Beitrag zur
Prävention:
Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert
Von
Nikola Friedrich
Die Aufsatzsammlung "Genozide und staatliche
Gewaltverbrechen" ist der dritte Band der Reihe "Konzepte und Kontroversen –
Materialien für Unterricht und Wissenschaft in Geschichte – Geographie –
Politische Bildung". Er widmet sich – im Gegensatz zum ersten Band über den
Holocaust – allgemein dem Thema Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im
20. Jahrhundert.
Der
Studienverlag möchte nach eigener Aussage mit diesem Band seinen Beitrag zur
Prävention von Genoziden leisten. Denn bei der Behandlung des Themas Genozid
dürfe die Frage nach der Genozidprävention nicht vernachlässigt werden. Vor
allem wenn man bedenkt, "dass Völkermord nicht von einer kleinen Gruppe von
Fanatikern durchgeführt werden. Sie geschehen, weil breite
Bevölkerungsschichten sie mittragen" (Einleitung). Diesem Ziel wird der
Verlag mit dieser Publikation ganz und gar gerecht.
Die
Publikation ist in drei Teile untergliedert: Während sich der erste Teil mit
theoretischen Überlegungen zum Genozid und seinen Definitionsproblemen
beschäftigt, besprechen die Beiträge im zweiten Teil konkrete Beispiele des
Umgangs mit Völkermord und staatlichen Gewaltverbrechen. Der letzte Teil
befasst sich mit einzelnen Projekten.
Der
Band enthält zwei Rezensionen, ein Literaturverzeichnis über Sachbücher und
Kinder- und Jugendliteratur, Hyperlinks, ein ausführliches und informatives
Glossar sowie Angaben zu den Autoren.
Das
Buch besteht aus 14 Beiträgen von Wissenschaftlern,
Menschenrechtsaktivisten, Politikern, Pädagogen, Künstlern und Journalisten,
die auf der internationalen Konferenz zum Thema "Welchen Beitrag können
schulisches und außerschulisches Lernen und Erinnern zum Umgang mit
Völkermord und staatlichen Gewaltverbrechen leisten?" gehalten wurden.
Die meisten Beiträge eignen sich jedoch nicht als Unterrichtsmaterialien,
vielmehr vermitteln sie Hintergrundinformationen. Die Publikation gibt
Lehrenden aber einen guten Einblick in zahlreiche Aspekte im Zusammenhang
mit Genoziden und staatlichen Gewaltverbrechen. Besonders reizvoll ist die
Tatsache, dass das Wie und Wann einer schulischen Vermittlung selbst
thematisiert wird. Damit werden Fragen aufgegriffen, die bisher wenig
Beachtung im Zusammenhang mit der Behandlung von Genoziden gefunden haben.
Im
ersten Beitrag stellt Yves Ternon sich die Frage, wie Genozid definiert
werden kann. Eine wichtige Frage, denn die Autoren des Bandes beklagen immer
wieder das Fehlen einer Definition bei der schulischen Vermittlung dieses
Themas.
Im
Anschluss daran behandelt Mihran Dabag – Mitherausgeber der Deutschen
Zeitschrift für Genozidforschung – die Wahrnehmung und Prävention von
Genoziden aus der Perspektive der strukturvergleichenden Genozidforschung.
Dabei streicht er insbesondere heraus, dass Genozide nicht als Eskalation
von Konflikten zu betrachten seien, vielmehr stellten sie immer die
kontrollierte Verwirklichung eines vorgefassten und nationalen Planes dar.
Genozid sei eine spezifische, gerichtete, nationalstaatliche Gewalt, in der
sich eine gesamte Gesellschaft zu einer "genozidalen Gesellschaft" formiert.
Der
dritte Beitrag ist von dem Gründer der Organisation Genocide Watch und der
Internationalen Kampagne zur Beendigung von Genozid Gregory Stanton. Er
betont, dass Genozide immer Prozesse darstellten, die sich in acht Phasen
entwickelten. Diese seien vorhersagbar, aber nicht unvermeidlich. Daher
ließe sich ein Genozid in jeder Phase durch präventive Maßnahmen stoppen.
Neben der ausführlichen Beschreibung der einzelnen Phasen des Genozids
enthält Stantons Beitrag auch eine Darlegung der Ziele der von ihm
gegründeten internationalen Kampagne zur Beendigung von Genoziden.
Im
darauf folgenden Beitrag gibt der Jurist und Historiker Gerd Hankel eine
ausführliche Darstellung über die Entwicklungen des Völkerrechts im Umgang
mit Völkermord und staatlichen Gewaltverbrechen, deren derzeitiger Endpunkt
die Schaffung des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag
ist.
Abgerundet wird der theoretische Teil mit einem Beitrag von Eric D. Weitz,
der als Abschlussvortrag der Konferenz auch eine Gesamtschau über die
Konferenz bietet. Weitz nennt drei verschiedene Modelle von Genoziden und
beschäftigt sich dabei mit den Zusammenhängen zwischen Genozid,
Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus.
Im
zweiten Teil des Bandes untersucht Volkmar Deile, Mitherausgeber des
Jahrbuchs "Menschenrechte", warum der Völkermord in Ruanda eine "Geschichte
der Schuld, des Versagens und unzulänglicher Institutionen" ist. Nach dem
Urteil des Autors haben in Ruanda alle versagt: die Vereinten Nationen, die
Regierungen, die Medien und die Öffentlichkeit. Deile streicht daher die
Notwendigkeit eines Früherkennungs- und Warnsystems heraus.
Diese
Ausführungen werden thematisch von Fatuma Ndangizas Beitrag ergänzt. Die
Generalsekretärin in der National Unity and Reconciliation Commission (NURC)
in Kigali beschreibt die Genese des Konflikts in Ruanda während der
Kolonialzeit und die heutigen Aufgaben der Versöhnungsarbeit.
Heike
Deckert-Peaceman, Professorin für Erziehungswissenschaft an der
Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, wirft die Frage nach dem "richtigen
Alter" für eine erste Konfrontation mit dem Thema Genozid auf. Sie gibt zu
bedenken, dass hinter der Frage möglicherweise mehr ein Problem der
Erwachsenen stünde, weil diese sich im Gespräch mit den Kindern der Tatsache
stellen müssten, warum es der menschlichen Gemeinschaft nicht gelingt,
Unmenschliches zu verhindern. Dabei sei gerade die Hilfe der Erwachsenen bei
der Verarbeitung des Gehörten, Gesehenen und vielleicht sogar Erlebten
wichtig.
Die
Historikerin Thami Tisani plädiert in ihrem Beitrag dafür, auch das System
der Apartheid in Südafrika als Genozid sui generis anzuerkennen. Die
Apartheid sei ein System gewesen, das absichtlich eine bestimmte
Bevölkerungsgruppe physisch, sozial und intellektuell vernichten wollte. Die
Autorin beschreibt in diesem Zusammenhang auch die Rolle des
Geschichtsunterrichts während und nach der Apartheid. Ihre Darstellung
offenbart, dass in Südafrika die Geschichte neu geschrieben werden muss.
Eine Aufgabe, die angesichts der Komplexität der Geschichte der Apartheid
eine große Herausforderung sei.
Falk
Pingel, Stellvertretender Direktor des Georg-Eckert-Instituts für
internationale Schulbuchforschung, präsentiert schließlich die Ergebnisse
seiner Untersuchung, wie in Schulgeschichtsbüchern aus Europa und Amerika
das Thema Völkermord behandelt wird.
Im
dritten Teil des Bandes legt Roland Brunner dar, wie Medien funktionieren
und wie sie missbraucht werden können. Anschließend diskutiert er, welchen
Beitrag die Medien bei der Versöhnung im ehemaligem Jugoslawien spielen
können.
Helmut Meyer stellt sein zusammen mit Peter Gautschi im Jahr 2001
herausgebrachtes Schuldbuch "Vergessen oder Erinnern? Völkermord in
Geschichte und Gegenwart" vor und erklärt dessen Ziel und Aufbau.
Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist die überaus kritische Rezension
dieses Schuldbuches von Eduard Fuchs im selben Band.
Von
der Frage "Vergessen oder Erinnern?" handelt auch der Beitrag von Pedro
Alejandro Matta, der neben den politischen Geschehnissen während der
Militärdiktatur in Chile, von dem langwierigen Prozess der Aufarbeitung in
seinem Land berichtet. Im Fokus steht dabei der "Park des Friedens" in
Santiago, wo einst das Folterzentrum Villa Grimaldi stand.
Die
Publikation wird von einem offenen Brief der Schriftstellerin und
Journalistin Irena Brežná an die tschetschenische Menschenrechtlerin Sainab
Gaschajewa abgerundet. Der Beitrag entstammt ihrem Buch "Die Sammlerin der
Seelen. Unterwegs in meinem Europa" von 2003. Eine Rezension zu ihrem Buch
befindet sich ebenfalls in diesem Band.
hagalil.com
05-04-06 |