Dirk Ansorge (Hrsg.):
Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt.
Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens
Verlage Bonifatius Paderborn und Otto Lembeck Frankfurt a.M. 2006
Euro 19,90
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Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen
Phänomens:
Unausrottbarer Judenhass
Jährlich erscheinen Hunderte Bücher über den
Antisemitismus. Ein gut lesbarer Sammelband beleuchtet Aspekte des immer
noch grassierenden Vorurteils...
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Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt:
Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens
Ein Sammelband vereint Theologen,
Historiker, Islamwissenschaftler, Soziologen und Journalisten
Von Heimo Gruber
Der vorliegende Sammelband enthält zwölf Beiträge, die
auf zwei Tagungen der Katholischen Akademie des Bistums Essen referiert
wurden. Sowohl die internationale Zusammensetzung, als auch die Spannweite
der professionellen Herkunft und Betrachtungsweisen der Autorenschaft
(Theologen, Historiker, Politologen, Islamwissenschaftler, Soziologen und
Journalisten) bieten eine Vielfalt von differenzierten Ansätzen, das
Phänomen Antisemitismus aufzuschlüsseln.
Die Bereitschaft zum paranoiden Ressentiment, für Miseren
das anonyme oder offene Walten jüdischer Mächte verantwortlich zu machen,
erfreut sich nach wie vor einer gewissen Attraktivität. Freilich haben sich
Terminologie und Perspektiven geändert, will doch kaum jemand nach dem
Holocaust als Antisemit gelten.
Karl Heinz Klein-Rusteberg wählt als Exempel Philip Roths Roman
"Verschwörung gegen Amerika", in dem anhand von Charles Lindbergh der Held
des isolationistischen Amerikas der frühen 40er Jahre vorgeführt wird. Sein
Engagement gegen den Eintritt der USA in den Krieg gegen Nazideutschland
bündelte zugleich mit Erfolg alle antisemitischen Stimmungen gegen jüdische
"Kriegstreiber". Durch die Weite des Ozeans vom Schauplatz des Verbrechens
entfernt, ließ sich unter jenen Gemütern umso leichter glaubhaft machen, es
trügen die Juden und nicht die Nazis die Verantwortung für den Krieg.
Ähnliches wiederholt sich heute in Europa. In einer Meinungsumfrage in 15
EU-Staaten wurde Israel als größte Bedrohung für den Weltfrieden bewertet,
noch "gefährlicher" als Länder wie Iran oder Nordkorea. Daher fragt
Klein-Rusteberg zurecht: "Tritt nicht heute die fundamentale Ablehnung des
Staates Israel auch als Friedensbotschaft auf?"
Derlei Manifestationen, die politisch artikuliert im globalisierten Gewand
eines sich sogar antirassistisch gerierenden "Antizionismus" auftreten, sind
schon längst nicht nur eine Domäne der extremen Rechten. Daher zählt es zu
den großen Stärken des Buches, im Gros der Beiträge die analytische
Aufmerksamkeit auf die historischen Traditionslinien des Antisemitismus
zwischen Okzident und Orient zu lenken. Neben einleitenden Artikeln zur
Begriffsklärung, zum Phänomen des Schuldabwehr-Antisemitismus ("Nicht immer
als Tätervolk dastehen") und zum Verhältnis von Antisemitismus und
Katholizismus am Beispiel Polens, widmen sich die restlichen Beiträge den
Wechselwirkungen zwischen Europa und der arabischen Welt, wo der
Antisemitismus ziemlich unverhüllt auftritt.
Der französische Historiker Bernard Heyberger beschreibt die Rolle
arabischer Christen bei der Vermittlung antisemitischer Stereotypen im
19.Jahrhundert; da jene eher Kontakte zum Westen unterhielten,
transportierten sie die abendländischen Muster der Judenfeindschaft in den
Orient. Erster Höhepunkt war 1840 die spektakuläre Ritualmordbeschuldigung
in Damaskus, die vom Konsul Frankreichs vor Ort unterstützt wurde und dessen
Berichte eine antisemitische Kampagne in der französischen Presse auslösten.
Später waren auch die ersten Übersetzer der "Protokolle der Weisen von Zion"
orientalische Christen gewesen. Wegen deren minoritärer gesellschaftlicher
Position hatte diese Schrift aber einige Zeit noch keine Massenverbreitung
gefunden. Erst 1951 erzielte dieses zentrale Dokument des Judenhasses den
breiten Durchbruch durch die Übersetzung eines Muslims in Ägypten. Damit
begann zu einem Zeitpunkt, als die "Protokolle der Weisen von Zion" in
Europa öffentlich geächtet waren, in der arabischen Welt ein bis heute
anhaltender Siegeszug dieses Traktates, das vom ägyptischen Staatschef
Nasser, vom saudischen König Fahd und dem syrischen Verteidigungsminister
Tlass zur Lektüre empfohlen wurde. Die diesbezüglichen Befunde des
Islamwissenschaftlers Stefan Wild sind erschütternd. Vereinzelte Stimmen
kritischer arabischer Intellektueller können die Popularität der
"Protokolle" nicht erschüttern. Im Gegenteil: Neuerdings sorgen Islamisten
für anhaltende Wirksamkeit – nicht nur durch Aufnahme in die Charta der
Hamas, sondern über den arabischen Raum hinaus durch Verbreitung in Ländern
wie Türkei, Iran, Pakistan, Indonesien bis hin zu muslimischen Immigranten
in Europa. Wild sieht diesen Antisemitismus eng mit dem Nahostkonflikt
verschränkt und nicht in einer originär islamischen Tradition stehend.
Zu einem etwas anderen Befund kommt der Historiker Omar Kamil. Die Wurzeln
von Antisemitismus und Holocaustleugnung in der arabischen Welt reichen bei
ihm bis zur Erfahrung des Kolonialismus zurück: Wurden Juden bis dahin als
"Schutzbefohlene" innerhalb des eigenen Kulturkreises wahrgenommen, so
erscheinen sie später als Teil der Kolonialmächte. Die Fixierung auf die
eigene Opferrolle führt zu einer Wahrnehmungsblockade gegenüber dem
Holocaust.
Einen beeindruckenden Beitrag liefert der Pariser Korrespondent der
österreichischen Tageszeitung "Kurier", Danny Leder, unter dem Titel: "Eine
gefährliche Nachbarschaft? Juden und Muslime in Frankreich". Danny Leders
authentische Wahrnehmungen und Erlebnisse geben den Analysen der anderen
Autoren auf beklemmende Weise reale Gestalt. Frankreich erlebte in den
letzten Jahren eine Welle antisemitischer Gewalttaten, die in einer
besonders bestialischen Ermordung eines jungen Juden kulminierte. Die Täter
waren mehrheitlich Jugendliche aus muslimischen Einwandererfamilien aus
Nord- und Schwarzafrika; ihre Motive siedelt Leder "in einer Grauzone
zwischen emotionaler Strahlwirkung des Nahost-Konflikts, radikal-islamischer
Propaganda, archaischer, aus dem Maghreb herrührender Stigmatisierung der
Juden, sozial-familiärer Verwahrlosung und Jugendgewalt in sozialen
Krisenzonen" an. (S.131) Die Opfer waren mehrheitlich jüdische Zuwanderer
und deren Nachkommen, die nach der Unabhängigkeit der Maghrebstaaten nach
Frankreich übersiedelten. Dort lebten sie mit den arabischen Immigranten aus
jenen Ländern in denselben Wohnvierteln oft Tür an Tür. Ab 2000 setzte ein
Mobbing ein, das sich in aggressiven Alltagsattacken, Brandanschlägen und
Überfällen auf jüdische Einrichtungen, Restaurants, Synagogen und Schulen
entlud. War man anfangs noch geneigt, das als soziales Problem
deklassierter, perspektiveloser Jugendlicher zu sehen, so ist die
antisemitische Stoßrichtung offenkundig. Im populären Komiker M’Bala M’bala
fanden diese Stimmungen ein charismatisches, mediales Sprachrohr. Trotz
etlicher Bemühungen gegen rassistische Diskriminierung, bei denen nicht
zuletzt viele Franzosen jüdischer Herkunft besonders engagiert waren, wurden
die Emotionen mit der infamen Behauptung angeheizt, Juden würden durch
Monopolisierung ihrer Leidensgeschichte den Franzosen mit arabischen und
afrikanischen Wurzeln den Weg zu Anerkennung und Gleichberechtigung
versperren. Juden sind in den Migrantenvierteln meistens in der Minderheit
und fühlen sich von der Geschichte mit demütigenden Erinnerungen an frühere
Lebenssituationen in arabischen Ländern wieder eingeholt.
Den Blick auf Entwicklungen zu schärfen, die ernst genommen werden müssen,
ist das große Verdienst dieses Sammelbandes. Kurzfristig ist wohl keine
Veränderung zum Besseren zu erwarten. Auch der Herausgeber Dirk Ansorge
meint in seinem Fazit, dass die aktuelle Lage leider kaum vermuten läßt,
"dass die in den verschiedenen Beiträgen angesprochenen Herausforderungen
rasch erkannt, entschieden angenommen oder gar gelöst werden." (S.15)
hagalil.com
01-12-07 |