Richard Chaim Schneider - "Wir sind
da!":
Juden in Deutschland nach 1945
Hörbuch-Tipp
Was 1945 niemand für möglich gehalten
hat, geschah. Juden, die die Schoah überlebt hatten, kehrten nach
Deutschland zurück oder ließen sich in Deutschland nieder, beteiligten sich
am Aufbau der beiden deutschen Staaten und begaben sich dadurch in ein
besonderes Spannungsfeld deutsch-jüdischer Identität. Richard Chaim
Schneider, selbst als Kind ungarischer Holocaust-Überlebender in Deutschland
geboren, näherte sich dem Thema aus innerjüdischer Perspektive. Seine
Dokumentation "Wir sind da!", 10 halbstündigen Folgen, die in einer
Koproduktion des Bayerischen Rundfunks und des WDRs entstanden, sind auch
als Audio-Buch sehr zu empfehlen.
Einführung anhören
Schneider beginnt mit der Situation nach
1945, mehr als 200.000 Juden lebten als Displaced Perons in Lagern der
amerikanischen Zone. Die Organisation in den DPs, das Leben zwischen der
Vorbereitung auf die Einwanderung in Israel und die Bemühungen, ein
"normales" Leben zu führen, werden durch zahlreiche Beiträge dokumentiert.
Zeitungen, Fussballvereine, Theaterveranstaltungen schienen den
unbeschwerten Alltag erneut greifbar zu machen. Vor allem den Wunsch, eine
neue Familie zu gründen, beschreiben Zeitgenossen als dringenden
Wunsch. Dazu äußert sich u.a. Ernest Landau, der damals in der Verwaltung
eines DP-Lagers tätig war. Israel Becker, heute im israelischen
haBimah-Theater, war Hauptdarsteller und Regisseur des ersten jüdischen
Films, der 1945 auf deutschem Boden gedreht wurde. Er erzählt von den
Dreharbeiten zu "Lang ist der Weg", der nicht nur ihm, sondern auch den
zahlreichen Statisten aus dem Lager, die Chance bot, über ihre Geschichte,
über die Erinnerung, die sie in sich trugen, zu erzählen.
"Unsere Eltern" erzählt Schneider,
wollten endlich das Leben genießen, wollten am Wirtschaftswunder in der
neuen Bundesrepublik teilhaben, wurden dabei aber von den Juden in aller
Welt verachtet. Sie wollten die Schrecken der KZs vergessen, "aber um
welchen Preis, was mussten sie alles verdrängen, um in Deutschland leben zu
können".
Bereits in den ersten Jahren nach
Kriegsende kam es auch zur Wiederetablierung jüdischen religiösen Lebens.
Synagogen wurden wieder aufgebaut, von Deutschen wurde das als gute
Gelegenheit angesehen, guten Willen zu zeigen, schließlich hatte man mit
dieser Vergangenheit nichts mehr zu tun. Lily Marx, die Frau von Karl Marx,
der später die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung gründete, erzählt von den
Anfängen der Gemeindearbeit. 1950 wurde der Zentralrat der Juden in
Deutschland gegründet. Sein politisches Ziel: Normalisierung, keine
Diskriminierung und keine Privilegierung, Normalisierung jüdischen Lebens in
Deutschland.
Die treibende Kraft der 50er Jahre ist
das Bedürfnis über die "Schrecken der Vergangenheit" zu schweigen, nach
Vorne zu blicken. Nicht nur bei den Deutschen, auch auf Seiten der Opfer,
der Juden in Deutschland. Der Historiker Norbert Frei und der Soziologe
Michael Bodemann kommen hier zu Wort und erklären das generelle
Spannungsfeld der jungen Bundesrepublik zwischen Vergangenheitsbewältigung
und vollkommener Amnesie. Die Affäre um Hans Globke, Kommentator zu den
Rassegesetzen, steht neben nichtssagenden Rituale, an die sich alle
klammern, um so zu tun, als ob man sich versöhnen könnte. Die "Woche der
Brüderlichkeit" sieht Schneider als eine typische Erfindung der jungen
Bundesrepublik.
Der Eichmann-Prozess war auch in
Deutschland ein Wendepunkt im Umgang mit der Vergangenheit. Er steht am
Anfang eines langsamen Erwachens, das klar machte, dass viel mehr Mörder
noch immer lebten und mitten in der Gesellschaft lebten. Vom
Auschwitz-Prozeß in Frankfurt 1964, einem einschneidenden Augenblick in der
Republik, berichtet u.a. Ralf Gioradano, der jeden Tag anwesend war.
Ende der 60er Jahre folgte dann wieder
eine Ernüchterung mit dem Erfolgszug der rechtsradikalen Partei NPD. Die
Juden in Deutschland saßen noch immer auf ihren gepackten Koffern. Man hatte
nicht vor zu gehen, aber man war wachsam, "man wartet und hofft, dass es
nicht so schlimm wird". Das Motto, das Schneider dieser Zeit gibt ist, dass
das Abnorme als Norm jüdischen Lebens in Deutschland wurde, jüdisches Leben
ist immer noch da, findet aber versteckt und im Geheimen statt: "Wir sind
da. Aber keiner sieht uns."
Das offizielle Verhältnis zwischen
Jerusalem und Bonn, der Weg zum Luxemburger Abkommen und die ersten Kontakte
zwischen Deutschland und Israel, die zunächst über geheime Waffenlieferungen
liefen, erzählt u.a. Shimon Peres, der damals inkognito nach Bayern zu Franz
Josef Strauß reiste. Zunächst wurde dann eine Israelische Mission in Köln
eröffnet, 1960 fand das denkwürdige Treffen zwischen Ben Gurion und Adenauer
in New York statt. Über den schwierigen Beginn der diplomatischen
Beziehungen erzählt Rolf Pauls, der Deutschlands erster Botschafter in
Israel war.
Shimon Peres über sein
Zusammentreffen mit Franz Josef Strauß
1968 brachte auch für junge Juden große
Hoffnungen und man hatte zunächst Vertrauen in die jungen deutschen
Revolutionäre. Cilly Kugelmann erzählt, dass dies die erste Möglichkeit war,
sich gemeinsam mit Deutschen zu identifizieren, gemeinsam auf die Straße zu
gehen. Doch dann löste der 6-Tage-Krieg eine Kehrtwendung bei der deutschen
Linken aus. Der aufflammende Antizionismus in der Linken führte zunächst
dazu, dass Ascher ben Natan, Israels Botschafter in Deutschland, bei einer
Reise durch die Republik, die als Vermittlung gedacht war, mit Hitler
verglichen wurde. Henryk Broder kommt hier zu Wort und betont, dass alle
klassischen antisemitischen Klischees im Antizionismus wieder auftauchen.
Kehrtwendung der deutschen Linken
In einem längerem Teil widmet sich
Richard Chaim Schneider dem jüdischen Leben in der DDR. Er selbst bezeichnet
ihn als Versuch der Annäherung "eines Juden aus dem Westen, eines Juden, der
in demokratischer Freiheit aufgewachsen ist". Herman Simon, Leiter des
Centrum Judaicum, der schon im Vorstand der Ostberliner Gemeinde war, und
auch im Vorstand der Jüdischen Gemeinde heute sitzt, erzählt davon, wie er
zum Religionsunterricht in den Westen fuhr, als es im Osten keine
Möglichkeit gab. Der Ost-West-Konflikt fand auch hier seinen Niederschlag,
Yassir Arafat war ein gern gesehener Gast in Ost-Berlin, die DDR
unterstützte die Palästinenser mit Waffen und Ausbildungsmöglichkeiten.
Peter Honigmann weist das Paradox hin, dass man sich vielleicht in keinem
Land konnte als Jude physisch so sicher fühlen konnte wie in der DDR, jedoch
von einem zynischen Umgang, der sich in den 80er Jahren fortsetzen sollte,
ständig umgeben war.
Die Politik der SED wurde in den 80er
Jahren wesentlich von einem antisemitischen Klischee bestimmt. Dennoch, auf
der Suche nach Möglichkeiten den Staat aus der Pleite zu führen, versuchte
man eine Annährung an den Westen, getreu der Devise "der Weg nach Washington
führt über Jerusalem". So wurde ein amerikanischer Rabbiner, Rabbi Neumann,
nach Berlin gebracht, und natürlich ausspioniert. Damit war erstmals wieder
ein Rabbiner in Ostberlin, am Prenzlauer Berg in der Synagoge Ryckestrasse,
eingestellt. In der DDR-Zeit wurde auch noch die Renovierung der Synagoge in
der Oranienburger Straße und die Gründung des Centrum Judaicum begonnen.
Auch das Thema Juden als
Stasi-Informanten thematisiert Schneider. Dazu wollte er zwei Personen
interviewen, die besonders prominent waren und immer noch sind. Peter
Kirchner war schwer erkrankt, Irene Runge, die bis heute den jüdischen
Kulturverein Berlin leitet, weigerte sich über ihre Stasi-Vergangenheit
Auskunft zu geben. Nur eine wollte darüber sprechen, Salomea Genin. Sie
hatte 1982 ihre Stasi-Tätigkeit beendet und erzählt von einem Vorfall mit
ihrem Sohn, der dazu führte, dass ihr schließlich bewußt wurde, dass die
Strukturen des Staates es sind, die Angst erzeugen, dass sie in einem
Polizeistaat lebte, der nichts mit Sozialismus zu tun hatte und dem sie ihr
Leben gewidmet hat.
Der Sprung zurück nach Westdeutschland
beginnt mit der Wahl Helmut Kohls 1982. Die angekündigte geistig-moralische
Wende der neuen Regierung erfüllte die Juden in Deutschland mit Skepsis.
Zurecht, wie sich bald zeigen sollte. Der erste Auslandsbesuch Kohls als
Kanzler führte ihn 1983 nach Israel, wo er so ziemlich alles falsch machte,
was man falsch machen konnte und wo der unglückliche Satz von der "Gnade der
späten Geburt" fiel. Auch Kohls Besuch gemeinsam mit Ronald Reagan am
Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS Leute begraben liegen, wird
u.a. von Richard von Weizsäcker kritisch beleuchtet.
Nach der Wahl Helmut Kohls
In das Gefühlsgemenge der 80er Jahre, in
dem die Regierung Kohl Normalisierung erlangen wollte, gehört auch die
Fassbinder Aufführung von "Der Müll, die Stadt und der Tod", die Juden auf
einmal ins Rampenlicht brachte, nachdem man sich dazu entschlossen hatte,
den Protest mit allen Mitteln zu führen. Heinz Galinski löste in dieser Zeit
Werner Nachmann als Vorsitzender des Zentralrates ab und bemühte sich, alle
Punkte im Skandal über die von Nachmann veruntreuten Gelder offen zu legen.
Der Historikerstreit um Ernst Noltes Thesen oder auch die Jenninger-Rede
sind weitere Stationen im deutsch-jüdischen Miteinander der 80er Jahre, das
Schneider zusammenfasst: "Wir Juden waren mitten drin in diesem Gefühlschaos
der 80er Jahre und dachten, so und nicht schlimmer würde es bleiben in der
Bundesrepublik. Wir hatten uns schwer getäuscht!"
Die Wiedervereinigung weckte in den
deutschen Juden Ängste und stand für eine Reise in eine unsichere Zukunft.
Juden waren einerseits sehr viel skeptischer dem neuen geschichtlichen
Abschnitt gegenüber, andererseits brach 1989 auch für die Juden in
Deutschland ein neues Kapitel an. Der Schwerpunkt jüdischen Lebens in Berlin
verlagerte sich in den Ostteil. Schneider berichtet über die Vereinigung der
beiden deutschen Gemeinden in Berlin und das Wiederaufblühen liberalen
jüdischen Lebens in Berlin. Eine neue Blüte des Judentums schien
heranzureifen.
Doch kurz nach der Wende schallten die
"Ausländer raus – Deutschland den Deutschen"-Rufe durch die Republik.
Rostock, Mölln und Solingen lösten Unsicherheit und Angst bei den Juden aus.
Dann brannte 1994 die Synagoge in Lübeck. "Wir Juden haben unsere Koffer
ausgepackt, sollen wir sie wieder packen?" fragt Schneider. Doch die Zeit
nach der Wende ist auch eine Zeit der Wiederbelebung vieler Gemeinden. Die
Einwanderung russischer Juden, die ebenfalls zu Wort kommen, frischte kleine
Gemeinden neu auf und bewahrte sie vor dem Aussterben.
In Deutschland begann die Debatte um
Schindlers Liste, um Goldhagen und das Holocaust Denkmal. Die Juden sind mit
ganz anderen Dingen beschäftigt, denn es rumort in den Gemeinden. Die
vergangenen Jahre sind durch eine stark zunehmende Pluralisierung des
deutschen Judentums gekennzeichnet. Auch das liberale Judentum gewinnt
zunehmend an Bedeutung. Mit Walter Homolka und Steven Langnas kommen jeweils
Vertreter des Reformjudentums und der Orthodoxie zu Wort.
Doch die letzten Jahre haben auch eine
erneute Verschärfung gebracht. Als Martin Walser seine Dankesrede in der
Paulskirche hielt und von Auschwitz als "Moralkeule" sprach, applaudierten
die Deutschen, nur einer blieb sitzen, Ignatz Bubis. Bubis hat sich in
seinem letzten Interview sehr pessimistisch geäußert, dass er fast nichts
erreicht habe. Und es war sein Wunsch in Israel beerdigt zu werden. Auch
wenn Deutschland um Ignatz Bubis trauerte, die Ereignisse schienen seiner
Sorge, sein Grab könnte in Deutschland geschändet werden, Recht zu geben. Im
Sommer 2000, im sog. Sommerloch, schien auch die weitere Öffentlichkeit zu
verstehen, dass der Rechtsextremismus Realität in Deutschland ist. Aus der
Debatte sind jedoch fast keine wirksamen Ansätze entstanden.
(Ohne) Juden in Deutschland
Für die Juden in Deutschland ist die
Situation seitdem noch um ein vielfaches schwieriger geworden. Seit dem
Erscheinen von Schneiders Dokumentation ist viel passiert, viel zu viel als
dass man sich noch etwas von einer "Normalisierung" vormachen könnte.
Möllemann hat ganze Arbeit geleistet, und auch an seinem Tod sind die Juden
für viele Stammtischredner schuld. Die Affäre um Michel Friedman wird als
weiterer dunkler Punkt in der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland
nach 1945 prangen.
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02-07-03 |