Marcel Reich-Ranicki, als polnischer Jude geboren, ist der einflussreichste
deutsche Literaturkritiker. Er ist ein Meister des direkten Worts, da kennt
er keine Kompromisse. Aber über seine eigene Lebensgeschichte, die
Glücksmomente und Katastrophen in seiner Biographie, hat er nur selten und
meist einsilbig gesprochen.
Seitdem er unter dem denkbar schlichten Namen "Mein Leben"
seine Erinnerungen veröffentlicht hat, sind alle, die ihn als
Meinungshelden und Fernsehgröße kennen, verblüfft: Ein Mann im Schatten
einer mörderischen Geschichte enthüllt sich.
Marceli Reich kam mit neun zu Verwandten nach Berlin. Er durchlief in
der Nazizeit das preußische Gymnasium bis zum Abitur, hatte freilich
Lehrer, die sich trotz brauner Gesinnung korrekt verhielten.
Nach den Novemberpogromen 1938 wurde er ausgewiesen, später wie
400.000 andere Juden ins Warschauer Ghetto gesteckt. Er überlebte knapp
und konnte mit seiner Frau Teofila den Schergen entfliehen. Bis zur
Ankunft der Roten Armee fand er ein Versteck bei Polen, die er mit
Kurzfassungen von Romanen und Theaterstücken unterhielt.
Nach dem Krieg wurde er Diplomat bei der Botschaft in London,
erledigte Aufträge des polnischen Geheimdienstes und erfuhr in seinem
Geburtsland die jähen Umbrüche an sich selbst: ein Berufsfeld als
Literaturkritiker und dann wieder Publikationsverbot. 1958 floh er in
die Bundesrepublik Deutschland und erlebte, als Kritiker der Zeit
und der Welt, als Literaturchef der FAZ, als Mitglied der
Gruppe 47 seinen beispiellosen Aufstieg. Aber er blieb nach eigenem
Verständnis ein Außenseiter: "Wer, zum Tode verurteilt, den Zug zur
Gaskammer aus nächster Nähe gesehen hat, der bleibt ein Gezeichneter -
ein Leben lang", schreibt er in seiner Autobiographie. Heimisch ist er
in der Literatur, in den Büchern; Sie bilden das Überlebensmittel, sie
sind der Schutzwall, das geheime Vaterland.
Unprätentiös und mit gemessener Sachlichkeit, distanziert auch gegen
sich selbst, erzählt Marcel Reich-Ranicki aus seinem Leben, von
Bitternis, Gefahren, Absurditäten, Brüchen und Ausweglosigkeiten.
Mein Leben - das ist die stilsichere Bilanz eines Mannes, der sich
mit seinen achtzig Jahren als Souverän sehen kann.