Leseprobe:
Marcel Reich-Ranicki - Mein Leben
Ist ein Traum
Es ist der 12. März 1999,
Tosias Geburtstag, der Tag, an dem ihr achtzigstes Lebensjahr beginnt.
Wir sind allein, es ist sehr still, ein später Nachmittag. Sie sitzt,
wie immer, auf dem schwarzen Sofa vor einer unserer Bilderwände, hinter
ihr die Porträts von Goethe, Kleist, Heine und Fontane, von Thomas Mann,
Kafka und Brecht. Auf dem Schränkchen neben dem Sofa stehen einige
Fotos: Andrew, mein Sohn, jetzt fünfzig Jahre alt, nach wie vor
Professor der Mathematik an der Universität von Edinburgh, und Carla,
seine Tochter, bald zwanzig Jahre alt, Studentin der Anglistik an der
Universität von London.
Ich sitze Tosia gegenüber und
tue nichts anderes als das, womit ich einen beträchtlichen Teil meines
Lebens verbracht habe: Ich lese einen deutschen Roman. Aber ich kann
mich nicht recht konzentrieren und lege das Buch auf den niedrigen
Tisch. Für einen Augenblick trete ich auf unseren großen, viel zu selten
benutzten Balkon. Das Wetter ist freundlich und angenehm, die Sonne geht
unter, es ist ein schönes, vielleicht, wie üblich, ein etwas zu schönes,
ein gar zu feierliches Schauspiel. Ich kann mich nicht erinnern, von
diesem Balkon aus, obwohl wir hier schon über 24 Jahre wohnen, einen
Sonnenuntergang gesehen zu haben. Ist mir Natur etwa gleichgültig? Nein,
gewiß nicht. Aber mir ergeht es wie manch einem deutschen Schriftsteller
- sie langweilt mich rasch. Auch jetzt werde ich etwas unruhig und kehre
unschlüssig ins Wohnzimmer zurück.
Tosia liest ein polnisches
Buch, es sind Gedichte von Julian Tuwim. Ganz leise setze ich mich hin,
ich will sie nicht stören. Sucht sie in der Lyrik ihre, unsere Jugend?
Bald werden es sechzig Jahre sein, daß wir zusammen sind. Immer wieder
haben wir versucht, unsere Trauer zu vergessen und unsere Angst zu
verdrängen, immer wieder war die Literatur unser Asyl, die Musik unsere
Zuflucht. So war es einst im Getto, so ist es bis heute geblieben. Und
die Liebe? Ja, es gab Situationen, unter denen Tosia viel gelitten hat.
Es gab auch, weit seltener freilich, Situationen, unter denen ich
gelitten habe. In seinem »Tristan« schrieb vor etwa achthundert Jahren
Gottfried von Straßburg: »Wen nie die Liebe leiden ließ, / dem schenkte
Liebe niemals Glück.« Wir haben viel Leid erfahren, und viel Glück wurde
uns geschenkt. Doch was auch geschah, an unserer Beziehung hat es nichts
geändert, nichts.
Es ist immer noch ganz still,
man hört kaum einen Hauch. Tosia blickt vom Buch auf und sieht mich an,
lächelnd und fragend, als würde sie spüren, daß ich ihr etwas
mitzuteilen habe. »Weißt du, jetzt, auf unserem Balkon, als die Sonne
unterging, da ist mir eingefallen, womit ich das Buch abschließen
werde.« »Ja«, sagt sie erfreut und will wissen: »Womit?« »Mit einem
Zitat.« Ich schweige, sie lächelt wieder, diesmal, wie mir scheint, mild
ironisch: »Und du meinst, daß mich das überrascht? Also los: Was
zitierst Du?« »Ein schlichtes Wort von Hofmannsthal« - antworte ich. Sie
wird etwas ungeduldig: »Ja, aber was denn nun? Verrat' es mir doch
endlich.« Ich zögere einen Augenblick, dann sage ich: »Also enden soll
das Buch mit den Versen:
Ist ein Traum, kann nicht
wirklich sein,
daß wir zwei beieinander sein.«
Marcel Reich-Ranicki:
Ein
Leben für die Literatur |