Wolfgang Kraushaar:
Achtundsechzig
Eine Bilanz
Propyläen Verlag, Berlin 2008
Euro 19,90
Reinhard Mohr:
Der diskrete Charme der Rebellion
Ein Leben mit den 68ern
wjs verlag
Berlin 2008
Euro 19,90
Peter Schneider:
Rebellion und Wahn – Mein 68
Eine autobiographische Erzählung
Verlag Kiepenheuer & Witsch
Köln 2008
Euro 19,95
Stefan Wolle:
Der Traum von der Revolte
Die DDR 1968
Christoph
Links Verlag,
Berlin 2008
Euro 19,90 |
1968:
Rebellion der NS-Täterkinder
Neue
selbstkritische Töne, aber viele blinde Flecken
Von Martin Jander
Zum
vierten Mal wird er nun schon begangen, der Geburtstag der 68er in der
Bundesrepublik. Alle 10 Jahre gibt es so etwas wie eine Art
Generationenrückblick der wilden Generation. Bislang hat man und frau sich
fast immer nur auf die Schultern geklopft und sich bestätigt, dass man
selbst der Demokratie in der Bundesrepublik erst richtig auf die Füße
geholfen habe. Dies hat sich am 40. Geburtstag geändert.
Die
neuen Bücher sind zu großen Teilen kritisch, selbstkritisch gehalten. Ihre
Autoren, die meist auch Akteure der wilden Jahre waren, begeben sich meist
nicht nur auf eine Suche nach den Wurzeln des Aufbegehrens, sie suchen neben
ihren inzwischen landauf und landab gewürdigten positiven Folgen, auch die
Ursprünge ihrer problematischen Seiten zu ergründen. Bei vielen
westdeutschen Autoren findet eine neue Rezeption der in den wilden Jahren
häufig vehement zurückgewiesenen Kritiken an der Studentenbewegung und ihren
Autoren statt.
Besonders häufig beziehen die Autoren sich auf Richard Löwenthal. Er hatte
den Studenten in verschiedenen Referaten und Aufsätzen ("Romantischer
Rückfall") bereits am Ende der 60er Jahre zugerufen, es sei ein großer
Unterschied, von wo aus man die Demokratie kritisiere und Veränderungen
einfordere. Wolle man die demokratischen Rechte verteidigen und erweitern
sowie die Institutionen der Demokratie verbessern, dann sei dies nur zu
begrüßen. Attackiere man jedoch die Demokratie lediglich als eine leere
Form, die mehr und mehr mit dem Inhalt eines sich faschisierenden
Polizeistaats ausgefüllt werde und deshalb zerstört werden müsse, dann sähe
er große Gefahren heraufziehen. Jürgen Habermas ("Die Scheinrevolution und
ihre Kinder") und viele andere hatten ähnlich formuliert, waren jedoch
damals nicht gehört oder ihre Ansichten waren von den 68ern als "systemnah"
zurückgewiesen worden. Sie erleben nun in den Büchern zum 40. Geburtstag
eine neue Konjunktur.
Geburtstagsgratulanten
Unter den 68er Geburtstagsgratulanten ist besonders Wolfgang Kraushaar
hervorzuheben. Ihm gelingt es in einem großen Bogen die internationalen –
insbesondere amerikanischen – Wurzeln der 68er Revolte zu charakterisieren
und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede mit dem deutschen Fall plastisch
vor Augen zu führen. Die von Richard Löwenthal u. a. häufig nur am deutschen
Fall wahrgenommenen romantischen Züge der Studentenbewegung macht er dabei
als Teil ihrer Gemeinsamkeiten in allen westeuropäischen Ländern aus.
Ihren Ausgangspunkt deutet er einleuchtend als die schillernde "Woodstock
Nation", die Vorstellung einer vollkommen befreiten neuen Welt und
insbesondere eines sich selbst genießenden Individuums, hier und jetzt und
sofort, die insbesondere bei den amerikanischen 68ern eine große Rolle
spielte, jedoch weit über den Atlantik hinaus ihre große Fangemeinde fand.
Keinem anderen 68er Geburtstagsgratulanten gelingt es wie Kraushaar die
fließenden Übergänge zwischen nur allzu verständlicher Rebellion gegen
überkommene Strukturen und Lebensweisen, utopisch-phantastischen Spielereien
und antidemokratischen bis totalitären Experimenten zu skizzieren.
Peter Schneider
glänzt nicht mit einem großen theoretischen Wurf, ihm ist jedoch ein
beeindruckend persönliches Buch gelungen. Schneider hat sein altes Tagebuch
aus der Schublade gezogen und diskutiert am eigenen Fall die fließenden
Übergänge zwischen Rebellion, spielerisch-ästhetischen Experimenten und dem
Größenwahn antidemokratischer politischer Projekte. Er fasst sein mit vielen
bislang nicht erzählten Details aus der Führungsriege des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes (SDS) gespicktes Buch so zusammen: "Meinen Kindern
sage ich: Es ist nötig (..), gegen selbsternannte Herren der Welt und eine
feige oder übergeschnappte Obrigkeit zu rebellieren. Aber noch mehr Mut
gehört dazu, gegen die Führer in der eigenen Gruppe aufzustehen und zu
sagen: Ihr spinnt! Ihr seid verrückt geworden! – wenn ebendies der Fall
ist."
Reinhard Mohr,
im Unterschied zu Kraushaar und Schneider, kein Zeitzeuge der 68er legt mit
seinem Buch eine Bilanz eines Nachgeborenen vor. Wie viele andere geriet er
fasziniert und überfordert zugleich in die Nachwehen der großen Revolte und
musste seinen Weg finden mit ihren Ansprüchen umzugehen. Seine Bilanz lautet
trotzdem ganz ähnlich wie die von Schneider und Kraushaar. Über ein
Jahrzehnt lang hätten die 68er verzweifelt versucht das historisch gültige
revolutionäre Subjekt zu finden. Sie hätten dabei in rascher Abfolge auf die
Arbeiterklasse, die Dritte Welt, Randgruppen und am Ende auch auf die Natur
gesetzt. "In Wirklichkeit" – so schließt Mohr sein Buch – "war es ganz
einfach. Sie hätten nur sich selbst genauer betrachten sollen. Das
revolutionäre Subjekt war – das Subjekt. Vielleicht aber haben sie ja
geahnt, dass mit der Freiheit des Einzelnen die Probleme erst richtig
anfangen."
Ziemlich anders ist das Buch von Stefan Wolle. In die Kritik der
westdeutschen 68er stimmt er mit ein. Eines der Defizite der West-68er war
ja, dass sie die Situation der 68er Ost fast vollständig aus ihrem Blick
verloren hatten. Die politischen Voraussetzungen für eine
Generationenrevolte, für einen kulturellen Aufbruch, waren – das arbeitet
Wolle gut heraus - in der DDR vollkommen anders. Die
marxistisch-leninistischen Diktaturen Osteuropas boten, da bürgerliche
Rechte und Pressefreiheit nicht existierten, gewissermaßen keinen
Resonanzboden für einen solchen Aufbruch. Die Medien als Transporteure eines
Wandels der Lebensstile und der politischen Provokationen fielen aus.
Trotzdem gab es ein osteuropäisches 68. Es fiel allerdings – ganz ähnlich
wie die verschiedenen 68er Aufbrüche in Westeuropa – sehr verschieden aus.
In
der DDR ist die 68er Erfahrung, neben der Musik und den Klamotten aus dem
Westen, vor allem eine Erfahrung der verweigerten Zustimmung zur
Niederschlagung des Prager Frühlings. Auf eigentümliche Weise blieb diese
Erfahrung – ganz anders als in den anderen osteuropäischen Ländern - in der
DDR verknüpft mit einer Hoffnung darauf, dass der Sozialismus sich doch noch
einmal reformieren könne. Während in Polen, Ungarn der Tschechoslowakei und
anderswo die oppositionellen Intellektuellen nach der Niederschlagung des
Prager Frühlings weitgehend zur Idee der Menschenrechte und der
Zivilgesellschaft umschwenkten, lebte bei den DDR-Dissidenten der Traum vom
Sozialismus mit menschlichem Antlitz weiter. Es war dieser Traum, mit dem
die 68er der DDR den Umsturz von 1989/90 betrieben.
Halbherzige
Selbstkritik
So
kritisch und selbstkritisch die hier vorgestellten Bücher sind, ein
wesentliches Thema behandeln sie meist recht stiefmütterlich. Das besondere
Charakteristikum der west- wie ostdeutschen 68er, die Rebellion der
NS-Täterkinder, berühren die vorgestellten Autoren eher am Rande. Das
verschlungene Ineinander und Durcheinander von Abnabelung und Kontinuität
gegenüber der Generation der Eltern und Großeltern wird im Detail nicht
abgehandelt. Wolfgang Kraushaar hat sich hier mit seinen schon älteren
Beiträgen zu den nationalen und antizionistischen Ambitionen der 68er, die
er in seine Bilanz eingeflochten hat, bislang am weitesten vorgewagt.
Lediglich Götz Aly,
dessen Buch bereits an anderer Stelle in hagalil
vorgestellt wurde, nähert sich diesem Thema.
Stefan Wolle leistet sich den Luxus lediglich die 68er in Westdeutschland
(zu Recht) zu kritisieren, die 68er Ost zeichnet er in einem vollkommen
romantisierten Licht. Aufrecht und tapfer haben sie gefochten. Warum und
wieso bei ihnen bis 1989 die skeptischen Ideen der Zivilgesellschaft und der
Menschenrechte nur so wenig Anklang fanden, ist ihm keine Überlegung wert.
In welcher Weise die 68er im Osten sich von den Verbrechen ihrer Eltern und
Großeltern abzunabeln hatten, ist ihm erst gar kein Thema.
Im
Kern kann man sagen, dass die diesjährigen Geburtstagsreden zu 68 eher auf
die Kritiken der 68er zurückgreifen, die ihre pro- und antidemokratischen
Motive diskutierten. Die Kritiken der deutschen 68er von Dan Diner, Andrei
Markovits, Martin Kloke u. a., die zusätzlich den Antiamerikanismus,
sekundären Antisemitismus und verwandte Phänomene unterstreichen, sind in
den diesjährigen Geburtstagsreden noch nicht so recht angekommen. Vielleicht
ja dann zum 50. Geburtstag? Wir werden sehen.
hagalil.com
27-04-08 |