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Die Popularität der virtuellen jüdischen Kultur:
Jewish Disney World

Von Michael Brenner
Süddeutsche Zeitung, 03.08.02

 
Ruth Ellen Gruber, Virtually Jewish: Reinventing Jewish Culture in Europe. University of California Press, Berkeley 2002
Euro 34,63

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"Europa ohne Juden" betitelte der britische Historiker Bernard Wasserstein vor wenigen Jahren sein Buch über den Untergang des europäischen Judentums. Aufgrund demographischer Entwicklungen kommt er zu dem Schluss, in ein paar Jahrzehnten wird der europäische Kontinent, von wenigen kleinen Inseln abgesehen, "judenfrei" werden. Heute leben zwischen Ural und Atlantik bereits weniger als zwei Millionen Menschen jüdischen Glaubens – vor dem Zweiten Weltkrieg waren es noch an die zehn Millionen.

Trotzdem ist das Judentum in Europa präsent wie nie zuvor. In Berlin kann man im Jüdischen Museum seine Kulturleistungen bewundern, in Krakau Klesmermusik in allen Varianten hören, in Prag neben dem alten Friedhof tönerne Golemfiguren erwerben. Es ist freilich kein lebendiges, sondern ein virtuelles Judentum, das hier dargeboten wird. Über ein halbes Jahrhundert, nachdem der Großteil der europäischen Juden ermordet wurde, ist ihre Kultur präsenter als jemals zuvor. Es ist, als ob das Neue Europa, das auf dem Abgrund von Auschwitz aufgebaut ist, mit aller Gewalt eine gähnende Leere zu füllen suchte. Nicht nur die Untat selbst, sondern die durch sie weitgehend vernichtete Kultur steht in den letzten Jahren im Mittelpunkt europäischer Erinnerungspolitik. Neben Holocaustmuseen und Mahnmalen gibt es vielerorts Ausstellungen zur jüdischen Geschichte, jüdische Kulturwochen und jüdische Spezialitätenrestaurants.

Erstmals wird dieses Phänomen nun systematisch dargestellt. Ruth Grubers ausgezeichnete Studie wird seinen verschiedensten Ausdrucksformen gerecht, ohne sie lächerlich machen zu wollen oder sie zu glorifizieren. Sie beschreibt eine "nichtjüdische jüdische Kultur", die heute bereits von vielen – mitunter auch von Juden selbst – für das wahre Judentum gehalten wird. Dass sich dabei Abgründe der – nicht immer erheiternden – Ironie auftun, erzählt Gruber anhand zahlreicher Beispiele.

Kommerzialisierung ist selbstverständlich immer mit von der Partie. Hierzu gehört, dass man im Prager Golem-Restaurant "Rabbi Löw Beefsteaks" erhält, die mit Schinken, Käse und Ketchup serviert werden. Unkoscher essen kann man aber auch im Maimonides-Pub in Cordoba oder im Glanze der golden strahlenden Kuppel in Berlins Oranienburger Straße. In Krakaus ehemals jüdischem Viertel Kazimiersz kann man am Freitag Abend zum Pseudo-Gefilten Fisch auch noch den falschen Klesmern lauschen und sich am nächsten Morgen statt in die Synagoge auf die "Schindler’s List – Tour" begeben, wo man eine aus falschen jüdischen Grabsteinen gepflasterte Straße beschreitet. Oder wie wäre es mit einer der in Venedig angebotenen, mitunter antisemitisch anmutenden, jüdischen Fiedlerkarikaturen aus Muranoglas? Welcome to Jewish Disney World!

Die Gründe für diese Verkitschung jüdischer Kultur, als deren Mittelpunkte Gruber Deutschland, Tschechien, Polen und Italien identifiziert, sind vielfältig und durchaus nicht immer als kommerziell oder naiv abzutun. Dahinter verbirgt sich nicht selten ein echtes Interesse an einem verlorengegangen Teil der eigenen Welt, der ernsthafte Versuch, sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinanderzusetzen wie auch das Bedürfnis, jüdische Kultur nicht nur als etwas Nekrophiles, sondern als etwas Lebendiges und Freudiges zu empfinden.

Europa benötigt die Juden, die über Jahrhunderte sein Wesen geprägt haben. Wenn sie nicht mehr vorhanden sind, dann muss zumindest eine symbolische Präsenz hergestellt werden. Neben dem durch den Holocaust zerstörten jüdischen Erbe lässt sich auch gleich wieder die von der mittelalterlichen Kirche und der spanischen Inquisition ausgelöschte Vergangenheit zurückholen. Im slowenischen Maribor, wo es seit Jahrhunderten keine Juden mehr gab, wurde eine mittelalterliche Synagoge, die schon 1502 in eine Kirche umgewandelt wurde, unlängst zu einem jüdischen Museum. Und in Palermo, das die Juden wie in ganz Sizilien im Zuge der Vertreibung aus den spanischen Territorien 1492 verlassen mussten, wurden kürzlich Straßenschilder mit hebräischen Buchstaben angebracht.

Eine in allen Details beschriebene Ausdrucksform der virtuellen jüdischen Kultur ist das unstillbare Bedürfnis nach Klesmermusik, in Deutschland am liebsten "Kletzmer" ausgesprochen. Kaum eine Ausstellungseröffnung mit der entferntesten jüdischen Thematik, kaum eine Preisverleihung im Rahmen einer Versöhnungsveranstaltung ohne Klesmermusik, die sich dann oft auch tatsächlich wie Kletzmermusik anhört. In jüdischen Kreisen erzählt man gerne: "Was ist der Unterschied, zu einer jüdischen oder nichtjüdischen Party eingeladen zu werden? Bei den nichtjüdischen Gastgebern wird garantiert Klesmermusik gespielt."

Friedhof mit Spielplatz

"Es ist, als ob die Seele noch lebt, nachdem der Körper bereits tot ist", beschreibt eine deutsch-jüdische Emigrantin nach einem Besuch in ihrer einstigen Heimat ihren Eindruck von der Popularität jüdischer Kultur an einem Ort, an dem heute keine Juden mehr leben. Und der nichtjüdische Direktor des alljährlichen Klesmerfestivals in Krakau meint, das Festival sei für ihn wie das Sagen des Kaddisch, des zum Andenken des Verstorbenen an dessen Todestag gesprochenen Gebets. Wenn regelmäßig jüdische Jugendgruppen aus Israel oder den USA unter dem Motto "March of the Living" von Konzentrationslager zu Jüdischem Museum schreiten, dann ist für sie Europa nichts anderes als ein immenser jüdischer Friedhof, mit einem kleinen Spielplatz daneben.

Bei aller Freude über ein neueröffnetes Jüdisches Museum darf man die Worte des Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden Italiens nicht vergessen: "Es ist, als ob wir zwei entgegengesetzte Entwicklungen beobachten: die Zahl der jüdischen Museen nimmt zu, während die jüdischen Gemeinden langsam verschwinden." Manchmal entsteht durch die Fülle an jüdisch-kulturellem Angebot der irrtümliche Eindruck, es gebe ein vibrierendes jüdisches Leben in einem plötzlich wiederaufgetauchten "Mitteleuropa", gar Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Juden in Ländern, die gerade einmal zehntausend oder dreißigtausend jüdische Einwohner aufweisen. Aber letztlich spielt es vielleicht gar keine Rolle, ob sich Bernard Wassersteins pessimistische Prognose bewahrheitet oder nicht – die durch den Holocaust entstandene Leere wird auch ohne Juden gefüllt werden.

Virtually Jewish:
Reinventing Jewish Culture in Europe

Zum Weiterlesen:

hagalil.com 07-08-02











 

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