Leseprobe:
Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom
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Durch Bagdad fließt ein
dunkler Strom
von Mona Yahia im Eichborn-Verlag
Frankfurt 2002, 432 Seiten, 22 Euro
Übersetzung: Susanne Aeckerle
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Rezension]
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Purim
Im sechsten Jahrhundert v. Chr. fällt Judäa an Nebukadnezar. Der
Tempel wird zerstört, und alle Juden werden in die
Gefangenschaft nach Babylon geführt. Fünf Jahrzehnte später wird
Babylon wiederum von den Persern erobert. Kyrus der Große
erlaubt den jüdischen Gefangenen, nach Jerusalem zurückzukehren
und den Tempel wieder aufzubauen. Aber Persien ist tolerant, und
die Juden sind wohlhabend und assimiliert. Also bleiben sie in
Babylonien und schicken Geld für den Wiederaufbau des Tempels in
Jerusalem.
Kann sich jemand eine jüdische Königin in der Diaspora vorstellen?
Das konnte nur in Susa geschehen, der Hauptstadt von Persien,
als König Ahasverus sich in die schöne Esther verliebte und sie
heiratete.
Ohne sich nach ihrem Herkommen zu erkundigen.
Persien ist reich und liberal, und Mordechai, Esthers Onkel, ist
ein treuer Beamter des Königs. Aber er ist auch vorsichtig. Er
rät Esther, ihre wahre Identität zu verbergen und über die
Familienbande Schweigen zu bewahren.
Falls sich der Wind dreht. Falls Schwierigkeiten an die Tür der
Geschichte klopfen.
Sein Name ist Haman. Er ist das personifizierte Böse und gerade
zum Großwesir ernannt worden. Mordechai ist nicht bereit, sich
vor ihm zu verbeugen. Haman ist beleidigt. Mordechai ist nicht
nur ein Verräter, flüstert Haman dem König ins Ohr, alle Juden
sind eine Gefahr für das persische Reich. Eine verrückte
Behauptung, aber Ahasverus hört zu. Nicht nur Mordechai sollte
gehängt, sondern alle Juden müssen vernichtet werden. Der
Vorschlag eines Fanatikers, aber der König stimmt zu.
Mordechai drängt Esther, sich für ihr Volk einzusetzen. Sie
zögert. Die Königin hat sich nicht in die Angelegenheiten des
Königs einzumischen. Mordechai gibt nicht nach, die Gefahr ist
äußerst drohend. Esther verzweifelt. Der König läßt jeden
hinrichten, der unaufgefordert seinen Thronsaal betritt.
Mordechai erinnert sie daran, daß ihr Schicksal mit dem ihres
Volkes verbunden ist. Haman lost den richtigen Tag für die
Ausrottung der Juden aus. Esther wendet sich an den König.
Mordechai fastet und betet. Esther nutzt ihre Schönheit, um des
Königs Augen zu öffnen. Haman ist derjenig der am nächsten
Morgen gehängt wird, nicht Mordechai. Esther hat ihr Leben
eingesetzt und ihr Volk vor der Vernichtung bewahrt.
— Und deshalb nennen wir das Fest Purim, was Losen bedeute erklärt
Ustad Heskel, so wie er es jedes Jahr tut, nachdem er die
Geschichte von der wunderschönen Esther, dem frommen Mordechai
und dem bösen Haman erzählt hat, als wären sie Figuren aus dem
Kasperletheater.
- Das Buch Esther zeigt die Verwundbarkeit der Juden in der
Diaspora. Egal, wie sicher ihre Lage zu sein scheint, sie ...
Und wie jedes Jahr übertönt die Schulglocke die Moral von Purim,
zwanzig Sekunden lang durchdringendes Klingeln, das
fünfundzwanzig Klassen von der Tyrannei des Unterrichts befreit.
Keine Autorität, nicht mal eine biblische, kann die Kinder nach
de Klingeln noch bändigen. Die kleinen Wilden bewerfen sich mit
Kreide und Dattelkernen und brüllen aus vollem Hals. Ustad
Heskel streicht sich den weißen, drei Wochen alten Bart, der ihn
wie einen ständig trauernden Juden aussehen läßt. Nur durch die
abrupte Wildheit der Kinder merkt er, daß seine Zeit um ist. Er
ist in letzter Zeit fast taub geworden und hört nicht mal die
Schulglocke. Ein hebräisches Gebetbuch fällt zu Boden. Er will
losschimpfen aber der Schüler hebt das Buch auf, küßt es und
steckt es in seinen Ranzen.
Ustad Heskel setzt seine sidarah auf, die Kopfbedeckung, die
heutzutage nur noch ältere Juden tragen. Das Klassenzimmer ist
bereits leer. Er lächelt. An Purim soll es fröhlich zugehen. Das
Fest der Mjellah gehört schließlich den Kindern. Zwei Tage lang
dürfen sie das tun, was Esther tat — um hohe Einsätze spielen.
Sein Kopf wackelt. Er kann seine Halsmuskeln nicht mehr richtig
kontrollieren, aber er geht immer noch aufrecht, ein alter
ustad, wie die Kinder ihn nennen, der älteste aller Lehrer,
Vater des Jahrhunderts.
Als das Jahrhundert geboren wurde, erzählt man, hat ustad Heskel
seinen Vater, den Rabbi, gebeten, ihn nicht auf die Jeschiwa zu
schicken, sondern auf die Oberschule, wie die anderen Jungen aus
der Nachbarschaft. Der Wunsch des Jungen hat den Vater
geschmerzt. Doch wie konnte der Junge nur in jeder Glühbirne
einen kleinen Messias sehen und das Herz seines Vaters nicht
brechen?
Als das Jahrhundert acht Jahre alt war, macht ustad Heskel seinen
Oberschulabschluß. Im Oktober desselben Jahres erklärten die
Jungtürken alle Untertanen des osmanischen Reiches, Moslems und
Andersgläubige, zu gleichberechtigten Bürgern, die gleich zu
behandeln seien.
Waren die Osmanen wirklich bereit, das islamische Recht der
dhimmis – der geschützten, gesellschaftlich niedriger stehenden
religiösen Minderheiten – gegen solche Begriffe wie Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit auszutauschen? Ustad Heskel hatte
allen Grund, das zu fragen.
Seine Begegnung mit der Gleichheit begann mit einem Nachteil, der
Einberufung zum Militär. Mitten im Ersten Weltkrieg wurde er in
eine Uniform gesteckt und ohne Ausbildung an die Kaukasusfront
geschickt. Seine Einheit war so schlecht gekleidet und versorgt,
daß sie kaum eine Chance hatte, den Winter im Kaukasus zu
überleben. Er desertierte bei der ersten Gelegenheit, floh vor
den Kanonen der Russen und den Gewehren seiner eigenen
osmanischen Offiziere. In einem Dorf tauschte er seine Uniform
gegen Nahrungsmittel und einen abgetragenen Mantel ein. Das half
ihm, sich als armenischer Flüchtling auszugeben, wenn er einem
russischen Regiment begegnete, und als Kurde, wenn sich die
Soldaten als Türken herausstellten. Sie glaubten ihm zwar nicht,
fanden ihn aber zu unbedeutend, um eine Kugel an ihn zu
verschwenden. Also ließen sie ihn frei, und er wanderte
zerschlagen, hungrig und verloren durch die Berge Persiens. Zum
Glück wurde er von einem Jeep englischer Missionare angefahren,
denen der Unfall so leid tat, daß sie ihm anboten, ihn nach
Kurdistan mitzunehmen. Von da aus ging er zu Fuß nach Bagdad und
kam im Februar 1917 dort an.
Seine eigene Mutter erkannte ihn nicht. Sie reichte dem stinkenden
Derwisch, dem Bettler, durch die Gitterstäbe des Tores Brot und
eine Flasche Wasser und sagte, er solle verschwinden.
Einen Monat später marschierte General Maude an der Spitze der
britischen Armee in Bagdad ein.
Die Osmanen sprengten das Talismantor und zogen sich zurück. Maude
betrat eine Wüstenstadt, ohne Paläste und Vergnügungsparks und
Obstgärten und Pavillons und Harems zur Unterhaltung der tausend
und einen Soldaten. Man sagt, nach der Invasion der Mongolen im
dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert sei von der
ursprünglichen abbasidischen Hauptstadt nichts erhalten
geblieben. Ein jämmerlicher Phönix stieg aus der Asche, belastet
mit einem legendären Namen, dem er nie gerecht werden konnte.
Die Stadt, die Maude betrat, war ein Flickenteppich von
Stadtteilen mit religiös und ethnisch unterschiedlicher
Bevölkerung - Sunniten, Schiiten, Juden, Kurden, Armeniern,
Persern, Türken - an beiden Ufern des Tigris verstreut. Jedes
Viertel besaß seine Souks, Hammams, Khans und Gebetshäuser.
Jedes war ein Labyrinth aus krummen Gassen, die sich zwischen
überfüllten Häusern hindurchschlängelten und unter den
überhängenden Balkons Schatten suchten. Dann gab es natürlich
die Zitadelle, die Pontonbrücke, Krankenhäuser, Privatschulen,
ein Telegrafenamt und den unfertigen Bahnhof, dessen Schienen
einst nach Berlin führen sollten.
Als die Flutdeiche gebaut waren, dehnte sich Bagdad unter der
britischen Kolonialverwaltung bald aus. Britische Architekten,
die mit Winkelmaß und Lineal arbeiteten, legten neue Straßen an,
breit und gerade, parallel zum Fluß und zueinander. Die Straßen
wurden im rechten Winkel von Seitenstraßen gekreuzt, ebenfalls
gerade und breit genug für arabanas, von Pferden gezogenen
Kutschen. Die Runde Stadt wuchs nach Norden und Süden, zwei
Pontonbrücken wurden hinzugefügt. Die geraden Linien veränderten
in der Stadt das Gefühl für Entfernungen und die vierrädrigen
Fahrzeuge das Zeitgefühl. Die Hauptstraße, Khalil Pascha, wurde
begradigt und gepflastert. Arkaden und schattige Bürgersteige
wurden zu beiden Seiten angelegt. Sie wurde in »Neue Straße«
umbenannt und entwickelte sich zu Bagdads moderner
Geschäftsstraße, auf der die Stadt ins zwanzigste Jahrhundert
galoppierte. Die Wohlhabenden und Gebildeten zogen ihre
Keffiyehs aus, ihre dischdaschas und zbouns und schlüpften in
weiße Hemden, Krawatten und Anzüge. Sie hielten Zigaretten in
der einen Hand, ließen durch die andere die Gebetsperlen
gleiten, feierten die Effendis, die sie waren — eitle Gentlemen
des Orients.
Sein oder nicht sein ... Wie vertraut, auch auf arabisch, muß
diese Frage für Maudes irische Ohren geklungen haben, als der
General in einer der jüdischen Schulen Bagdads als Ehrengast an
einer Aufführung von »Hamlet« teilnahm. Leider bekam General
Maude zwei Tage später die Cholera und starb.
Was die jüdische Gemeinde betraf, die ein Viertel der Bevölkerung
Bagdads ausmachte, so wurde sie durch die britische Besetzung
wiederbelebt. Britische Gesetze waren so gradlinig wie die
Straßen, die sie anlegten, und wurden, im Gegensatz zu den
osmanischen, buchstabengetreu angewandt. Die Briten besteuerten
unparteiisch und waren ungeschult in der Kunst der Bestechung.
Die Vorhersehbarkeit ihrer Herrschaft schützte das Leben und den
persönlichen Besitz. Die Geschäfte blühten nach dem Krieg. Für
die Gebildeten, egal welcher Religionszugehörigkeit, eröffneten
sich auf jedem Gebiet Möglichkeiten. Die schöne neue Welt
klopfte an ihre Tür, und sie dachten nicht daran, sie
fortzuschicken.
Ustad Heskel heiratete und eröffnete seine eigene
Import-Export-Firma. Von seinem Bürofenster an der Neuen Straße
aus sollte er jahrzehntelang den Finger am Puls der Stadt haben.
1921 wurde sein erster Sohn geboren. Er nannte ihn Faisal, nach
dem ersten König des Irak, gekrönt im Sommer desselben Jahres.
Kurz nachdem die Briten den König auf den Thron gesetzt hatten,
gaben die Juden von Bagdad ihm zu Ehren einen Empfang in der
großen Synagoge. König Faisal I., Sohn von Hussein, dem Scharif
von Mekka, erstaunte seine Gastgeber und all die anderen
bedeutenden Gäste, als er die Thorarolle küßte und den Hacham
Baschi, den obersten Rabbiner der Gemeinde, umarmte. Dann hielt
er jene unvergeßliche Rede, in der er den Beitrag der Juden zur
Entwicklung des modernen Irak hervorhob und betonte, beide,
sowohl Araber wie auch Juden, seien Semiten, verwandt durch
ihren biblischen Vorvater Sehern.
Die ganze Gemeinde nahm die Worte des Königs begeistert auf, und
sein liberaler Geist brachte eine Generation patriotischer
arabischer Juden hervor. Arabische Juden, was für ein Paradox,
von patriotischen ganz zu schweigen. Es würde für die Kinder der
Sechziger schon schwer genug sein, sich ein irakisches Parlament
vorzustellen, aber noch dazu eines mit Sitzen für Juden! Sie
würden sich genausowenig vorstellen können, daß jüdische Dichter
in den zwanziger und dreißiger und sogar noch in den vierziger
Jahren Gedichte in Arabisch, ihrer Muttersprache, geschrieben
hatten und daß jüdische Journalisten ihr neues Königreich, ihr
watan, ihr Heimatland, ihre Heimaterde mitgestalten wollten.
Watan, was ist das? würden jüdische Kinder fragen, die ein
halbes Jahrhundert später geboren wurden. Wie konnte man von
Erde, dem nackten Staub unter den Füßen, verblendet werden?
Pferde trabten durch die gepflasterten Straßen.
Strom- und Telegrafenmasten, so hoch wie Palmen, wurden
aufgestellt, an denen Kabel hingen, wie der Beginn eines
Fadenspannspiels. Straßenlaternen brannten die ganze Nacht,
machten das Sternenlicht überflüssig, und, viel später,
romantisch. Abwasserkanäle wurden unter den Straßen gegraben,
die Häuser wurden numeriert, eine neue Währung wurde eingeführt,
und Briefmarken wurden gedruckt. Aus dem Chaos wurde allmählich
Ordnung.
1932 beendeten die Briten ihr fünfzehn Jahre
währendes Mandat. Der Irak war der erste arabische Staat, der
seine Unabhängigkeit bekam und in den Völkerbund aufgenommen
wurde. Von seinem Bürofenster an der Neuen Straße aus sah ustad
Heskel die letzten britischen Truppen abmarschieren.
Bitte, geht nicht ... bitte laßt uns mit den Arabern nicht allein,
rief eine Stimme ihnen nach.
Sie kam aus dem hinteren Teil seines Büros. Ustad Heskel drehte
sich um, aber er war allein im Raum. Das vor kurzem installierte
Telefon klingelte.
Überall in der Hauptstadt entstanden Grünflächen. In den neuen
Wohnvierteln wurden öffentliche Parks angelegt. Ummauerte Gärten
umgaben die neuen Häuser, ersetzten den Innenhof, das Herz des
orientalischen Hauses. An Straßenkreuzungen wurden runde
Rasenflächen angelegt, Blumen und Büsche wuchsen auf dem
Mittelstreifen der Avenuen, Eukalyptusbäume säumten die
Bürgersteige. Aber die Wüstenstadt verwandelte sich weder in
eine Oase, noch brachte das Grün Halbtöne in die Ansichten der
Bagdadis oder kühlte ihr Temperament ab.
Die modernen Viertel, die sich an gesellschaftlichen Schichten
orientierten, brachen die jahrhundertealten religiösen und
ethnischen Trennungen auf. Wie Hunderte anderer jüdischer
Familien, zog ustad Heskel mit seiner Frau und den sechs Kindern
aus dem Süden in ein Viertel des gemischten Mittelstands.
1933 starb König Faisal, und sein Sohn Ghazi folgte ihm auf den
Thron. Die Prozession des jungen Königs führte an ustad Heskels
Büro an der Neuen Straße vorbei, die bald darauf in
Raschid-Straße umbenannt wurde.
Aber kaum war die Stadt wieder ihren Besitzern übergeben worden,
da zogen bewaffnete Stammesangehörige vom mittleren Euphrat
durch die Straßen, protestierten gegen die nationale Wehrpflicht
und die Landreform. Die Armee wurde ins ganze Land entsandt, um
den Aufstand zu unterdrücken und die Stämme der Autorität des
Staates zu unterwerfen. Bei ihrer Rückkehr marschierten die
siegreichen Soldaten durch die Straßen der Hauptstadt. Blumen
und Rosenwasser regneten von den Dächern auf die hübschen Jungs
in Uniform herab. Auch Politiker wandten sich ans Militär, wenn
im Kabinett Streit zu schlichten war. Oft flogen
Militärflugzeuge dröhnend über die Stadt. Ein Putsch wurde
verkündet, der Fall einer Regierung, ein neuer Führer. In der
zweiten Hälfte der dreißiger Jahre kam es fünfmal zum Putsch.
Jeder wurde im Radio begrüßt. Aufgrund der angezweifelten
offiziellen Berichte entstanden Gerüchte. Die Leute verachteten
ihre Politiker, machten sich über ihre Reden lustig, tratschten
über Palastintrigen und schoben alle Schuld auf die Engländer.
Dann klapperten die Würfel, Kaffee wurde getrunken, und die
Radiomusik dröhnte wieder los. Man sagt, Bagdadis tanzen zu
jeder Melodie, die man ihnen vorspielt.
Aber am leidenschaftlichsten tanzten sie zu den Hymnen des
Nationalismus und nahmen sich ein Beispiel an den Nazis. Hatte
der Führer das deutsche Volk nicht vereint und es vor der
nationalen Schande gerettet? »Mein Kampf« erschien auf arabisch,
als Fortsetzung in einer Lokalzeitung. Kinderwagen mit Jungen,
die nach Hitler, Himmler und Rommel benannt waren, wurden immer
häufiger. Beim Barbier, während das Rasiermesser über die glatte
Fläche seines eingeschäumten Gesichtes glitt, merkte ustad
Heskel plötzlich, auf welchen Sender das Radio eingestellt war.
Schneller, als jede Eisenbahn hätte sein können, übertrug Berlin
Sendungen auf arabisch direkt nach Bagdad. Demonstrationen gegen
die Briten nahmen zu, gegen ihre Palästinapolitik und gegen den
Zionismus. Führende Köpfe der jüdischen Gemeinde unterschieden
öffentlich zwischen Judentum und Zionismus und distanzierten
sich und ihre Gemeinde von letzterem. Ohne Erfolg. Angriffe
gegen Juden auf der Straße hörten nicht auf.
Traue nie einem Moslem, nicht einmal im Grab, sagt ein jüdisches
Sprichwort.
War es ein Fehler gewesen, aus dem jüdischen Viertel auszuziehen?
Fiel er in dem gemischten Viertel auf? Eine Furcht, älter als er
selbst, wuchs in ustad Heskels Herz. Seit Jahrhunderten war es
Juden verboten, eine Waffe zu tragen und sich gegen einen Moslem
zu wehren, sogar mit der bloßen Hand. Kein Wunder, daß das Bild
des Juden in der moslemischen Welt das eines Schwächlings war,
eines verachtenswerten Feiglings. Aber wo konnte er das Kämpfen
lernen? Im Krieg hatte ustad Heskel nur fliehen gelernt.
Vielleicht war er tatsächlich ein Feigling. Wer würde seine
Familie verteidigen, wenn es nötig werden sollte? Die britische
Armee war zu weit weg, und obwohl er sich immer noch nach den
jüdischen Gebräuchen richtete, war ihm die Sprache Gottes schon
lange abhanden gekommen.
Im Frühjahr 1941 verkündete Radio Bagdad den sechsten Putsch. Das
neue Kabinett bestand hauptsächlich aus Nazianhängern. Italien
und Deutschland unterstützten die neue Regierung. Konflikte mit
England eskalierten zu bewaffneten Auseinandersetzungen.
Irakische und britische Flugzeuge lieferten sich Luftschlachten
über der Hauptstadt. Einen Monat später, als nur noch britische
Flugzeuge den Himmel beherrschten, stürzte die irakische
Regierung.
Während der zwei gesetzlosen Tage, die darauf folgten, brach ein
Pogrom gegen die Juden los.
Plünderung, Vergewaltigung, Verwüstung und Mord sind die
universelle Sprache der Pogrome. Wegen ihres dürftigen
Vokabulars beschränkt sie sich nicht auf Uniformen, Alter oder
Geschlecht. Die jüdischen Viertel von Bagdad wurden von
irakischen Soldaten, von Stammesangehörigen und Städtern, von
wütenden Männern, Frauen und Kindern angegriffen. Innerhalb von
zwei Tagen hatten sie Hunderte von Juden ermordet und Tausende
verwundet.
Ustad Heskel und seiner Familie geschah nichts. In ihrem
gemischten Viertel war es nicht zu Feindseligkeiten gekommen. Im
Gegenteil, moslemische Familien hatten ihnen Zuflucht angeboten.
Und die britische Armee war schließlich doch nicht so weit weg
gewesen, wie sich herausstellte. Sie stand vor den Außenbezirken
der Stadt und hatte Befehl, sich nicht einzumischen.
Auch ustad Heskel begriff schließlich, daß die Briten keinen
Finger rühren würden, wenn es nicht in ihrem eigenen Interesse
war. Aber daß die Straßen durch die Anwesenheit britischer
Truppen sicherer waren, diese Tatsache konnte niemand leugnen.
Und auf den Straßen blieb es sicher bis zum Ende des Krieges,
solange die Truppen der Alliierten in Bagdad stationiert waren,
auf ihrem Weg von und nach Nordafrika.
Während also Europäer für Nahrungsmittel und europäische Juden vor
den Gaskammern Schlange standen, blühten die Geschäfte in
Bagdad, und ustad Heskel machte, wie viele tausend andere
Kaufleute, ein Vermögen.
In der Zwischenzeit waren seine Kinder herangewachsen, hatten
eigene Vorstellungen, die tief geprägt waren von der farhud, dem
Pogrom. Wenn es ein paar Tage länger gedauert hätte, wären auch
die gemischten Viertel nicht verschont geblieben, das wußten
sie. Sie warfen ihrem Vater vor, Pogrome als einen
unvermeidlichen Teil des Lebens hinzunehmen. Sie behaupteten, er
habe die Seele eines dhimmi, der unsichtbar wurde, sobald ein
Moslem Schaum vor dem Mund bekam. Je harscher sie ihn
kritisierten, desto weltkluger fanden sie sich. Als Junge hatte
er seinem Vater das Herz gebrochen, weil er sein Leben nicht dem
Thorastudium widmen wollte. Aber hatte er den alten Mann in
völlige Verzweiflung gestürzt, nur um sich frei zu fühlen und
seinen eigenen Weg gehen zu können? Ustad Heskel konnte sich
nicht erinnern.
Die Hälfte seiner Kinder schloß sich der Tnuah an, der
zionistischen Untergrundbewegung, wo sie schießen lernten, um
die Gemeinde, wenn nötig, zu verteidigen, und außerdem modernes
Hebräisch - als Vorbereitung auf Eretz Israel. Die andere Hälfte
identifizierte sich mit den unterdrückten Massen im Irak und
fand ihre Antwort im Kommunismus. Zwei Ideologien unter einem
Dach, zwei Revolutionen am Eßtisch – welche Zusammenstöße ustad
Heskel ertragen mußte. Wie uneinsichtig und selbstgerecht sie
klangen, selbst die Mädchen – er konnte für keinen Partei
ergreifen. Sich in die Politik einzumischen würde zur
Katastrophe führen, nicht nur für sie selbst, sondern für die
ganze Gemeinde.
Seine Worte wurden genausowenig beachtet wie das
Gebrabbel der Radiosender, wenn man auf der Suche nach den
neuesten Nachrichten war.
Ohne vorher krank gewesen zu sein, starb eines Nachts seine Frau
und ließ ustad Heskel mit einem halben Dutzend Kinder zurück,
die ihm jeden Tag fremder wurden. Die Einsamkeit lernte er
allmählich zu ertragen, aber sein Leben hatte keinen Sinn mehr.
Warum hatte er Gott den Rücken gekehrt, fragte er sich immer
wieder.
1948 wurde der Staat Israel gegründet. Mullahs riefen in den
Moscheen von Bagdad zum Jihad auf, Studenten streikten, und die
Demonstranten drängten die Regierung, zu den Waffen zu greifen.
Der Irak folgte der Entscheidung der Arabischen Liga und
schickte seine reguläre Armee an die Front.
Im ganzen Land wurde das Kriegsrecht ausgerufen. Tausende von
Kommunisten, Zionisten und Juden wurden verhaftet und in ein
besonderes Lager in der südlichen Wüste gebracht. Shafik Adas,
ein wohlhabender Geschäftsmann, der mit einem Minister zu Mittag
speiste und mit dem Regenten dinierte, der reichste Jude des
Irak, wie es hieß, wurde gleichzeitig wegen Kommunismus und
Zionismus angeklagt. Obwohl das Militärgericht keine Beweise für
seinen Waffenhandel mit den Zionisten in Palästina vorlegen
konnte, wurde Adas zum Tode verurteilt. Er wurde vor seiner
Villa in Basra öffentlich erhängt. Eine große Menschenmenge
versammelte sich, um das Schauspiel mitzuerleben, und ihre
Jubelschreie brachten den Henker dazu, Adas noch mal
aufzuhängen. Am nächsten Tag waren die Titelseiten der
irakischen Zeitungen voll mit Nahaufnahmen des Gehängten. Sein
Genick war gebrochen, seine Leiche baumelte über einer Pfütze
seiner Exkremente. Er wurde die Schlange, der Verräter, der
Spion, der Zionist, der Jude genannt, und das
Verteidigungsministerium beschlagnahmte sein Millionenvermögen.
Aber der Fall Adas brachte keinen arabischen Émile Zola hervor.
Und die Verhaftungen hörten nicht auf. Alle Regierungsstellen
entließen ihre jüdischen Beamten und Angestellten. Das
Handelsministerium verlängerte die Konzessionen jüdischer
Kaufleute nicht mehr. Das Verteidigungsministerium verbot
jüdischen Bankiers alle Transaktionen mit ausländischen Banken.
Das Gesundheitsministerium gab jungen jüdischen Ärzten keine
Zulassungen. Das Erziehungsministerium reduzierte die Quote
jüdischer Studenten. In der offiziellen Sprache wurden Zionist
und Jude zum Synonym. Auf der Straße nahmen die Feindseligkeiten
gegen Juden zu. Eine Synagoge wurde von Demonstranten
geschändet. Nurial-Said, der Ministerpräsident, bezeichnete die
Juden der arabischen Welt als Geiseln. Die illegale Auswanderung
junger Juden, die keine Geiseln arabischer Launen sein wollten,
nahm zu.
Und ustad Heskel mußte damit fertig werden, einen Sohn im
Gefängnis zu haben und zwei minderjährige Töchter jenseits der
Grenze; gleichzeitig lief seine Geschäftskonzession aus.
Weil sie die illegale Auswanderung nicht kontrollieren konnte,
erließ die Regierung 1950 schließlich ein taskit, ein
Denaturalisierungsgesetz. Es erlaubte den Juden, nach Israel
auszuwandern, vorausgesetzt, sie gaben ihre irakische
Staatsbürgerschaft auf.
In den ersten Wochen wagte kaum jemand, das Angebot ernstzunehmen.
Die Spannungen würden sich bald legen, sagten sie, und das Leben
in Bagdad würde wieder seinen normalen Gang gehen. Wer, von ein
paar unbesonnenen Jugendlichen abgesehen, war denn überhaupt zur
Auswanderung bereit? Konnten aus Kaufleuten der Mittelschicht
wirklich Bauern werden? Wer war schon wild darauf, daß seine
Söhne zum Militär eingezogen wurden, und wer konnte sagen, ob
der neue Staat das nächste Jahr überleben würde?
Sie waren die babylonischen Juden, das vergaßen sie nicht. Sie
waren das Erste Exil, das Gott in das Heimatland Abrahams
zurückgeschickt hatte. Sie hatten die letzten
zweitausendfünfhundert Jahre in Mesopotamien gelebt, einhundert
Generationen lang, tausend Jahre, bevor es den Arabern
eingefallen war, ins Land einzudringen. Hier hatten sie die
erste Synagoge errichtet. In den Akademien auf der anderen
Flußseite war der Talmud zusammengestellt worden. Waren diese
Beiträge nichts wert? Verlangte ihre Geschichte von ihnen nicht
Kontinuität?
Konnte es sein, daß alle Freunde von ustad Heskel Eretz Israel
gleichgültig gegenüberstanden? Israel, wiederholte er, was für
ein sonorer Klang! Es hatte sich hartnäckig über die
Jahrhunderte gehalten, ein heiliges Versprechen war nun
greifbare Realität. Ein Stück Land und eine Flagge, ein im Wind
flatterndes Stück Stoff, verteidigt von einer Reihe Panzer.
Dort schlössen am Samstag alle Geschäfte ohne Ausnahme, hieß es,
weil der Samstag der offizielle Ruhetag ist. Dort schrieben die
Hausfrauen ihre Einkaufslisten in der heiligen Sprache. Dort
würde er Formulare ausfüllen, Schecks unterschreiben, ein Taxi
rufen, sich die Haare schneiden lassen, Zeitung lesen,
Pferdewetten abschließen, etwas zu trinken bestellen ... alles
auf hebräisch. Und jeder Satz würde wie ein Gebet klingen.
Er konnte nicht anders, Israel machte ihn sentimental.
Es hieß, daß dort selbst die Polizisten Juden waren. Nein, er wäre
nicht mit Tolerierung zufrieden, in einem jüdischen Staat würde
er dazugehören, wäre ein rechtmäßiger Bürger. Seine Rechte
würden ihm nicht als Gunst zugestanden, sie wären
selbstverständlich. Er wäre niemandes Jude mehr. Nach
zweitausendfünfhundert Jahren wurde ustad Heskel die Möglichkeit
geboten, sich ein für allemal von der Furcht zu trennen.
Ist Heimat nur der Ort, wo man sicher schlafen kann?
Die unbesonnenen Jugendlichen bewarben sich voller Begeisterung.
Sie nahmen ihre Freunde mit, die ihre Geschwister mitschleppten,
ihre Eltern erpreßten, ihre Verwandten überzeugten, der
Großmutter keine Chance ließen, ihre Nachbarn mit ihrer
Entschlossenheit schockierten. Die Kettenreaktion überstieg alle
Erwartungen. Und dann explodierte eine Bombe in einem von Juden
besuchten Cafe, später eine in einer Synagoge, eine Warnung an
die andere Hälfte der Gemeinde, die sich noch nicht entschließen
konnte, wegzugehen.
Es ging das Gerücht, die zionistische Untergrundbewegung habe bei
den Bombenanschlägen die Hand im Spiel gehabt. Die Zionisten
schoben ihrerseits den arabischen Nationalisten die Schuld zu.
Aber ob nun von Juden oder Arabern gebastelt, die Bomben waren
ein Wendepunkt in der Einstellung zur Emigration. Von dem Tag an
wurde die Abreise selbstverständlich, das Bleiben dagegen wurde
zur Entscheidung und erforderte eine Reihe von Rechtfertigungen.
Innerhalb eines Jahres gaben über 100 000 Juden ihren irakischen
Personalausweis ab und bereiteten sich auf den Umzug vor oder
den Exodus, wie sie es lieber nannten. Unter ihnen waren auch
ustad Heskels Kinder, Zionisten und Kommunisten, manche eifrig,
andere zögernd. Seine alten Eltern packten ebenfalls ihre
Sachen, besessen von der Idee, im Heiligen Land begraben zu
werden. Als ob die Würmer auch heilig geworden wären.
Ustad Heskel sah sich gefangen zwischen der Frömmigkeit seiner
Eltern und dem Pioniergeist der Jugend. Er fühlte sich weder alt
genug, um seinen Tod zu feiern, noch jung genug, um auf die
Versprechungen der Zukunft zu vertrauen. Sorgsam studierte er
die Briefe seiner Töchter aus Israel, bis er zu einer eigenen
Entscheidung kam. Seine Kinder mochten ja Pioniere sein — er
würde im neuen Land nur als Flüchtling enden.
1951, an dem Tag, als der taskit auslief, erließ die irakische
Regierung ein neues Gesetz, das den Besitz aller Juden einfror,
die sich für die Emigration angemeldet hatten. Wer zuletzt
lacht, lacht am besten — was mußte das Parlament für eine
fröhliche Sitzung gehabt haben. Die zionistischen Bastarde, die
damit prahlten, die Wüste zu begrünen und die Sümpfe
trockenzulegen, waren nun aufgefordert, ein weiteres Wunder zu
vollbringen und den Ansturm von 100 000 besitzlosen
Neuankömmlingen zu überleben.
Ustad Heskel sah ein Flugzeug nach dem anderen starten, mit seinen
Kindern, seinen Eltern, seinen Verwandten, seinen Freunden,
seinen Geschäftspartnern, den Geschäftsrivalen, seinen Kunden,
seinem Arzt, seinem Rechtsanwalt, seinem Barbier, seinem
Fleischer, seinem Bäcker, seinem Bankier, seinem Bettler, seinem
Schneider, seinem Schuhmacher, seinem Hausmädchen, seiner
Köchin, seinem Lieblingsdichter und den Musikern, die er nun nie
mehr auf einem Fest würde spielen hören. Nur ein Jahr zuvor war
jeder sechste Bagdadi Jude gewesen. Jetzt flogen die Juden
davon, jeder mit 50 Dinar in der Tasche und einer losgerissenen
Wurzel, die in der Wüste wieder eingepflanzt werden mußte.
Schulen, Synagogen, Souks, Geschäfte, Banken, Clubs und ganze
Viertel leerten sich, eines nach dem anderen. Aber Bagdad
verschwendete keine Zeit damit, um die Juden zu trauern.
Geschäfte und Handel waren endlich für die Übernahme durch
moslemische Kaufleute bereit. Einige der leerstehenden Häuser
wurden an palästinensische Flüchtlinge verteilt. Der Rest, der
eingefrorene Besitz an Bargeld und Immobilien, fiel an den
Staat. Ustad Heskel ging auf und ab in seinem Haus, das
vollgestopft war mit Bettwäsche, Porzellanbergen, Bücherstapeln,
Kleiderbündeln und was seine Kinder sonst noch zurückgelassen
hatten. Er entdeckte eine Perlenkette in einem Korb, zwischen
zwei Wollknäueln. Sein Geschenk an seine älteste Tochter zum
achtzehnten Geburtstag. Hätte sie die nicht in ihrem Schuhabsatz
verstecken können, so wie Geldscheine hinausgeschmuggelt wurden!
Er befingerte die Perlen, als wäre es eine moslemische
Gebetskette. Dabei fiel sein Blick auf die Bibel, die er vor
fünfzig Jahren beiseite gelegt hatte. Als ustad Heskel zu lesen
begann, erinnerte er sich. Und als er sich erinnerte, fand er
die historischen Wurzeln, die zwischen den Seiten bewahrt worden
waren wie die getrockneten Flügel toter Schmetterlinge.
Er las monatelang, jahrelang vielleicht, bis er voller Gedanken
und Fragen war, die er mit Menschen seiner Art teilen wollte.
Ustad Heskel ging los und suchte nach den Überbleibseln
jüdischen Lebens in Bagdad.
Es gab nur noch ein paar tausend Juden, die in gemischten Vierteln
lebten. Ihre Verletzlichkeit als jüdische Minorität in einem
arabischen Land führte dazu, daß sie sich von der Politik und
jeder Art Ideologie fernhielten. Als Konsequenz, oder vielleicht
auch nur aus Faulheit, vernachlässigten sie alle überkommenen
Werte. Ihre jüdische Tradition war zu locker, um sie zu stützen,
ihr arabisches Erbe nur allzu bereit, sie im Stich zu lassen. Es
waren Menschen, die aus Ort und Zeit gefallen waren. Angesichts
der kulturellen Leere wandten sie sich der Modernität zu,
ähnlich wie ihre moslemischen und christlichen Landsleute. Und
ähnlich wie diese nutzten sie nur die Hülle.
Sie sagten sorry, merci, please, vraiment, mit starkem arabischen
Akzent. Manche gaben ihren Kindern europäische Namen: Linda,
Edward, Ramsey, Vera, distanzierten sie von Anfang an von ihrer
Umgebung und bereiteten sie so auf eine Zukunft im Ausland vor.
Sie widmeten ihr Leben der Arbeit, der Familie und dem Poker —
ihrer wichtigsten Freizeitbeschäftigung, ihrer Sucht und
einzigen Kultur. Sie spielten in Clubs oder zu Hause, Männer wie
Frauen — modern genug, sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber
zu sitzen. Fein angezogen saßen sie am Kartentisch, betonten
ohne Ende ihre aristokratische Herkunft, die bedeutenden Posten,
die ihre Väter in Bagdad vor dem taskit gehabt hatten, und wie
phantastisch sich ihre Kinder in der Schule machten. Zwischen
den Spielen flirteten sie miteinander und tratschten über die
Eheprobleme der Spieler an den anderen Tischen. Obwohl sie ihre
fetten Jahre voll genossen, war ihnen durchaus bewußt, was für
ein Fehler ihre Entscheidung für Bagdad gewesen war. Sie hatten
auf die falsche Karte gesetzt, gestanden sie einander hin und
wieder. Ihr Bluff war vom Schicksal, der Zeit oder einfach von
der Geschichte aufgedeckt worden — sie konnten ihre Widersacher
nicht mal benennen. Und trotz der relativen Sicherheit, die sie
genossen, waren sie stets wachsam, warnten sich gegenseitig
davor, zu lange zu bleiben und ihren gesamten Einsatz zu
verlieren.
Aber welcher Spieler verläßt rechtzeitig den Spieltisch?
Ustad Heskel fand ihr Leben zu oberflächlich, ihre Gesellschaft
unerträglich. Entschlossen, den Segen der Bibel mit anderen zu
teilen, wandte er sich an die jüdische Schule. Ja, sie würden
ihn gerne für ein paar Stunden pro Woche einstellen. Was, er
hatte vergessen, daß das Erziehungsministerium schon vor Jahren
den Religionsunterricht an jüdischen Schulen eingeschränkt
hatte? Nein, völlig unmöglich — die Bibel auf hebräisch zu lesen
war verboten. Die Schüler lasen nur aus Gebetbüchern, ohne
Übersetzung oder Interpretation. Ja, Religion mußte sie zu Tode
langweilen.
Aber wenn er das Gebetbuch schloß und ihnen biblische Geschichten
erzählte, spitzten sie die Ohren, als sei er unmittelbarer Zeuge
von Samsons außerordentlicher Kraft, den prophetischen Träumen
Josefs, der Durchquerung des Roten Meeres, dem Wunder des Lichts
gewesen. Manchmal schweifte er ab, zu Geschichten über berühmte
Juden wie Einstein, der kurz vor seinem Tod gesagt hatte, daß er
an die Existenz Gottes glaubte. Die Mischung aus Mitgefühl und
Respekt, die er in ihren Augen sah, verriet ihm, wie antiquiert
er wirken mußte, wie alt er geworden war. Die verwöhnten Gören.
Trotzdem gefiel es ihm, daß sie ihn so selbstverständlich ustad
nannten, als sei er als Lehrer geboren worden.
Obwohl Vater das Glücksspiel strikt ablehnt, macht er für Purim
eine Ausnahme. Wie jedes Jahr hat er uns von der Bank neue,
glänzende Münzen geholt, die wir an den beiden Festtagen
verspielen dürfen. Wie jedes Jahr baut er zwei Münzentürme auf
seinem Schreibtisch auf. Zwei Türme zu je zehn silbrigen Dirham.
Nur ein Dinar? Ein Dinar war letztes Jahr mein Purimgeschenk,
aber jetzt bin ich zwölf Jahre alt, und Vater hat mir eine
Erhöhung versprochen. Hat er das vergessen? Mit verstohlenen
Blicken verfolge ich, wie er die Hand in die Tasche steckt.
Kleingeld! Er hat mir noch kein Kleingeld gegeben. Ich fummele
an den Dirhamtürmen herum, will mir nichts anmerken lassen,
während Vater ahnungslos tut, weitere Rollen aufreißt und noch
fünf schimmernde Türme mit welligen Rändern aufbaut — je zehn
Münzen ä zehn Fils. Insgesamt anderthalb Dinar!
Ich schlinge Vater die Arme um den Hals und drücke ihn so fest ich
kann, länger als letztes Jahr. Dann werfen wir die Münzen in
einen grünen Filzbeutel, den Mutter für mich genäht hat, extra
für Purim.
Selma veranstaltet dieses Jahr die Kartenspielparty, und sie redet
seit Wochen über nichts anderes. Als ihre Mutter mir die Tür
öffnet, rieche ich sambusak-Gebäck und höre das Klimpern eines
Geldspielautomaten. Pfiffe und Gelächter dringen aus dem Salon.
So viele Attraktionen, und alle auf einmal! Hastig ziehe ich
meine Jacke aus und schaue in das kleine Zimmer neben dem
Eingang. Selmas Vater fuhrt den einarmigen Banditen vor, den er
für diesen Anlaß gemietet hat. Fasziniert von den rotierenden
Bildern, starren die Kinder gebannt darauf, um den Moment nicht
zu verpassen, wenn die fünf Zitronen auftauchen oder die fünf
Kirschen oder die fünf Bananen.
Die Chance, vier oder fünf gleiche Bilder zu bekommen, ist äußerst
gering, hat mir Vater gestern erklärt. Aber die Kinder sagen,
seit einer Weile sind keine fünf gleichen mehr aufgetaucht und
werden jetzt bestimmt jeden Augenblick kommen. Vater hätte dem
sofort widersprochen, »weil die Maschine kein Gedächtnis hat«
und weil bei jeder Runde die Chance, fünf gleiche zu bekommen,
genauso gering ist wie vorher. Und ich sage, die fünf Kirschen
haben den ganzen Morgen auf mich gewartet.
Ich werfe meine ersten zehn Fils ein, drehe den Metallknopf, höre
die Münze fallen und setze die Maschine in Bewegung. Langsam
kommen die Bilder in den kleinen Fenstern zum Stillstand. Ananas
und Zitronen und Eistüten und Trauben tauchen auf, aber warum
alle zusammen, verdammt noch mal! In kürzester Zeit schluckt die
Maschine vier Münzen, fünf, sechs, spuckt zwei wieder aus, nur
um sie bei der nächsten Runde zurückzugewinnen. Allzu schnell
sind meine zehn Runden um, und ich habe wie viele Münzen
verloren? Die kurze Aufregung hat meinen Appetit nur noch größer
gemacht. Ich bettele um eine weitere Chance, will nur mein Geld
zurück, aber die Mädchen in der Schlange geben nicht nach.
Widerstrebend lasse ich den Hebel los und gehe hinüber in den
Salon.
Das geräumige Zimmer ist in eine Spielhölle verwandelt worden, wie
an Samstagabenden, nehme ich an, aber an diesem Morgen sind die
Spieler fein angezogene elf- und zwölfjährige Schulkinder. Sie
sitzen an kleinen rechteckigen Tischen überall im Raum verteilt
oder stehen an den beiden runden Tischen in der Mitte, einer für
Roulett, der andere für dossa, ein Kartenspiel. Ich winke Selma
zu, die am Roulettrad steht, aber sie ist zu sehr in das Spiel
vertieft und bemerkt mich nicht.
Vertrautes Gelächter lenkt meine Aufmerksamkeit auf vier Spieler
in einer Ecke. Dudi und ein paar andere spielen Lügenwürfel.
Obwohl Dudi nicht mehr in unsere Klasse geht, wird er nach wie
vor zu unseren Partys eingeladen. Ich gehe auf den Tisch zu.
Dudi sagt ein Full house an, verdeckt aber die Würfel mit den
Händen und macht ein aufrichtiges Gesicht. Dora schaut ihn durch
ihre dicke Brille mißtrauisch an. Ihre schmalen blauen Augen
sind noch schmäler geworden, wie zwei Würmer. Dudi errötet
schließlich, beißt sich auf die Lippe, als wolle er ein Lächeln
unterdrücken. Doras Gesicht erhellt sich. Lügner! schreit sie,
wie ein Richter bei einem Revolutionstribunal. Dudi nimmt
langsam die Hände weg und zeigt seine Würfel: drei Vieren und
zwei Zweien.
Ich schnappe mir ein Käsesambusak vom Büfett am Fenster und gehe
zu Selma, um ihr zu der besten Purimparty zu gratulieren, die
ich seit Jahren gesehen habe.
- Genau wie in Las Vegas, nicht? fragt sie.
- Wie was?
Vergiß es, sagt sie und zeigt mir den Berg Münzen, der vor ihr
liegt. Sie behauptet, die Roulettkugel sei ihr den ganzen Morgen
von Rot zu Schwarz und umgekehrt gefolgt. Kaum hat sie das
gesagt, verliert sie ihren Einsatz auf Rot. Sie beharrt auf Rot
und verliert ein paar Runden lang. Sie läßt Rot sausen, setzt
auf Gerade und gewinnt. Sie gewinnt ein zweites Mal. Sie
wechselt zu Ungerade, verliert, wechselt zu Gerade und verliert
wieder. Jetzt ist es Selma, die hoffnungslos hinter der Kugel
herjagt. Bald verliert sie das bißchen Geduld, das sie besitzt,
packt alle Münzen, die vor ihr liegen, und setzt auf Rot. Das
Minirad dreht sich. Rot und Schwarz vermischen sich zu einem
dunklen Ring. Die Kugel wirbelt und klappert und vervielfacht
sich, bis mir fast schwindelig wird. Braun wird wieder zu
schwarzen und roten Abteilungen. Die Kugel wird langsamer, hüpft
von Kästchen zu Kästchen und fällt schließlich in ein rotes,
zittert noch leicht, liegt dann still. Selmas Einsatz wird
verdoppelt. Sie will alles auf Schwarz setzen. Nimm dein Geld
und verlaß sofort den Roulettisch, sonst verlierst du alles,
rate ich ihr und ziehe sie am Arm. Der letzte Rest gebackenen
Käses ist auf meiner Zunge geschmolzen. Ich habe Lust auf
Kartenspielen, auf die bunten Augen und Bilder. Selma sammelt
ihre Münzen ein, rührt sich aber nicht von der Stelle. Das Rad
wird langsamer. Die Kugel hüpft in ein rotes Kästchen. Selma
steckt die Handvoll Münzen in ihren Beutel und folgt mir zum
Kartentisch. Erst da bemerke ich, daß Laila der Wolf die Bank
hält.
Ich habe einen Moment gebraucht, um sie zu erkennen. Laila hat
sich das Gesicht gepudert, die Augen mit braunem Kajalstift
umrandet und die Lippen radieschenrot geschminkt. Was macht sie
überhaupt auf Selmas Party? Die beiden kriegen sich wegen jeder
Kleinigkeit in die Haare und lassen keine Gelegenheit aus, sich
gegenseitig zu ärgern. Letzte Woche hatten sie Streit darüber,
wer Klassensprecherin werden soll. Sie müssen der Lehrerin
soviel voneinander erzählt haben, daß die am Ende beide bestraft
hat. Sie mußten hundertmal schreiben: »Wer anderen eine Grube
gräbt, fällt selbst hinein«.
Selma und ich quetschen uns zwischen die anderen Kinder und bauen
uns vor Laila auf, die die Karten auf dem Tisch zusammenschiebt.
Sie nimmt uns mit hochgezogenen Augenbrauen zur Kenntnis, mischt
und beginnt auszuteilen. Die Karten werden verdeckt ausgelegt,
eine pro Spieler und eine für die Bank. Laila legt zwei Reihen
zu je fünf Karten in die Mitte des Tisches und zwei direkt vor
unsere Nase. Selma ignoriert den Wink, streckt die Hand aus und
setzt 10 Fils auf eine Karte in der Mitte. Ich mache dasselbe.
Nachdem sich jeder Spieler für eine Karte entschieden hat, zieht
Laila die übriggebliebene zu sich heran. Sie dreht sie um und
grinst.
Die Kreuz-Zehn. Die Spieler stöhnen und murren. Wenn die eigene
Karte niedriger als eine Zehn ist, muß man der Bank den
doppelten Einsatz zahlen. Die meisten Bankhalter erlauben den
Spielern, ihre Karten selbst umzudrehen. Laila ist da anders.
Sie läßt niemanden irgend etwas anrühren — als wäre sie hier zu
Hause. Meine zwei glänzenden Münzen verschwinden in ihrem Berg
von einer Bank. Selmas Karte wird als letzte aufgedeckt. Das
Kreuz-As, das einzige As in der Runde, verdirbt Lailas Spaß.
Das As verdreifacht den Einsatz. Laila schnippt Selma drei Münzen
zu, als würde sie ihr einen Gefallen tun.
— Wieso hast du die überhaupt eingeladen? flüstere ich Selma ins
Ohr.
— Weil Mama gesagt hat, ich müßte. Nur weil sie immer mit Lailas
Mutter am selben Pokertisch spielt ...
Laila mischt die Karten, länger als zuvor. Wieder legt sie zwölf
Karten aus, zehn in der Mitte und zwei unter unsere Nasen.
Wieder ignorieren wir ihren Wink. Selma wählt die Karte, die
dicht vor Laila liegt, und zieht sie quer über den Tisch zu
sich. Laila wirft ihr einen so bösen Blick zu, daß ich verstehe,
wieso Gangster in Filmen Tische umwerfen und sich wegen eines
Kartenspiels gegenseitig erschießen. Laila dreht ihre Karte um.
Die Spieler bejubeln ihre Karo-Sieben. Sie zahlt einem nach dem
anderen die Gewinne für die höheren Karten aus und sammelt die
Einsätze der niedrigeren ein. Ich bekomme eine matte
Zehn-Fils-Münze für meinen Kreuzbuben. Selmas Karte wird als
letzte umgedreht. Wieder ein As! Das Pik-As.
Selma bekommt weitere dreißig Fils. Ich frage mich im stillen,
wieviel ihrer Begeisterung daran liegt, daß sie Laila ärgern
kann, und wieviel das Gewinnen selbst ausmacht. Laila macht ein
Pokergesicht und mischt die Karten. Aber ihre Hände zittern,
während sie die scharfen Kanten ineinanderschnellen läßt.
Endlich wird der Stapel geteilt. Laila legt drei Reihen von
jeweils vier Karten in der Mitte aus. Selma plaziert ihre zehn
Fils auf irgendeine Karte. Laila dreht ihre Karte um und
räuspert sich, hält ihr Kreuz-As hoch. Diesmal schießt ihre Hand
als erstes zu Selmas Karte.
Das Karo-As trifft Laila völlig unvorbereitet. Ein Spieler pfeift
bewundernd.
- Heh, Selma, du kriegst heute wohl nur Asse, sagt ein anderer.
Laila errötet, ihr Gesicht so rot wie das Karo. Wie hoch ist die
Wahrscheinlichkeit, in drei aufeinanderfolgenden Runden ein As
zu bekommen? versuche ich auszurechnen, während sich Laila und
Selma anstarren. Ihre Fäuste liegen auf dem Tisch. Alle sind
verstummt, so wie vor vier Jahren, als Laila, eine goldene Krone
auf dem Kopf, ihre acht Kerzen ausblasen wollte und Selma »Happy
Birthday, liebe Laila der Wolf« sang.
Ich weiß nicht, was diesmal passiert wäre, wenn Selmas Mutter sie
nicht in diesem Moment gerufen und gebeten hätte, Gläser aus der
Küche zu holen.
- Heute kein Glück? fragt Dudi, legt mir den Arm um die Schultern.
Komm, ich will dir was zeigen.
Erschreckt über sein plötzliches Auftauchen, schiebe ich seinen
Arm weg. Wie lange hat er mir schon über die Schulter geschaut?
Ich lasse mich von ihm zum Büfett ziehen, um die unbegrenzten
Fähigkeiten seiner Nase zu bezeugen. Wie gebeten, verbinde ich
ihm die Augen mit einer Serviette. Die Hände hinter dem Rücken,
beugt er sich zum Büfett vor, während ich ihn am Jackenkragen
halte und seine Nase von Gericht zu Gericht führe, sie beinahe
hineintunke.
- Kreuzkümmel! Ich rieche Kreuzkümmel, und er steigt von gekochten
Kichererbsen auf ... also müssen das gebratene sambusaks sein,
stimmt's? Siehst du! Das nächste ist kein Problem, das sind
Käsesambusaks. Der Geruch von gebackenem Teig mit einem Hauch
Anis und Kümmel erfüllt das ganze Haus. Selmas Eltern sind nicht
sehr gläubig, oder? Okay, dann kommt der Pimentgeruch bestimmt
von Reisbällchen, gelben Reisbällchen, um genau zu sein -
gefüllt mit Fleisch. Ja, ich weiß, daß Kurkuma keinen Geruch
hat, aber Reisbällchen sind immer gelb, stimmt's? Ich hab die
kubba vergessen! Das ist eine Schande. Ich versuch's noch mal.
Nein, es hat keinen Sinn, machen wir weiter. Na, und was haben
wir hier? Amba, Mangochutney und Limonenchutney und persischen
Knoblauch und als Krone des Ganzen mechallelah, in Salzlake
eingelegte rote Rüben. Bei mechallelah kann ich sogar das Rot
riechen, glaub mir. Nein, im Ernst, manchmal kann ich Farben
riechen. Das kann ich beweisen. Was, ich habe die burek-Röllchen
ausgelassen? Halt an! Diese Schärfe kommt bestimmt von
Tamarinden, aber verdammt, was ist es noch? Jaaa, ein Hauch Zimt
und auch ein Spritzer Zitronensaft. Nein, sag nichts, es liegt
mir auf der Zunge ... das sind dolma, gefüllte Weinblätter,
stimmt's? Gott, meine Nase wird jeden Tag besser. Blödsinn,
Lina, deine Andeutungen waren minimal. Oh, jetzt sind wir in
einer anderen Welt gelandet, das ist der Geruch des Paradieses
nach dem Regen. Okay, ich sag's genauer, das ist Rosenwasser,
aber den Rest mußt du mir sagen. Zingula-Spiralen? Gute Güte,
mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Du weißt, daß ich
Süßigkeiten nicht widerstehen kann. So, wo wir jetzt beim Gebäck
sind, laß mich ein letztes Mal raten. Meine Nase muß direkt über
malfouf sein, Löffelbiskuits gefüllt mit gemahlenen Mandeln,
stimmt's?
Falsch! sagt Selma und drückt Dudis Kopf runter.
Seine Nase versinkt in den manal-samaks, weichen Nugatküchlein in
Mehl. Selma und ich lachen, bis uns die Tränen kommen; Dudi
niest in das Gebäck, und das Mehl stäubt über den ganzen Tisch.
Er reißt sich die Serviette von den Augen, niest noch mal, rennt
ins Badezimmer, verflucht uns und wischt sich den weißen Staub
vom Gesicht.
Selma und ich laden uns die Teller mit kleinen Happen von allem
voll.
- Das Büfett ist vorzüglich, Selma. Köstlich.
- Das solltest du Mama sagen. Sie hat drei Tagen lang daran
gearbeitet.
Dampf strömt aus ihrem Mund, als sie in eine kubba beißt.
- Mama sagt, ich muß mich als Gastgeberin um all meine Gäste
kümmern, aber ich kann es kaum erwarten, wieder am dossa-Tisch
zu sitzen. Es war doch nicht richtig, das Herz-As zu versetzen,
oder?
- Selma, du wirst es nicht bekommen, und wenn du bis morgen früh
spielst.
Ich wiederhole, was ich von Vaters Einführung in die
Wahrscheinlichkeitsrechnung behalten habe. Auch Selma weiß, daß
die Chance, ein As, irgendeins, aus einem Packen von 52
Spielkarten zu bekommen, 52 geteilt durch 4 ist, also l zu 13.
Sie muß eine Weile kauen und die Finger lecken, bevor sie die
sich daraus ableitende Tatsache akzeptiert, daß die Chance, ein
As, irgendeins, in zwei aufeinanderfolgenden Runden zu bekommen,
1:13x13, und in drei aufeinanderfolgenden Runden 1:13x13x13 ist,
und das muß weniger als eins zu tausend sein!
Aber sie hat nicht nur Asse bekommen, Selma hat in jeder Runde ein
anderes gezogen, eine noch viel unwahrscheinlichere Kombination.
Wie viel? Dazu brauche ich Papier und Bleistift; die Chance muß
l zu 4/52x3/52x2/52 sein, eins zu Tausenden, nehme ich an. Die
Zahlen beeindrucken sie wenig. Selma zerteilt eine getrocknete
Dattel der Länge nach, ersetzt den Kern durch eine Walnuß und
beißt das winzige Sandwich in der Mitte durch. Ob sie wohl
kapiert hat, was ich meine? Sie betrachtet den Rest der Dattel
in ihrer Hand und schaut die Füllung an, als hätte sie sie nicht
selbst vor einem Moment hineingetan.
- Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen, wenn das Ergebnis doch
nur rein zufällig ist? fragt Selma schließlich. Und wenn der
Zufall mir nacheinander drei Asse zugespielt hat, glaubst du
wirklich, daß deine Berechnungen das vierte aufhalten werden?
- Es ist eine Chance von eins zu 4/52x3/52x2/52x1/52! Das ist so
gut wie unmöglich, verstehst du nicht?
Unbeeindruckt stellt sie den leeren Teller auf das Büfett und geht
zurück zum Kartentisch. Laila ist plötzlich die Freundlichkeit
in Person. Sie reicht Selma die Karten und erklärt höflich, daß
sie dem Anblick und dem Geruch des phantastischen Büfetts nicht
länger widerstehen kann. Selma winkt mich fröhlich heran, reibt
sich die Hände, begierig darauf, die Bank zu halten. Ich gehe zu
ihr, verwundert über Lailas plötzlichen Rückzug und noch mehr
über ihre ungewöhnliche Freundlichkeit. Selma zieht ihren
Pullover aus, leert ihren Geldbeutel auf den Tisch und mischt
die Karten.
Sie hat geschwitzt, sagt mir meine Nase. Aber der Geruch ist
scharf, wie gegorener Schweiß, ein Geruch, den Selmas Poren noch
nie von sich gegeben haben.
Sie ist in letzter Zeit so groß geworden, bestimmt größer als ihre
Mutter. Ihr Hintern rundet sich, zerreißt fast ihren Rock, wie
aufgegangene Hefe. Ihre Schultern sind breiter geworden und ihre
Brüste angeschwollen; sie wippen, wenn Selma Karten austeilt
oder sie einsammelt. Ich wette, daß sie bald einen BH trägt.
Und ich wage zu behaupten, daß sie bereits ihre Tage kriegt.
Ihr Bankstapel wird bald zu einem Hügel, nicht ohne die
Unterstützung meiner schimmernden Münzen. Trotzdem ist bisher
weder das Herz-As noch sonst ein As in einem Blatt aufgetaucht.
Selma hört plötzlich auf zu mischen und breitet das Kartenspiel
auf dem Tisch aus, die Karten aufgedeckt.
— Irgendein verdammtes Miststück hat die Asse aus dem Spiel
genommen! schnaubt sie.
— Ein Miststück namens Wolf? kichere ich.
— Lailaaaaaaaaaaaaaa ...
Selma rennt los, um sich ihre Asse wiederzuholen. Ein
merkwürdiger, ein bißchen fischiger Geruch bleibt mir in der
Nase. Dudis krampfartiges Lachen dröhnt aus der Lügenwürfel-Ecke
herüber. Lailas geschminktes Gesicht verzieht sich vor Wut. Mein
Magen kneift, ich ahne das Ende unserer Kindheit.
Mona Yahia:
Durch Bagdad fließt ein dunkler Strom
Dtv Verlag 2004
Euro 9,50
Übersetzung: Susanne Aeckerle
(When the Grey Beetles Took Over Baghdad)
Bestellen?
hagalil.com
13-08-02 |