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DAS BUCH

Wenn aus Mördern Lämmchen werden

Ein Unbekannter schreibt einen Zeitroman wie Hans Fallada: Bernd Späths «Trümmerkind» ist ein aufregender Solitär in der Bücherlandschaft.

Von Peter Glotz

Fürstenfeldbruck ist eine Kreisstadt nicht weit von München, ein reputierliches Mittelzentrum mit idyllischen Bauerndörfem im westlichen und nach München tendierenden Industrievorstädten im östlichen Landkreis. Es gibt da ein berühmtes Kloster, einen Militärflugplatz und effiziente Einser-Juristen in Trachtenanzügen als Landräte. Kein vernünftiger Mensch könnte sich vorstellen, was gegen diese Stadt zu sagen wäre.

Ausser Bernd Späth, Bäckerssohn aus Fürstenfeldbruck, das die Einheimischen Brück nennen. Der Mann, heute knapp über fünfzig, betreibt inzwischen im Rheinland eine Presse- und Event-Agentur. Jetzt aber hat er seinen Bruckern einen vierhundertseiten-Roman auf den Tisch geknallt, der es ihm schwer machen wird, im «Martha-Bräu» ein Weissbier zu trinken.

Wieder die «Wilhelm Gustloff»

Späths unverfälscht autobiografisch gefärbtes Porträt der kleinen Stadt in den 5oer- und 6oer-Jahren ist das gnadenlose Sittenbild nach-nazistischer Anständigkeit in der deutschen Provinz. Ein wortgewaltiger Bayer beschmutzt sein eigenes Nest. In der Flut artifizieller Kunstprosa, mit der die Buchhandlungen zugeschüttet werden, ist diese gelegentlich ungefüge Anklageschrift ein aufregender Solitär. Späth hat den Schlüsselroman einer schmucken Kreisstadt geschrieben, die nicht ganz so schmuck ist, wie sie sich gibt. Ein spannend geschriebener und gelegentlich auch erschütternder Gesellschaftsroman aus der Perspektive der untersten Mittelschicht einer kleinen bayrischen Stadt in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der Vater der Hauptfigur ist zuerst Bäcker, später Versicherungsmakler; der Sohn kleinster Verhältnisse, dem Hitler mit seinem Krieg fünf Jahre seines Lebens nahm. Nach seinem Tod findet der Sohn eine handschriftliche Notiz: «Da wird man zum Soldaten gemacht und ausgebildet und lernt zu töten und zu töten und zu töten. Und dann ist auf einmal alles vorbei, und man soll plötzlich wieder leben wie ein Lämmchen.» Ein Lämmchen war dieser muskelbepackte Mann, der seinen besoffenen Schwiegervater zwei Treppenabsätze hinaufwerfen konnte, nicht. Reiner Zufall, dass auch er mit der «Wilhelm Gustloff» zu tun hatte, die Günter Grass gerade in den Mittelpunkt seines Vertreibungsromans gestellt hat. Der Bäckermeister Achinger, der Hunderte von treibenden Leichen um die «Wilhelm Gustloff» herum hatte aufsammeln müssen, wurde diesen Krieg nie wieder los. Aber eben auch nicht den Hass auf die Juden, die an all dem Schuld waren, den Hass auf die Amerikaner, die ihn bei seiner Rückkehr aus dem Krieg auf irgendeinem Bahnhof halb tot geschlagen hatten, den Hass auf die Mörder seiner Kameraden, die mit 19 Jahren von irgendwelchen Flammenwerfern getötet wurden.

Späth beginnt seinen Roman aus der Perspektive des vier-, fünfjährigen Kindes in den 50er Jahren. Juden gibt es in Fürstenfeldbruck nicht mehr. Aber der Roman beginnt mit dem Satz: «Über den Jud an sich, net war, also da hatten sie mich ja frühzeitig informiert.» Einen einzigen Juden lernt er schliesslich kennen, den Besitzer eines Hosengeschäftes. Der ist liebenswürdig. Aber wo ist seine Familie? Niemand weiss es. «Mei, war das ein Elend», hatte die Oma des Erzählers irgendwann erzählt. Die Nazis hatten noch im April 1945 die Gefangenen aus dem Lager Kaufering durch Fürstenfeldbruck getrieben. «I hab sofort d' Vorhäng' zug'macht! Jessgus naa, ja so ein Elend. Na, na, na!» Vergangenheitsbewältigung in Fürstenfeldbruck, man machte die Vorhänge zu.

Kinder mit Waffen

Auch Flüchtlinge wurden in dieser Stadt einquartiert. In der Regel lebten sie, jedenfalls kurz nach dem Krieg, in einer besonderen Siedlung. Die sanitären Verhältnisse waren - wie oft in diesen Jahren, und nicht nur in Fürstenfeldbruck - katastrophal. Das rührte dazu, dass die Kinder gelegentlich stanken. Wer aber stank, wurde verprügelt. Fünf Einheimische gegen einen Flüchtlingsjungen, wenn sie ihn irgendwo gefahrlos erwischen konnten. So ein Junge wurde schnell zum «Loser». Eines der Kapitel Späths, «Loser Luttenwang», ist ein Kabinettstück über die Verrohung eines Menschen. Der Schulfreund des Erzählers, der bald den Spitznamen Loser bekommt und immer wieder verprügelt worden war, wird natürlich für einige Zeit zum Anführer einer Gang von Halbwüchsigen, die andere Kinder zusammenschlagen, bis ihre Gesichter nur eine blutige Masse sind. Späths Bericht über einen Konflikt mit dieser Bande ist ein Stück bedeutender Literatur. Loser Luttenwang schlägt den zitternden Erzähler, der sich endlich wieder auf irgendein Tanzvergnügen getraut hat und eine Gaspistole in der Tasche trägt, nicht zusammen. Er erinnert sich daran, dass die beiden jetzt vielleicht Siebzehnjährigen als Fünfjährige miteinander freundlich gespielt hatten. Das allerdings führt dazu, dass er endgültig ein Loser wird. Er verliert den Anführerstatus in seiner Gruppe.

«Trümmerkind» ist
auch ein Beitrag zur
empirischen Pädagogik
- von ganz unten.

Wie Späth schildert, was in dem reputierlichen Gymnasium der Stadt damals schon stattfand, wie Kinder angsterfüllt durch die Stadt schlichen, weil sie nicht wussten, ob an der Ecke nicht irgendwelche Schläger warteten und dass es Klassen gab, in denen - wir schreiben die frühen 60er-Jahre - schon damals viele Kinder mit Waffen herumliefen, ist ein erhellender Beitrag zur empirischen Pädagogik und von ganz unten.

Natürlich, vom Standpunkt der professionellen Literaturkritik kann man manches gegen Späths Roman einwenden. Die eindrucksvolle Kindheitsgeschichte in der ersten Hälfte könnte ohne weiteres um 80 Seiten kürzer sein. Manche Liebesszenen sind entgleist. Gelegentlich schleichen sich «kardiale Befunde» und «weltanschauliche Fundamentalisten» in den Text. Keine Rede von Handkes Sprachdisziplin oder von Walsers Fähigkeit, eine kleinbürgerliche Suada als inneren Monolog zu präsentieren. Nur ist die Schilderung, wie sich der in einem Altenheim im Dorf Jesenwang dahindämmernde Opa, inzwischen fast blind, an irgendwelchen Lattenzäunen entlangtastet, um Tag für Tag noch ins Wirtshaus zu kommen, genauso erschütternd wie die Erzählung von dem Kind, das mit seinem Dreirad durch Brück fuhr, um die Mutter zu suchen, die dem Vater mit einem Kapitän davongelaufen war. Mit Feuchtwangers «Erfolg» kann man Späths «Trümmerkind» nicht vergleichen, wohl aber mit ein paar Texten von Hans Fallada oder August Kühn. An der Uni München gibt es einen Lehrstuhl für bayrische Literaturgeschichte. Späth hat den Studierenden an diesem Institut neuen Stoff geliefert, spannenden Stoff.

tagesanzeiger, zürich, 12-03-02

Bernd Späth: Trümmerkind. Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach 2002.420 S; 42 Fr.
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hagalil.com 17-06-02











 

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