Ruth Ellen Gruber, Virtually Jewish: Reinventing
Jewish Culture in Europe. University of California Press, Berkeley
2002
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"Europa ohne Juden"
betitelte der britische Historiker Bernard Wasserstein vor wenigen
Jahren sein Buch über den Untergang des europäischen Judentums.
Aufgrund demographischer Entwicklungen kommt er zu dem Schluss, in
ein paar Jahrzehnten wird der europäische Kontinent, von wenigen
kleinen Inseln abgesehen, "judenfrei" werden. Heute leben zwischen
Ural und Atlantik bereits weniger als zwei Millionen Menschen
jüdischen Glaubens – vor dem Zweiten Weltkrieg waren es noch an die
zehn Millionen. Trotzdem ist das
Judentum in Europa präsent wie nie zuvor. In Berlin kann man im
Jüdischen Museum seine Kulturleistungen bewundern, in Krakau
Klesmermusik in allen Varianten hören, in Prag neben dem alten
Friedhof tönerne Golemfiguren erwerben. Es ist freilich kein
lebendiges, sondern ein virtuelles Judentum, das hier dargeboten
wird. Über ein halbes Jahrhundert, nachdem der Großteil der
europäischen Juden ermordet wurde, ist ihre Kultur präsenter als
jemals zuvor. Es ist, als ob das Neue Europa, das auf dem Abgrund
von Auschwitz aufgebaut ist, mit aller Gewalt eine gähnende Leere zu
füllen suchte. Nicht nur die Untat selbst, sondern die durch sie
weitgehend vernichtete Kultur steht in den letzten Jahren im
Mittelpunkt europäischer Erinnerungspolitik. Neben Holocaustmuseen
und Mahnmalen gibt es vielerorts Ausstellungen zur jüdischen
Geschichte, jüdische Kulturwochen und jüdische
Spezialitätenrestaurants.
Erstmals wird dieses Phänomen nun systematisch
dargestellt. Ruth Grubers ausgezeichnete Studie wird seinen
verschiedensten Ausdrucksformen gerecht, ohne sie lächerlich machen
zu wollen oder sie zu glorifizieren. Sie beschreibt eine
"nichtjüdische jüdische Kultur", die heute bereits von vielen –
mitunter auch von Juden selbst – für das wahre Judentum gehalten
wird. Dass sich dabei Abgründe der – nicht immer erheiternden –
Ironie auftun, erzählt Gruber anhand zahlreicher Beispiele.
Kommerzialisierung ist selbstverständlich immer
mit von der Partie. Hierzu gehört, dass man im Prager
Golem-Restaurant "Rabbi Löw Beefsteaks" erhält, die mit Schinken,
Käse und Ketchup serviert werden. Unkoscher essen kann man aber auch
im Maimonides-Pub in Cordoba oder im Glanze der golden strahlenden
Kuppel in Berlins Oranienburger Straße. In Krakaus ehemals jüdischem
Viertel Kazimiersz kann man am Freitag Abend zum Pseudo-Gefilten
Fisch auch noch den falschen Klesmern lauschen und sich am nächsten
Morgen statt in die Synagoge auf die "Schindler’s List – Tour"
begeben, wo man eine aus falschen jüdischen Grabsteinen gepflasterte
Straße beschreitet. Oder wie wäre es mit einer der in Venedig
angebotenen, mitunter antisemitisch anmutenden, jüdischen
Fiedlerkarikaturen aus Muranoglas? Welcome to Jewish Disney World!
Die Gründe für diese Verkitschung jüdischer
Kultur, als deren Mittelpunkte Gruber Deutschland, Tschechien, Polen
und Italien identifiziert, sind vielfältig und durchaus nicht immer
als kommerziell oder naiv abzutun. Dahinter verbirgt sich nicht
selten ein echtes Interesse an einem verlorengegangen Teil der
eigenen Welt, der ernsthafte Versuch, sich mit der jüngsten
Vergangenheit auseinanderzusetzen wie auch das Bedürfnis, jüdische
Kultur nicht nur als etwas Nekrophiles, sondern als etwas Lebendiges
und Freudiges zu empfinden.
Europa benötigt die Juden, die über Jahrhunderte
sein Wesen geprägt haben. Wenn sie nicht mehr vorhanden sind, dann
muss zumindest eine symbolische Präsenz hergestellt werden. Neben
dem durch den Holocaust zerstörten jüdischen Erbe lässt sich auch
gleich wieder die von der mittelalterlichen Kirche und der
spanischen Inquisition ausgelöschte Vergangenheit zurückholen. Im
slowenischen Maribor, wo es seit Jahrhunderten keine Juden mehr gab,
wurde eine mittelalterliche Synagoge, die schon 1502 in eine Kirche
umgewandelt wurde, unlängst zu einem jüdischen Museum. Und in
Palermo, das die Juden wie in ganz Sizilien im Zuge der Vertreibung
aus den spanischen Territorien 1492 verlassen mussten, wurden
kürzlich Straßenschilder mit hebräischen Buchstaben angebracht.
Eine in allen Details beschriebene Ausdrucksform
der virtuellen jüdischen Kultur ist das unstillbare Bedürfnis nach
Klesmermusik, in Deutschland am liebsten "Kletzmer" ausgesprochen.
Kaum eine Ausstellungseröffnung mit der entferntesten jüdischen
Thematik, kaum eine Preisverleihung im Rahmen einer
Versöhnungsveranstaltung ohne Klesmermusik, die sich dann oft auch
tatsächlich wie Kletzmermusik anhört. In jüdischen Kreisen erzählt
man gerne: "Was ist der Unterschied, zu einer jüdischen oder
nichtjüdischen Party eingeladen zu werden? Bei den nichtjüdischen
Gastgebern wird garantiert Klesmermusik gespielt."
Friedhof mit Spielplatz
"Es ist, als ob die Seele noch lebt, nachdem der
Körper bereits tot ist", beschreibt eine deutsch-jüdische Emigrantin
nach einem Besuch in ihrer einstigen Heimat ihren Eindruck von der
Popularität jüdischer Kultur an einem Ort, an dem heute keine Juden
mehr leben. Und der nichtjüdische Direktor des alljährlichen
Klesmerfestivals in Krakau meint, das Festival sei für ihn wie das
Sagen des Kaddisch, des zum Andenken des Verstorbenen an dessen
Todestag gesprochenen Gebets. Wenn regelmäßig jüdische Jugendgruppen
aus Israel oder den USA unter dem Motto "March of the Living" von
Konzentrationslager zu Jüdischem Museum schreiten, dann ist für sie
Europa nichts anderes als ein immenser jüdischer Friedhof, mit einem
kleinen Spielplatz daneben.
Bei aller Freude über ein neueröffnetes Jüdisches
Museum darf man die Worte des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden
Italiens nicht vergessen: "Es ist, als ob wir zwei entgegengesetzte
Entwicklungen beobachten: die Zahl der jüdischen Museen nimmt zu,
während die jüdischen Gemeinden langsam verschwinden." Manchmal
entsteht durch die Fülle an jüdisch-kulturellem Angebot der
irrtümliche Eindruck, es gebe ein vibrierendes jüdisches Leben in
einem plötzlich wiederaufgetauchten "Mitteleuropa", gar
Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Juden in Ländern, die
gerade einmal zehntausend oder dreißigtausend jüdische Einwohner
aufweisen. Aber letztlich spielt es vielleicht gar keine Rolle, ob
sich Bernard Wassersteins pessimistische Prognose bewahrheitet oder
nicht – die durch den Holocaust entstandene Leere wird auch ohne
Juden gefüllt werden. |