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Richard Chaim Schneider (Hg.) (2000):
Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute.
Berlin 2000 (Ullstein)


Katja Behrens (Hg.):
Ich bin geblieben - warum? Juden in Deutschland - heute
Gießen 2002 (Psychosozial-Verlag)

 

 

Hörbuchtipp:
Richard Chaim Schneider - "Wir sind da!"

Neuanfang im Land der Täter:
Juden in Deutschland nach 1945

Von Roland Kaufhold

Der von dem Münchner Publizisten und Theaterregisseur Richard Chaim Schneider herausgegebene Band "Wir sind da!" enthält 34 ausführliche, überwiegend persönlich gehaltene und hierdurch sehr ansprechend geratene Interviews. Diese informativen Gespräche sind von Schneider auch in eine Serie von Rundfunksendungen über die Geschichte der Juden in Deutschland seit 1945 eingearbeitet worden.

Viele dieser Gespräche leben von der persönlichen Bekanntschaft, z.T. Freundschaft, welche Schneider mit der Mehrzahl seiner Gesprächspartner verbindet. Diese Beziehung dürfte die Voraussetzung hierfür gebildet haben, dass diese jüdischen Persönlichkeiten ihr Wirken in Deutschland sowie in Israel in einer anrührenden Offenheit reflektieren.

In den Gesprächen mit Ernest Landau: "Es wurden wieder Familien gegründet", Max Mannheimer, Zev Birger: "Es war schon eine große Wut", Leni Yahil, Lili Marx: "Wie können Sie nur in Deutschland leben?" sowie Norbert Wollheim wird an die äußerst schwierigen Anfangsjahre nach dem Holocaust erinnert. Diese Phase wurde durch das unbeirrbare Bemühen der Interviewten geprägt, den Überlebenden des Holocaust, welche größtenteils in DP-Lagern ("Displaced Persons") leben mussten, konkret und unmittelbar zu helfen. Der größte Teil der Überlebenden versuchte so rasch wie möglich nach Palästina oder aber zu überlebenden Verwandten ins Ausland zu emigrieren. Einige Wenige jedoch blieben in Deutschland, was bei diesen - dies kommt in zahlreichen Interviews zum Ausdruck - häufig mit Schuldgefühlen verbunden war. Verständnis vermochte sie kaum zu finden - nicht bei den ihre Verbrechen verdrängenden und verleugnenden Deutschen, aber auch nicht bei Juden aus Israel bzw. den USA. Ja, belastender noch: Jahrzehnte später wurde die schwer erträgliche Frage, wie sie nach dem Holocaust in Deutschland bleiben konnten, dann von ihren eigenen Kindern an sie gerichtet.

Max Mannheimer, langjähriger Vorsitzender der Lagergemeinschaft Dachau, erinnert an seine Interviews mit KZ-Überlebenden in den späten 40er Jahren in München, welche als Zeugen gegen Kriegsverbrecher benötigt wurden. Das Ausmaß seiner inneren Isolation wurde ihm erst Jahrzehnte später bewusst: "Ich habe im Nachlaß meiner Frau in den Briefen eine interessante Feststellung getroffen: `Max lebt noch immer in einer Art Ghetto.´ Das heißt ein selbstgewähltes Ghetto, einer Art Barriere, die ich um mich aufgebaut hatte." Er verkehrte nahezu ausschließlich in jüdischen oder aber in sozialdemokratischen Kreisen, schützte sich so zugleich vor einer Begegnung mit dem deutschen Antisemitismus.

Die Amerikaner Rabbi Israel Miller sowie Saul Kagan erinnern an ihre Tätigkeit bei der Jewish Claims Conferenz, mittels derer sie Entschädigungszahlungen für die jüdischen Holocaustopfer einzufordern versuchten. Inhaltlich ergänzt wird dies durch den Beitrag "Was verlangt man für sechs Millionen Tote?" von Benjamin Ferencz, seinerzeit Chefankläger im Nürnberger Einsatzgruppenprozess. Das moralische Dilemma sowie die eigene emotionale Traumatisierung, welche Ferencz konstruktiv in ein lebenslanges Engagement für die internationalen Menschenrechte umzuwandeln vermochte, wird eindrücklich deutlich. Eli Natan, Shimon Perez sowie Asher Ben Nathan, erster israelischer Botschafter in Deutschland, erinnern an die sogenannten "Wiedergutmachungsverhandlungen"; diese riefen seinerzeit in Israel heftige emotionale Proteste hervor (s. psychosozial Nr. 83, Heft I/2001). In den Gesprächen mit Ralph Giordano, Dan Diner, Micha Brumlik, Cilly Kugelmann, Ignatz Bubis, Andreas Nachama, Moishe Waks, Y. Michal Bodeman, Julius Schoeps, Daniel Libeskind, Hanno Loewy sowie Paul Spiegel wird die eigene Entwicklung von in Deutschland aufgewachsenen jüdischen Intellektuellen reflektiert, wie auch die pädagogisch-kulturellen Bemühungen um eine "Erinnerung" an die Shoah, wobei insbesondere von Diner, Brumlik sowie Kugelmann die verstörenden Begegnungen mit dem "linken Antisemitismus" seit der 68er Bewegung, welcher seine eigenen Täteranteile in vielleicht vergleichbarer Weise wie die Vätergeneration leugnete bzw. ausagierte, sehr kritisch analysiert werden. Die scheinbare "Normalität" eines "jüdischen" Lebens in Deutschland erweist sich in nahezu allen Interviews als äußerst fragwürdig und brüchig.

Für Dan Diner, welcher heute sowohl in Israel als auch in Leipzig jüdische Geschichte und Kultur lehrt, war dies mit einem schrittweise vollzogenen Rückzug von der deutschen Linken verbunden: "Einmal sagte ich mir: Ach, über Israel - Palästina, da will ich nicht mehr reden in Deutschland. Dann gab es Themen, die mit den Vereinigten Staaten, mit der NATO zu tun haben, da dachte ich: Nein, die Auffassungen, die hier vertreten werden, sind auch nicht in Ordnung. (...) Der Rückzug ist ein sukzessiver gewesen, aus den Themen heraus, bis man am Schluß dann feststellte: Man hat mit der Sache eigentlich nichts mehr zu tun." (S. 239) Eine inhaltliche Verbindung zu "der" israelischen Linken bestand eigentlich nie wirklich: "Die israelische Linke hatte sich mit diesen ganzen Gedächtnislasten überhaupt nicht zu befassen. Alle die Fragen, die mit der Vergangenheit zu tun hatten, und die in Deutschland den zentralen Diskurs ausmachten, spielten in Israel überhaupt keine Rolle. Es ging um´s Hier und Jetzt. In Deutschland ging es immer um die Vergangenheit", betont Dan Diner (S. 237).

Die Gespräche mit Salomea Genin: "Ich fühle mich zutiefst schuldig", Annetta Kahane, Vincent von Wroblewsky: "Wie lebt man mit solchen Lügen und Zumutungen?" , Irene Runge sowie dem israelischen Rabbi Isaac sowie Eva Neumann kreisen um die schwierige Geschichte der winzigen Gruppe der Juden in der DDR; die erst begonnene Aufarbeitung dieser Geschichte erweist sich insbesondere auch deshalb als sehr problematisch, weil einige dieser Protagonisten sich der Verlockung bzw. den Pressionen, welche die Stasi auf sie ausübte, nicht zu entziehen vermochten. Diese Zusammenarbeit mit der Stasi hat in den 90er Jahren Beziehungsabbrüche innerhalb der kleinen Gruppe der Juden in der ehemaligen DDR zur Folge gehabt.

Sehr anrührend und bewegend geraten ist das Interview mit der israelischen Schriftstellerin und Journalistin Inge Deutschkron. Als Überlebende des Holocaust hatte sie in den 50er und 60er Jahren für die israelische Tageszeitung Ma´ariv aus Deutschland berichtet. Als sie die Verdrängung in Deutschland nicht mehr zu ertragen vermochte ging sie zurück nach Israel. Erst der Erfolg ihrer autobiographischen Erinnerungen "Ich trug den gelben Stern", welche bis heute in Berlin als Theaterstück unter dem Titel "Ab heute heißt du Sara. 33 Bilder aus dem Leben einer Berliner Jüdin" aufgeführt wird, brachte sie 1988 zu ihrer eigenen Überraschung wieder zurück nach Berlin. An ihre journalistische Tätigkeit in den 60er Jahren in Bonn, während der sie immer wieder über Nazis in hohen Posten berichtete, erinnert sie sich folgendermaßen: "... Und ich weiß, daß man mich in Bonn gehaßt hat, weil ich den Finger immer wieder auf die Wunde legte, eine Wunde, die sich für mich immer weiter öffnete. Manchmal fragte ich mich: Was machst du eigentlich hier? Es war nicht einfach für mich, den Schlußstrich zu ziehen." (S. 180) Die Begegnung mit der 68er-Bewegung, deren Entstehen sie anfangs, als Kind sozialistischer Eltern, mit großer Sympathie verfolgt hatte, bewirkte bei ihr einen Prozess der Enttäuschung. Die Umkehrung eines radikalen verbalen Antifaschismus in einen kaum verhüllten Antisemitismus, in atemberaubender Geschwindigkeit vollzogen, war für sie unerträglich: "Ich erinnere noch ein Spruchband: `Zionisten raus aus Palästina!´ Israel muß verschwinden. Wissen Sie, schlimmer konnte es gar nicht sein, es waren Nazislogans, die da gebracht wurden. Das hat mich entsetzt, und da kam für mich der Moment, wo ich sagte: Jetzt reicht´s. Und der Beschluß, nach Israel zu gehen, war unumkehrbar. Ich muß Ihnen ehrlich sagen, daß ich bis heute nicht verstehen kann, daß diese sogenannten Linken sich nicht irgendwann mal mit diesem Thema auseinandergesetzt haben, mit ihrer Vergangenheit, wie das möglich war, daß sie so eine Kampagne gegen Israel führten und junge Menschen den Tod Israels herbeiwünschten. Das begreife ich nicht." (S. 190)." Erst der Erfolg ihres autobiographischen Theaterstücks Ende der 80er Jahre vermochte sie wieder mit der jungen, neuen Generation in Deutschland zu "versöhnen". Die Annahme des Bundesverdienstkreuzes, welches man ihr verleihen wollte, lehnte Inge Deutschkron jedoch ab.

Der von der in Berlin aufgewachsenen Schriftstellerin Katja Behrens herausgegebene Band "Ich bin geblieben - warum?" enthält Beiträge von 10 Autoren, die als Juden in Deutschland aufgewachsen sind. Das Buch stellt insofern eine Vertiefung des vorgehend vorgestellten Bandes dar, bezogen auf die Schwierigkeiten eines "jüdischen Lebens" in Deutschland. Auch in diesem Band zeigt sich sehr rasch die Brüchigkeit unserer scheinbar gefestigten "Normalität". Der Historiker Wolfgang Benz skizziert die in dem mit "Zwischen Antisemitismus und Philosemitismus. Juden in Deutschland nach 1945" betitelten Beitrag den Neuanfang des Judentums in Deutschland, welcher zu einer scheinbaren Akzeptanz jüdischen Lebens sowie einer Hochschätzung einiger ihrer intellektuellen "Protagonisten" (Brumlik, Broder, Diner, Giordano, Seligman, Reich-Ranicki, Schneider) geführt habe. Er beschreibt den "gönnerhaften Blick der wohlwollenden Mehrheit, die den jüdischen Anteil an deutscher Kultur in erster Linie als Verlust des Eigenen sieht - die Emigration und den Holocaust als Minderung deutschen kulturellen Ertrages wahrnimmt" (S. 10) - die scheinbare Einfühlung, das vorgegebene Interesse erweist sich für ihn rasch als ein narzisstisches, die mörderische Täterseite verleugnendes Bemühen. Der alltägliche Antisemitismus als der andere Pol dieses die eigene Ambivalenz verbergenden Spannungsbogens wird in diesem - wie auch in weiteren Buchbeiträgen - illustriert. Dieser zeige sich auch in dem bis heute ungebrochenen, ausgrenzenden Geredes von "den Juden", welches "auf der tradierten Überzeugung vermeintlicher Andersartigkeit der Juden beruht" (S. 12). Der wachsende zeitliche Abstand zum Holocaust spiele für die Juden als Opfer psychologisch keine Rolle. Dies werde von der Mehrheitsgesellschaft nicht verstanden und in einen Vorwurf einer vermeintlichen "Unversöhnlickeit" verkehrt.

Sehr lesenswert sind die posthum veröffentlichten beiden Beiträge des Schriftstellers Jurek Becker. Becker, 1937 in Lodz geboren, verbrachte er seine Kindheit in Konzentrationslagern. In "Mein Vater, die Deutschen und ich" reflektiert Becker seine Sozialisation als Kind einer jüdischen Familie in der DDR und verknüpft dies mit einer Analyse des Verhältnisses zwischen Ost- und Westdeutschen. Die Beziehung seines Vaters zu seinem Judentum war prägend für Jurek Becker: "Eigentlich war er gar kein Jude, das heißt, ihm lag nicht viel daran, einer zu sein. Aber er versteckte es nie. Ich glaube sogar, daß er sein Judentum oft dicker auftrug, als ihm selbst angenehm war: aus Furcht, für angepasst gehalten zu werden, also aus Stolz. Einmal sagte er, dass es ihm nie im Leben eingefallen wäre, sich für einen Juden zu halte, wenn es keinen Antisemitismus gäbe. Nichts auf der Welt fördere den Zusammenhalt der Juden und ihr Bewusstsein von ihren Eigenarten so sehr wie Judenhass." (S. 40) In dem zweiten Beitrag "Gedächtnis verloren - Verstand verloren" setzt Becker sich in vorausschauender Weise sehr kritisch mit einem ZEIT-Beitrag von Martin Walser auseinander - und antizipiert hierbei Walsers unrühmliche, rechthaberische Friedenspreisrede.

Katja Behrens beschreibt in "Von Symbiose war einmal die Rede" in nachdrücklicher, literarischer Weise die Phasen der Aufarbeitung ihrer Familienbiographie. Sie erinnert an das bittere Resümee des Historikers und Holocaustüberlebenden Joseph Wulf, welcher sich 1974 das Leben genommen hat. Zwei Monate vor seinem Freitod schrieb er seinem Sohn: "Ich habe hier achtzehn Bücher über das Dritte Reich veröffentlicht, und alles hatte keine Wirkung. Du kannst dich bei den Deutschen totdokumentieren, es kann in Deutschland die demokratischste Regierung sein - und die Massenmörder laufen frei herum, haben ihre Häuschen und züchten Blumen." (S. 82)

Der Kölner Schriftsteller und Journalist Peter Finkelgruen, dessen höchst außergewöhnliche Biographie von Shanghai über Prag und Israel nach Deutschland vom Kölner Filmemacher Dietrich Schubert verfilmt worden ist, erinnert an die Geschichte der ungesühnten Mordes an seinem Großvater. Alle juristischen Aufarbeitungsbemühungen scheiterten an der bundesdeutschen Justiz. In "Ich bin geblieben - warum?" beschreibt der kämpferische Kölner Schiftsteller und Journalist Ralph Giordano die Wurzeln, insbesondere die sprachlichen Wurzeln, die ihn immer noch und immer wieder an Deutschland binden. Weiterhin enthält das Buch literarische Beiträge von Esther Dischereit, Benjamin Korn: "der Mensch, die Maschine des Vergessens" und Salomon Korn "Erbschaft der Nachgeborenen". Abgeschlossen wird der anregende Sammelband durch drei knappe literarische Skizzen von Ulrike Maria Hund, in welchen sie Episoden aus ihre sozialarbeiterischen Arbeit mit russischen Juden, die in den letzten Jahren nach Deutschland eingewandert sind, schildert.

Als vertiefende Lektüre sei abschließend noch auf folgende Bücher verwiesen: David Dambitsch (Hg.) (2002): Im Schatten der Shoah. Gespräche mit Überlebenden und deren Nachkommen, Berlin/Wien 2002, 345 S. (Philo-Verlag). Der in die Kapitel "Vom Pflichtgefühl nach dem Überleben" sowie "Von Generation zu Generation" eingeteilte Band enthält 31 durch knappe biographische Portraits eingeleitete Gespräche mit jüdischen Holocaustopfern (Kap. 1) bzw. deren Kindern (Kap. 2), die ihre traumatischen Erfahrungen alle in literarischer Form "aufgearbeitet" haben.

Für den Schulunterricht sei zu empfehlen: James Still: Und dann kamen sie mich holen: Erinnerungen an die Welt der Anne Frank, Gießen 2004, 118 S. (Psychosozial-Verlag).

Diese Rezension ist zuvor in der Zeitschrift psychosozial Heft 1/2005 (Nr. 99), S. 133-136 publiziert worden. Wir danken dem Psychosozial-Verlag, Gießen sowie seinem Inhaber, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundliche Abdruckgenehmigung.

hagalil.com 20-01-08











 

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