und die dort lebenden ungarischen Minderheiten
(symbolisiert durch die 'Heilige Krone' St. Stephans aus dem 10.
Jahrhundert) als 'Magyarentum' zusammengefasst würden. Weil es nach dieser
Auffassung auch die in den Nachbarländern lebenden ungarischen Minderheiten
kulturell zu integrieren gilt, wurden außerhalb der Landesgrenzen 'ingroups'
bestimmt, was bereits in den ersten Jahren nach der Wende zum Erstarken des
'Großreich-Mythos' führte. Das heißt, dass der kulturelle Ethnozentrismus
die revanchistischen Gedanken förderte. Die ethnisch-homogene
Kulturauffassung führte innerhalb der Landesgrenzen zur gleichen Zeit jedoch
dazu, dass 'outgroups' bestimmt, d.h. 'Fremde' konstruiert wurden,
was sich als Antisemitismus niederschlug.
Er nahm im Lande in den letzten 15 Jahren in dem Maße zu, in dem die
Tendenzen der 'Globalisierung' verstärkt wahrnehmbar wurden. Die
'Globalisierung' wird als der Untergang des Magyarentums aufgefasst, wodurch
es in der völkischen Denkweise in der Rolle des Opfers gesehen wird. Mal in
der der USA, mal in der der Europäischen Union, mal des Westens mal des
Neoliberalismus usw. Es entsteht ein paradoxer Eindruck: Irgendwie erleiden
viele scheinbar ein Minderheitenschicksal, selbst Mehrheiten fühlen sich als
Heimatvertrieben und als Fremde im eigenen Land, da sie das Gefühl haben, es
mit übermächtigen Gegnern zu tun zu haben. Es entstehen
Verschwörungstheorien.
Der moderne Antisemitismus,
richtet sich also zunächst nicht gegen reale Juden, sondern gegen ein
kulturelles Konstrukt, denn die Protagonisten der 'nationalen Erneuerung'
schreiben Menschen, die als 'Juden' bestimmt werden, eine solche Menge an
gesellschaftlich negativen Eigenschaften zu, die keine materielle
Entsprechung haben können und je haben konnten. Hinter abstrakte Begriffe,
wie 'liberal', 'kosmopolitisch', 'universalistisch' usw. werden 'Juden' oder
'vermeintliche Juden' gesetzt, und all diejenigen, die im Gegensatz zum
Mythos von dem 'Vaterland' und der 'durch das eigene Blut getränkten
Heimaterde' (nach dem Blut- und Bodenmythos) den Kosmopolitismus, die
Urbanität und die Intellektualität verkörpern, werden als 'jüdisch'
bestimmt. Die Denkstrukturen dieser Form der Ausgrenzung richten sich auch
gegen jene, die außerhalb geltender Normen vermutet werden, so z.B. auch
gegen Roma und Homosexuelle.
Strukturelle Ähnlichkeiten
Zwischen der
heutigen völkischen Denkweise und der um die Jahrhundertwende sowie zwischen
den beiden Weltkriegen gibt es auffällige strukturelle Ähnlichkeiten. So ist
die
ethnonationalistische Denkweise sowohl in der politischen Rechten als auch
in der Linken zu finden, wobei sie bei letzteren in einer viel schwächeren
Form erscheint. Es
herrscht heute
über alle politischen Parteien hinweg Einigkeit darüber, dass es ein
ethnisch homogenes Magyarentum und eine magyarische Kultur gibt, der
kulturelle und sprachliche Zusammenhalt werden als Insignien der Differenz
in den Vordergrund gestellt. Die
ethnisch-kulturellen Kategorien wurden sogar bereits in der Verwaltung
institutionalisiert.
So hat die nationalkonservative Orbán-Regierung 2001 mit dem sog. Status
Gesetz
den
'Nationalbürger-Ausweis'
und die sozialliberale Koalition 2005 das sog. 'Nationalvisum'
eingeführt,
das
ethnischen Auslandsungarn Privilegien gewährt, die strikt an die
Zugehörigkeit zum 'Magyarentum' gebunden sind. Uneinigkeit herrscht in
Ungarn jedoch auch heute darüber, wer die 'wirklichen Magyaren' sind.
Diese sind für die
völkischen Denker die Nationalkonservativen, die sie die 'bürgerliche' oder
'nationale' Seite nennen. Sie suchen nach einem reinen, völkischen Kern des
Magyarentums und betrachten jeden fremden Einfluss als Verunreinigung. Im
Unterschied zu früher ist ihre soziale Empathie weniger ausgeprägt, dennoch
konzentrieren sie sich eher auf die stabile Großfamilie mit bescheidenen
Ansprüchen und christlicher Werteorientierung als Gegenpol zur
'Profitorientierung' und 'luxoriösen' Lebensweise
der Sozialliberalen, was übrigens das Bild des 'geldgierigen,
kapitalistischen Juden' aufschimmern lässt.
(…)
Die 'patriotischen' Kulturkonzepte führen zur Rückbesinnung auf die eigenen
'authentischen' Werte, was jedoch die Rückbesinnung auf erfundene
Traditionen und auf eine Ideologie mit antimoderner Stoßrichtung bedeutet.
So spielt der Turanismus auch heute eine Rolle. Als im Herbst 2003 für die
Verfilmung des 'Roman eines Schicksallosen' vom Nobelpreisträger Imre
Kertész im Pilisgebirge nördlich von Budapest mit dem Bau der Kulisse, eines
Ebenbildes des Konzentrationslagers Buchenwald begonnen wurde, wurde
vehement protestiert. Die "Sakralität" von Pilis sollte verteidigt werden,
denn dort hätten bereits die Skyten gesiedelt, dann die "ehrwürdigen
Schamanen, Nachfahren des Hunnenkönigs Attila", zudem sei "das Gebirge
energetisches Zentrum des Karpatengebirges, wo die göttlichen Energien
zusammenlaufen". Für den Fall, dass die Bauarbeiten nicht gestoppt werden
würden, wurde in Aussicht gestellt, dass dasselbe "passieren [könnte], was
nach Sharons Besuch auf dem Tempelberg geschah".
Die kriegerische Psychose im Land verdeutlicht die rhetorische Frage des
ungarischen Philosophen Miklós Gáspár TAMÁS,
"was [denn] nach Sharons Besuch auf dem Tempelberg [geschah]?", um dann
gleich die Antwort zu liefern: "Massiver Judenmord".
(…)
Wichtiges
Moment des ungarischen Antisemitismus ist
die "umgekehrte
Assimilation", von der der Dichter Sándor Csoóri bereits 1990 schrieb. Darin
wird vor den Liberalen als "Minderheit" gewarnt, die die magyarische Nation
ihrem Stil und Denken anzugleichen versuchten. Dieser Gedanke schlug sich
2004 anlässlich einer Demonstration nieder, dessen Hauptredner sich darüber
beklagte, dass "es /.../ viele Länder auf der Welt [gibt], in denen die
Mehrheit die Minderheit unterdrückt, aber nur ein Land, in dem es die
Minderheit mit der Mehrheit tut, und das ist Ungarn",
und zu deren Abschluss eine israelische Fahne verbrannt wurde. Ende 2004
schlug eine Journalistin in der nationalkonservativen Tageszeitung Magyar
Nemzet vor, den Ombudsman für die Minderheitenfragen zur Verantwortung zu
ziehen, da die "Bürger, die sich für das Aufrechterhalten der magyarischen
Nation verantwortlich fühlen, zu Minderheiten in ihrer eigenen Heimat
geworden sind".
Diese Art 'Minderheitenstatus' wird von den Liberalen immer wieder auch auf
die 'Postkommunisten', d.h. auf die Sozialisten ausgeweitet, die
"internationale Menschen", "Zerstörer des Magyarentums und der Nation",
"Vasallen der Globalisierung", ja sogar "entartet" seien.
Für die 'nationale Kultur zerstörerisch' wird auch die eigene, gegenwärtige
(seit 2002 regierende) sozialistisch-liberale Regierungskoalition empfunden,
weshalb die Nationalkonservativen permanent auf die 'Fremdbesetzung der
Nation' anspielen und sie z.B. brüsseltreue 'Brüsseliten' (dies ist die
Abwandlung des ehemaligen moskautreuen 'Moskowiten') bezeichnen.
Die 'Ablehnung des Westens' richtet sich heute als Aggression im
Zusammenhang mit der (erlebten) Integration gegen die EU und zeigt sich in
Verschwörungstheorien. Der in Ungarn verbreitete Code "Tel Aviv – New York –
Brüssel – Achse" oder der Begriff "Euro-Zionismus"
stehen für eine vermeintliche jüdische Weltverschwörung mit der EU. Den
Nationalstaat in Frage zu stellen, wird als Zeitgeist-Phänomen im Denken
eines einflussreichen Teils der eigenen Elite angesehen. Dieses Denken sei
als Strategie der politischen Eliten mächtiger Staaten darauf gerichtet, die
kleinen Länder zum Verschwinden zu bringen. Die 'europäische Idee' wird in
dieser Sichtweise ad absurdum geführt und mutiert zu einer neuen imperialen
Herrschaftsideologie.
So wird auch die Integration allgemein vielfach als "Anschluss", als
"Kolonisierung" oder als einfacher Wechsel von der "Ost-EU" (Sowjet Union)
in die "West-EU" (Europäische Union) erlebt.
Auch heute mischen
sich biologische und kulturelle Elemente in den ethnischen Diskurs, und im
Gegensatz zu den Sozialisten und Liberalen werden die 'wirklichen Magyaren'
öfters als höhere "Menschenart" und "Rasse" bezeichnet.
Zudem wird der "wirtschaftliche Lebensraum im Karpatenbecken"
als positive Vision aufgezeichnet.
Wie die aufgezählten Beispiele verdeutlichen, bleibt die antisemitische
Rhetorik bei weitem nicht nur auf die Sprache der rechtsradikalen Parteien
begrenzt, sondern ist auch typisch für die 'bürgerlichen' Parteien 'der
Mitte'. Die Nationalkonservativen fühlen sich als 'die Nation' schlechthin,
als die 'Rechten/ Richtigen' und 'echten Ungarn', die von den 'Linken', den
'Feinden des Volkes', den 'nicht-ungarischen', 'identitätslosen' und
'hungarophoben Vaterlandsverrätern' tiefe mentale Gräben trennen, weshalb
Ungarn seit den ersten Jahren nach der Wende allmählich zum
gesellschaftspsychologisch geteilten Land geworden ist. Heute gibt es zwei
Parallelgesellschaften im Land, wobei jede Seite ihre eigenen Medien nutzt,
und dies fast ausschließlich; von einem gesellschaftlichen Dialog ist man
weit entfernt.
(...)
Die
Untersuchung dürfte bewiesen haben, dass wir heute in Ungarn wieder von
einer völkischen Bewegung sprechen können. Tatsache ist auch, dass der
gegenwärtige nationalkonservative Oppositionsführer, Viktor Orbán vor Kurzem
im Zusammenhang mit dem Treffen des so genannten Dorfparlaments von "der
größten bürgerlich-dörflichen Bewegung seit der völkischen Bewegung in den
30er Jahren"
sprach.
Antidemokratische Gesinnung und reale politische Gefahr
Wie in der
deutsch-völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich vor hundert
Jahren, so kann auch heute der
Antisemitismus in
Ungarn als Identitätsproblem der völkisch eingestellten
Mehrheitsgesellschaft bestimmt werden, die aus einer 'Verteidigungshaltung'
heraus den 'Fremden' die Fähigkeit zur nationalen und kulturellen
Strukturzugehörigkeit abspricht, deren kulturelle, soziale, religiöse und
moralische Minderwertigkeit behauptet und dabei in deren Wirken eine
Schädigung nationaler und ethnischer Strukturen erblickt. Da sie
Andersartigkeit als existenzielle Bedrohung empfindet, artet die als gerecht
empfundene Selbstverteidigung immer wieder zum metaphysischen Kampf zwischen
Gut und Böse aus. Dies tritt besonders in den Wahlkampagnen vor den
Parlamentswahlen zutage. Das völkische Sendungsbewusstsein wird auch durch
die christliche Kirche 'göttlich legitimiert', indem sie zur "richtigen
Entscheidung" mahnt, andernfalls würden die Gläubiger am Jüngsten Tag zur
Rechenschaft gezogen".
Der traditionelle Ethnonationalismus wird zur Ethnoreligion, in dem der
Kampf geradezu gegen den "Antichrist"
und gegen "gigantische, bolschewisierende, satanische Kräfte"
geführt wird. Wie 2002, so wurde deshalb die Stimmung auch 2006 kurz vor den
Wahlen jeweils an die Grenze des Explosiven zwischen den
Nationalkonservativen und den Sozialliberalen getrieben.
Im Frühjahr 2006 war
zusätzlich eine weitere Entwicklungsstufe der völkischen Denkweise zu
beobachten: Die (ethno)kulturalistische Staatsauffassung der
nationalkonservativen Opposition ging in eine biologistische über. Im
Gegensatz zur strategischen Funktion der Kultur in der nationalkonservativen
Regierungsperiode zwischen 1998 und 2002
stand im Wahlprogramm der Fidesz/Bürgerlichen Union jetzt die Errichtung
eines Superministeriums für Gesundheitswesen mit einem Superminister, der
als "Arzt der Nation" für die Gesundung der "Volksseele"
und für die Wiedergewinnung der "magyarischen Lebenskraft" sorgen sollte.
Ihm sollten auch die "Zigeunerangelegenheiten"
unterstehen. Der designierte Amtsinhaber propagierte bereits als Kandidat
eine neue Ethik, weg von der Verantwortung für das Individuum, hin zur
Verantwortung für das Volkstum und die Nation, was für ihn auch bedeutet,
dass der "uferlose Freiheitsdrang des Einzelnen im Interesse der
Gemeinschaft eingeschränkt werden soll".
Der Arzt am Volk ist somit zum eigentlichen Spezialisten zur Lösung
gesellschaftlicher und bevölkerungspolitischer Probleme aufgestiegen und
wurde schon im Wahlkampf mit einem priesterlichen Mythos als autoritäre
Führerpersönlichkeit ausgestattet. Dr. István Mikola versteht unter Nation
einen "Volkskörper", dem durch Trianon Arme und Beine abgehackt worden wären
und der jetzt als verstümmelter Rumpf dastehe.
Auch für Viktor Orbán bedeutet die Nation einen Körper. "Die ungarische
Nation ist unsere Gemeinschaft", sagte er zum Auftakt der Wahlkampagne am
12. März 2006, und "die Republik ist nur unsere Wohnung. Wenn Sie so wollen,
ist die magyarische Nation unser Körper, und die Republik ist unser Kleid.
Aber uns interessiert nicht die Mode, sondern das, was hinter den Kleidern
versteckt ist. Das ist der Unterschied zwischen der Nation und der Republik.
Für uns ist deshalb vor allem die Nation wichtig."
Auszüge aus: SALZBORN, Samuel (Hrsg.)
(2006), Minderheitenkonflikte in Europa. Fallbeispiele und Lösungsansätze,
Studien Verlag, Innsbruck/ Wien/ Bozen, 201-221.
Anmerkungen:
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Gáspár Miklós Tamás: A haladó ifjúság példaképe II. [Das Vorbild der
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Psychose ist nicht "Kerneuropa" die Lösung, in:
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Matild Torkos: ‚Ügyes’ [Geschickt], in: Magyar Nemzet v. 17.12.2004.
István Csurka: Interview in: Kossuth Rádió v. 21.03.1999.
Der Oppositionsführer und Leiter der nationalkonservativen Partei
Fidesz-MPSZ, Viktor Orbán sagte: "Früher sagte der Ungar, es gäbe die
Moskowiten. Jetzt sagt man – ich habe es nicht erfunden, stehe aber dazu -,
dass es die Brüsseliten gibt. Ob es eine Kontinuität zwischen beiden
Gruppierungen gibt, darüber würde ich mich jetzt nicht äußern, das überlasse
ich der Fantasie der Hörer" (Kossuth Rádió v. 17.12.2002).
Aranka Vennes: Kulturális találkozó, magyar termékekkel [Kulturtreffen mit
ungarischen Produkten], Hörfunksendung in: Kossuth Rádió v. 12.12.2003.
Vgl. Robert Maier: Die Präsenz des Nationalen im (ost)mitteleuropäischen
Geschichtsdiskurs, Hannover 2002.
Kornél Döbrentei: Kommentar, in: Kossuth Rádió v. 12.12.2004.
Viktor Orbán: Interview in: Kossuth Radio v. 27.01.2002.
Viktor Orbán: Interview in: "Luxus-baloldaliak jönnek, és kioktatják az
országot" [Die Luxuslinken kommen und belehren das Land], in: HirTV v.
3.10.2005.
Auszug aus einer Predigt, zit. in: Klubradió v. 21.3.2006.
"...hier zeigte sich der mal als Bolschewik, mal als Liberale erscheinende
echte Antichrist"– sagte der Präsident der Christlich Demokratischen
Volkspartei (KDNP) und Vizepräsident des Komitees für Menschenrechte im
Parlament, Zsolt Semlyén, in Kossuth Rádió v. 17.7.2005.
So formulierte der Vorsitzende des Fidesz-Parteiausschusses, László Kövér in
der Provinzstadt Köszeg, zit. in: Heti Világgazdaság v. 7.10.2005.
Magdalena Marsovszky: Antisemitismus in Ungarn nach 1989. Demokratiedefizit
und kulturpolitische Herausforderung für Europa, in: Zeitgeschichte-online,
Thema:
Die Debatte um den Antisemitismus in den ostmitteleuropäischen
EU-Beitrittsländern: Der Fall Ungarn, Januar 2005
hrsg. von Maren Brodersen in Kooperation mit Magdalena Marsovszky, URL:
http://www.zeitgeschichte-online.de/zol/_rainbow/documents/pdf/asm_oeu/marsovszky_asm.pdf
József Makkay: Esély a megcsonkított nemzettest felépülésére. Beszélgetés
Mikola István volt egészségügyi miniszterrel [Chance für den Aufbau des
verstümmelten Volkskörpers. Ein Gespräch mit dem ehemaligen
Gesundheitsminister, István Mikola], in:
http://www.fidesz.sopron.hu/article_plain.php?id=10053, lokaler
Nachrichtendienst der Fidesz/Bürgerlichen Union v. 9.10.2004.
Sarolta Virághalmy, Miklós Halász-Szabó: Fidesz-lista: Orbán az élen, a
második Mikola "a nemzet gyógyítója" [Fidesz-Liste: Orbán an der Spitze,
zweiter ist Mikola "der Arzt der Nation"], in:
http://www.radio.hu/index.php?cikk_id=173773&rid=PWtUTQ==,
Internet-Nachrichtendienst des öffentlich-rechtlichen Kossuth Rádios v.
11.3.2006.
Dr. István Mikola, Interview, in: "Mindenki megtapsolt" [Jeder hat mir
Beifall geklatscht], in: Népszabadság v. 18.3.2006.
Aus seiner Wahlkampfsrede zit. in: Klubrádió v. 22.3.2006.
wie Anm. 91.
zit. in: Klubrádió v. 13.3.2006.
hagalil.com
20-07-07 |