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Leseprobe
Hallo Sarah - hier ist
Salah
von Susie Morgenstern
»Wir sind sieben«, sagte Salah
stolz, »da hat man immer Gesellschaft. Am Anfang ist Papa allein
gekommen. Er hat uns erzählt, sein Zimmer wäre so klein gewesen, dass es
nur Platz für ein Feldbett gab, aber abends nach der Arbeit wäre er so
müde gewesen, dass er froh war, eine Stelle zu haben, wo er sich
schlafen legen konnte. Er konnte kein Wort Französisch.«
»Genauso wie mein Großvater, als er nach Frankreich kam. Er redete mit
Händen und Füßen oder sprach einfach Polnisch, aber das hat niemand
verstanden.«
Sarah dachte, dass selbst die Polen Opas Polnisch nicht verstünden.
»Meine Großmutter hat es ihm schließlich beigebracht. Aber er behielt
immer einen Akzent. Er sagte Ziege statt Züge. Kann dein Vater jetzt
richtig Französisch?«
»Er kommt so zurecht. Meine Mutter weniger. Sie kennt keine Franzosen,
mit denen sie reden könnte.«
»Und was sprecht ihr untereinander?«, fragte Sarah.
»Zu Hause reden wir Arabisch.«
»Toll«, rief Sarah ganz begeistert. »Ich hab mal Leute Arabisch reden
hören, aber das war für mich wie Chinesisch. Wie sagt man guten Tag?«
»Salem alejkum.«
»Nicht zu fassen, fast wie auf Hebräisch. Scholem alejchem.«
»Kannst du etwa Hebräisch?«, wunderte sich Salah, ein wenig in
Verteidigungshaltung.
Sarah erschrak, denn ohne genau zu wissen warum, schwante ihr daß es
zwischen Juden und Arabern Probleme gab. Sie wollte lieber die Finger
davon lassen.
»Nein, ich hab nur so ein paar Wörter aufgeschnappt.«
Salah war genauso verwirrt. Das
Hebräische machte ihn irgendwie verlegen und ratlos. Er hätte gern mehr
darüber erfahren, doch ohne die noch so junge Freundschaft aufs Spiel zu
setzen. Er hatte schon oft gehört, über Politik solle man nicht reden.
Zwar wusste er nicht, weshalb, aber er hatte Angst, sich die Finger zu
verbrennen. Und vor allem war er nicht sicher, ob Hebräisch etwas
Politisches war. Er wechselte lieber das Thema.
»Was hast du heute gemacht?«
Das war besser als: Hast du einen schönen Tag gehabt? Sarah wusste
genau, wenn sie immer nur nein, einen schlechten antworten würde, blöd
war’s, alles geht mir auf den Wecker, hätten die Fragen kein Ende. Warum
wollten die Leute immer nur nette Geschichten hören? Auf Salahs Frage
konnte sie antworten: Gram-matik, Mathe, Lesen, Pause, Mittagessen,
Physik, Tur-nen. Aber worin unterschied sich dieser Tag von den andern?
»Heute ist der Lehrer mit einem Smoking in die Schule gekommen!«
»Was ist denn das, ein ›Smoking‹?«
»Das ist ein festlicher Anzug, zum Beispiel für eine Hochzeit. Er trug
eine Krawatte, die war voll mit Ini-tialen: C. D., C. D., C. D., C. D.
Sie war hübsch, aber er heißt doch Laurent. Er hat sie sich bestimmt von
einem Freund geliehen für den Tag. Wir könnten ihm eine Krawatte mit
seinen eigenen Initialen zu Weihnachten schenken. Feiert ihr
Weihnachten?«
»Nein, wir haben andere Feste. Und du?«, fragte er.
»Wir auch. Und unheimlich gute.
Jeden Abend zünden wir Kerzen an, acht Tage hintereinander. Ich hasse
Weihnachten. Jeder redet von nichts anderem mehr, die Straßen und
Geschäfte sind geschmückt, die Leute sind ganz aus dem Häuschen, nur für
mich gibt’s nichts, keinen Baum, keine Pantoffeln unterm Bett, keinen
Weihnachtsmann…«
»Da verpasst du nichts Besonderes. Und der Weihnachtsmann, der ist ein
Witz! Es gibt nicht nur einen, sondern Milliarden. Im Dezember steht an
jeder Ecke einer. Einmal hab ich einen gefragt: ›Wie viel Uhr ist es,
bitte?‹«
»Was für ein Einfall, den Weihnachtsmann nach der Uhrzeit zu fragen!«
»Stimmt, aber ich wollte noch Brot kaufen und hatte Angst, zu spät zur
Schule zu kommen.«
»Was hat er geantwortet?«
»›Hau bloß ab, du kleiner Kanake!‹ Er muss den Tag wohl schlechte Laune
gehabt haben.«
»Was ist das, ein Kanake?«
»Das sagen die, die was gegen Ausländer haben.«
»Ah, ich verstehe, so ähnlich wie dreckiger Jude!«
Salah spürte, wie die Politik
sich wieder ins Telefon schlich. Aufgepasst, sagte er sich.
Steinschlaggefahr, Glatteis!
»Warum hatte er denn einen Smoking an?«
»Carole hat ihn gefragt, ob er heute heiraten wollte. Er ist rot
geworden wie eine Tomate. Und Maryse hat gerufen: ›Sind Sie schön, Herr
Laurent!‹«
»Ist sie nett, Maryse?«
»Sie ist das beliebteste Mädchen der Klasse. Immer ist sie nach der
neuesten Mode angezogen. Und -hübsch ist sie. Jeder will mit ihr
befreundet sein. Die Jungen sind in sie verliebt.«
In ihren Träumen malte Sarah sich gern aus, dass die Jungen alle in sie
verliebt wären, in sie, den Star, die Sportskanone, die Prinzessin…
»Ich verstehe«, sagte Salah, ohne wirklich zu verstehen.
»Eine Intellektuelle ist sie nicht gerade, aber sie kann alle
Schlagerstars perfekt nachahmen.«
Salah wusste nicht so genau, was eine Intellektuelle war, aber es musste
irgendwie mit Intelligenz zusam-menhängen und da wusste er Bescheid. Er
hätte gern, dass Sarah wüsste, was die Lehrerin und die Rektorin von ihm
sagen: »Das ist ein intelligenter Junge.« Aber er konnte sich ja
schlecht selber loben. Und es änderte auch nichts an der Sache. Wie sein
Onkel immer sagte: ›Mit ein bisschen Grips und vor allem zwei Francs
fünfzig in der Tasche kannst du dir ein Brot kaufen.‹
»Und du, Sarah, bist du eine Intellektuelle?«
»Hoffentlich! Papa will unbedingt, dass ich das Abi mache, und zwar im
naturwissenschaftlichen Zweig. Also wär das nicht schlecht. Trotzdem
glaub ich, dass ich lieber so hübsch wäre wie Maryse.«
»Du bist ganz bestimmt hübscher als sie«, rief Salah.
Eine merkwürdiges Glücksgefühl rieselte Sarah den Rücken hinunter. Wie
angenehm könnte das Leben sein, wenn man immer nur Dinge hörte, die so
wohltaten wie Streicheln! Aber sie fürchtete, dass das Gegenteil
häufiger der Fall war: Beleidigungen, Verlet-zungen, Vorwürfe. Halb in
Gedanken sagte sie: »Vorgestern habe ich gehört, wie eine ältere Dame
mitten auf der Straße geflucht hat.«
»Wenn jetzt auch schon die alten Leute anfangen zu fluchen…«,
bekräftigte Salah und sagte im Geiste eine Latte Schimpfwörter auf:
Dreckskerl, Arsch, Scheiße.
»Unser Lehrer fängt manchmal den Unterricht damit an oder hört damit
auf, dass er sagt: ›Dummköpfe seid ihr, Idioten…‹«
»Einmal wurde in der Post ein Mann angeschnauzt, weil er sich in die
falsche Reihe gestellt hatte. Er -musste sich jede Menge Beschimpfungen
gefallen lassen.«
»Einmal hat jemand meiner Mutter ›Dumme Kuh!‹ nachgerufen, weil sie sich
bei Grün nicht schnell genug in Bewegung gesetzt hatte.«
Nein, nicht alle Wörter waren schmeichelhaft, ganz und gar nicht.
»Egal wie, unser Lehrer muss verliebt sein. Wenn du ihn gesehen hättest,
wie er dastand, geschniegelt und gestriegelt und ohne seine Brille. Das
ist übrigens ein Rätsel: Wie schafft er es zu sehen, wenn er sie nicht
aufhat? Cathy meint, er trägt Kontaktlinsen.«
»Was ist denn das?«, fragte Salah.
»Das sind unsichtbare Gläser, die man sich ins Auge klemmt.«
»Wie grässlich!«, rief er und rieb sich die Augen.
»Nein, das ist gar nicht so
schlimm«, sagte Sarah. »Meine Mutter hat auch welche. Sie setzt sie
morgens ein und nimmt sie abends zum Schlafen wieder raus. Man gewöhnt
sich sehr schnell daran. Opa behauptete jedenfalls immer, man würde sich
an alles gewöhnen, nur nicht an Auschwitz.«
»Was ist denn das?« Er kam sich langsam vor wie eine Schallplatte mit
einem Sprung: »Was ist denn das? Was ist denn das?«
»Ein Konzentrationslager.«
»Eine Art Feriendorf?«
»Nein. Als Opa zurückkam, erzählte er, die meisten Leute wären tot oder
im Krieg von den Nazis dort umgebracht worden. Es muss schrecklich
gewesen sein. Er hat nicht oft davon gesprochen, nur manchmal, um einen
Witz zu machen, wenn er bei uns etwas Leckeres zum Essen probierte: Er
lachte dann und sagte, das wäre besser als Auschwitz. Ich glaube, das
war eine ganz schlimme Erinnerung, denn er hatte ständig Albträume und
schrie in der Nacht. Aber er war einfach toll, mein Opa.«
Diese Geschichte interessierte Salah sehr, aber er hatte Angst, dass
Krieg und Konzentrationslager mit Politik zu tun hatten. Er wollte
versuchen, in der Bücherei etwas darüber herauszubekommen. Der Krieg,
von dem er immer wieder gehört hatte, war der Algerienkrieg und er
wusste, dass dort fürchterliche Dinge geschehen sein mussten. Aber
meistens vermieden die Erwachsenen das Thema in seiner Gegenwart...
Salah las weiter, und je weiter
er las, desto tiefer sank sein Mut. Er konnte den Text nicht begreifen.
Solange er nur von elektrischem Strom, magnetischen Feldern und
Batterien handelte, ging es noch so eben, aber Wörter wie Widerstand,
Induktion, Oszillograph, Fre-quenz oder Richtfunkstrecke sagten ihm
überhaupt nichts. Er las denselben Satz fünfmal, als wäre er in einer
fremden Sprache geschrieben. Schließlich stellte er das Buch ins Regal
zurück. Die Bibliothekarin sagte: »Es gibt vielleicht ein Was ist was
über Telefone.« Sie zeigte ihm den Katalog mit den Was-ist-was-Bänden.
Aber er hatte das Telefon nun satt.
Plötzlich fielen ihm die
Konzentrationslager ein.
»Haben Sie ein Buch über Konzentrationslager?«
Sie sah ihn mit einem merkwürdigen Gesicht an, und während sie
nachdachte, sagte sie: »Wenn dir der Stil von Die Outsider gefallen hat,
magst du sicher Das Tagebuch der Anne Frank. Die hat zur Zeit des
Zweiten Weltkriegs gelebt.«
Sie reichte ihm ein Buch mit dem Foto eines braunhaarigen Mädchens auf
dem Umschlag. Als er es anschaute, hatte er das Gefühl, dass sie Sarah
ähnelte. Er klemmte es sich unter den Arm und verließ mit gemes-senen
Schritten die Bücherei.
Wieder daheim – wie durch ein Wunder war niemand da – stürzte er sich
auf das Telefon und wählte Sarahs Nummer.
»Hallo«, antwortete eine Stimme, aber Sarahs war es nicht.
»Ich würde gern mit Sarah sprechen.«
»Wer ist am Apparat?«
Irgendetwas hielt ihn davon ab, seinen schönen Namen zu sagen.
»Ein Freund von ihr.«
»Gut, ich werde sie holen.«
»Uff!«, stöhnte Salah auf, als wäre er gerade noch einmal davongekommen.
»Hallo«, sagte Sarah.
»Guten Tag, Sarah. Hier ist Salah. Meint es das Leben heute gut mit
dir?«
»Oh, grüß dich. Wir sind gerade von meiner Großmutter zurückgekommen.
Ich hatte schon Angst, du hättest angerufen, als ich nicht da war.«
»Ich hab eben angerufen und es war niemand da. Geht es ihr gut, deiner
Großmutter? Wo wohnt sie?«
»Nicht weit, in der Avenue Pardo. Wenn man sie fragt, wie es ihr geht,
sagt sie: ›Wie es alten Leuten so geht. Meine Hochform habe ich auf dem
Flohmarkt verloren.‹«
»Ist sie alt?«
»Stell dir vor, wir wissen nicht mal, wie alt sie ist. Sie wurde in
Konstantinopel geboren. Als ihr Haus abbrannte, ging ihre Geburtsurkunde
verloren. Sie kann sich nicht erinnern, wann sie geboren wurde – das
muss sehr lange her sein. Ich glaube, man hat damals die Geburt von
Mädchen noch gar nicht eingetragen.«
»Und du, wann bist du geboren?«
»Am 18. März. Und du?«
»Na, so was! Ich bin auch im März geboren. Ich bin ein Fisch.«
»Glaubst du an Sternzeichen?«, fragte Sarah.
»Jemand hat mir mal gesagt, Fische wären sehr ener-gisch, und das bin
ich«, antwortete Sarah.
»Also, ich bin ein Fisch und für keine zwei Pfennig energisch. Es gibt
Mädchen in meiner Klasse, die glauben an das Horoskop wie an den lieben
Gott.«
»Glaubst du an Gott?«
So eine Frage!, dachte Sarah und suchte nach einer Antwort.
»Oma glaubt an Gott und ich hab sie sehr lieb. Opa glaubte auch an ihn.
Er sagte, als er in Auschwitz war, hätte er versprochen, wenn Gott ihn
da herausholen würde, wollte er den Sabbat einhalten, das heißt die
Samstagsruhe.«
»Was muss man samstags machen?«,
fragte Salah und hatte den Eindruck, dass er durchs Telefon genauso viel
lernen konnte wie durchs Fernsehen oder durch Bücher.
»Frag lieber, was man nicht machen darf! Man darf nicht arbeiten, nicht
schreiben, nicht nähen, nicht stricken, nicht säen, nicht kochen, nicht
Auto fahren und kein Licht anmachen.«
»Dann gehst du samstags also nicht zur Schule?«
»Von wegen! Mit dem Gymnasium im nächsten Jahr! Wir halten den Sabbat
nicht wirklich ein.«
»Und wie isst man am Samstag?«
»Oma bereitet das Essen freitags für zwei Tage vor und isst dann kalt.
Sie sagt, dass sie ganz froh ist, einen Tag nicht in die Küche zu
müssen.«
»Und was darfst du samstags machen?«
»Man darf beten, singen, laufen, nachdenken, in die Synagoge gehen.«
»Hast du damit heute den Tag verbracht?«
»Nein. Heute Nachmittag hab ich bei Oma ferngesehen. Sie lässt uns den
Fernseher einschalten. Eigentlich glaub ich, es ist Zeitverschwendung.«
Ah, diese Intellektuellen!,
dachte Salah.
»Hör mal, ich habe das Buch gelesen, das du mir empfohlen hast, Die
Outsider.«
»Hat es dir gefallen?«, fragte Sarah zögernd, denn es ist immer eine
heikle Sache mit jemandem den Geschmack zu teilen.
»Ja, es hat mir gut gefallen. Deine Mutter hat Recht, Bücher machen der
Phantasie mehr zu schaffen. Darfst du samstags lesen?«
»Natürlich.«
»Aber da muss die Phantasie doch arbeiten.«
»Die Phantasie darf auch, glaube ich.«
»Sag mal«, Salah war zu Mute, als würde er ein ganzes Bergwerk an Wissen
ausschlachten, »wo liegt eigentlich Konstantinopel?«
»Jetzt heißt es Istanbul. Das ist in der Türkei.«
»Bist du schon mal dort gewesen?«, fragte Salah.
»Nein, noch nicht.«
»Wir könnten zusammen dorthin fahren…«, schlug Salah vor.
»Das ist ziemlich weit. Mal sehen.«
»Was für eine Sprache spricht man dort?«
»Türkisch, aber Oma hat in der Schule Französisch gelernt und in der
Familie haben sie Ladinisch gesprochen.«
Er wollte nicht schon wieder fragen: »Was ist denn das, Ladinisch?«
Schon wieder…
»Ist sie froh, dass sie nach Frankreich gekommen ist?«
»Nicht besonders. Sie hatte im Krieg viele Probleme. Sie hat ihre Kinder
weit von sich fortgeschickt, um sie zu schützen. Selbst hat sie sich
versteckt. Sie kann die Zeit nicht vergessen. Wenn sie heute aus dem
Haus geht, schaut sie sich links und rechts um, weil sie glaubt, die
Gestapo würde sie immer noch verfolgen. Und du, bist du froh, dass du in
Frankreich bist?«
»Ach, weißt du, Papa hat Algerien verlassen, weil er dort keine Arbeit
mehr hatte, und wir sind später nachgekommen. Wir hatten keine Wahl. So
langsam geht’s«, schwindelte Salah, denn er wusste ganz genau, wie
schwer es seinen Eltern fiel, sich an das fremde Land zu gewöhnen.
»Sind deine Großeltern auch hier?«
»Nein, sie sind in Algerien. Ich kenne sie eigentlich gar nicht
richtig.«
»Wie schade. Mein Opa kam mich immer von der Schule abholen, die Taschen
voll mit ›guten Sachen‹, wie er sie nannte. Nach seinem Tod hat Papa
einen kleinen Baum im Garten gepflanzt. Der erinnert mich immer an Opa.
Er wächst gut und ich muss oft an Opa denken. Manchmal sehe ich ihn im
Geiste und ein Satz oder ein Witz von ihm fällt mir wieder ein.« ...
Mit freundlicher
Erlaubnis des Verlags
haGalil 13-02-2002
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