Angelika Schrobsdorff:
Von der Erinnerung geweckt
[Angelika
Schrobsdorff]
"Von
wem wird meine Mutter verfolgt?" Von den entsetzlichen Fragen eines
Kindes bis zur Verzweiflung über Israel, das keinen Frieden findet,
spannt sich der Bogen. Dabei sind viele dieser Erzählungen so komisch
und traurig zugleich, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen
soll. Es sind auch hier die kleinen Dinge, in denen das Schicksal sich
spiegelt, die Missverständnisse, welche die Wahrheit enthüllen. Fünfzehn
Geschichten, die sehr persönlich und einfühlsam geschrieben sind,
beschreiben das Leben der Autorin.
"Ich schrieb impulsiv,
sozusagen aus dem Bauch (um nicht zu sagen aus dem Herzen), versuchte
den Knoten eines Schmerzes zu lockern, Wut abzulassen, einen Menschen zu
begreifen, mich mit der Schilderung einer komischen Situation zu
erheitern. Ich kann über vieles, was mir passiert ist, nicht sprechen,
weinen schon gar nicht, lachen selten. An der Schreibmaschine kann ich
das alles."
Angelika Schrobsdorff wurde in Freiburg im Breisgau geboren und mußte 1939
mit ihrer jüdischen Mutter aus Berlin nach Sofia emigrieren. Sie kehrte
1947 nach Deutschland zurück. 1971 heiratete sie in Jerusalem Claude
Lanzmann und beschloss 1983, nach Israel zu gehen.
Leseprobe:
Es war das erste Mal, daß ich
meine Mutter weinen sah. Sie lag auf dem Bett und schluchzte wie ein
Kind, das sich sehr weh getan hatte. Ihre Hände waren zu hilflosen
Fäusten geballt, und unter ihren geschlossenen Lidern quollen die Tränen
hervor und liefen als eilige Bächlein in den geöffneten, verzerrten Mund
hinein. Sie merkte nicht, daß ich im Zimmer stand, starr vor Entsetzen
und unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Dann wurde plötzlich die Tür
aufgerissen und eine Freundin meiner Mutter stürzte herein, lief auf das
Bett zu, kniete davor nieder und brach, indem sie ihr Gesicht in das
Kissen grub, ebenfalls in Tränen aus. Da drehte ich mich um und rannte
wie gejagt aus dem Haus.
Im Garten setzte ich mich ins Gras und eine unbestimmte Ahnung, daß
von nun an das Leben ganz anders werden würde, stieg in mir auf.
Einige Stunden darauf ging ich zu meiner Mutter und fragte sie:
»Mutti, warum hast du denn vorhin so geweint?«
Sie schaute mich zärtlich an und antwortete: »Das verstehst du nicht
und sollst es auch noch lange nicht verstehen, meine Kleine.« Da nahm
die Ahnung die Form eines unheimlichen Schattens an, der mich auf
Schritt und Tritt verfolgte.
Es vergingen vier Monate, ohne daß sich etwas Besonderes ereignete,
doch dann eines Morgens erschien meine Mutter nicht zum Frühstück.
»Schläft Mutti noch?« fragte ich unsere Wirtschafterin, die gerade ins
Zimmer trat.
»Nein, sie ist schon ausgegangen«, antwortete Elisabeth hastig und
strich mir über das Haar.
»Ausgegangen!« rief ich. »Das glaube ich nicht!«
Ich wußte, daß Mutti nie zu so früher Stunde das Haus verließ, und
kaum war ich allein, schlich ich mich zum Schlafzimmer meiner Mutter und
äffnete vorsichtig die Tür. Noch ehe ich einen längeren Blick
hineingeworfen hatte, fühlte ich, daß der Raum nicht mehr von ihr
bewohnt wurde. Er war kalt, leer, tot! Und als ich meine Augen über die
einzelnen Gegenstände des Zimmers gleiten ließ, wurde das Gefühl zur
Gewißheit.
Das Bett war nicht mehr bezogen; vom Toilettentisch waren all die
kleinen Fläschchen, Töpfchen und Dosen verschwunden; nirgends lag ein
Taschentuch, ein Buch, ein Strumpf.
Mein Herz klopfte plätzlich wie wahnsinnig. Etwas würgte mich im Hals.
Während ich auf den Schrank zuging, betete ich hastig immer wieder
denselben Satz: Lieber lieber Gott, laß ihn nicht auch leer sein!
Natürlich war er leer - gähnend leer!
Ich starrte fassungslos hinein und murmelte immer noch denselben Satz
vor mich hin. Plätzlich sah ich in der hintersten Ecke eines Faches
einen Handschuh liegen. Es war ein langer schwarzer Glacéhandschuh, der
wie ein verängstigtes, zusammengeducktes Tierchen aussah. Das Würgen in
meinem Hals wurde stärker. Ich ergriff den Handschuh und rannte aus dem
Zimmer und zu meinem Vater.
»Wo ist Mutti?« schrie ich.
Er schien von meinem Ausbruch nicht überrascht, sondern nahm mich
ruhig in den Arm und setzte mich auf sein Knie. Dann nahm er mir den
zerknüllten Handschuh aus der Faust, legte ihn auf sein anderes Knie und
strich ihn sanft und sorgfältig glatt.
»Du brauchst keine Angst zu haben, Angeli«, sagte er, »die Mutti ist
nur wenige Schritte von hier entfernt, in derselben Straße. Sie wohnt
jetzt in der Pension vorne an der Ecke, weißt du.«
»Aber warum denn?« fragte ich verzweifelt. »Ja, Kleine«, begann er
unsicher und schaute hilflos auf den Handschuh hinab, »das verstehst du
noch nicht.«
Da war sie wieder, dieselbe Antwort, und die Ahnung, in Form eines
unheimlichen Schattens, wurde größer.
»Du kannst sie aber, wann du willst, besuchen«, fuhr mein Vater fort.
Seine Stimme klang gequält, und das Lid seines linken Auges zuckte, wie
immer, wenn er in Bedrängnis war.
»Und sie wird doch auch jeden Tag herkommen, nicht wahr?« fragte ich
bittend.
»Ja, ja«, murmelte mein Vater ausweichend, doch an der Art, wie er es
sagte, erkannte ich, daß es nicht stimmte.
Gleich darauf begleitete mich Elisabeth in die Pension. Meine Mutter
schien vergnügt, ja geradezu übermütig zu sein. Sie sprach und lachte
sehr viel und glaubte mich damit zu täuschen. Aber ich spürte
instinktiv, daß sie unendlich traurig war.
Verschreckt schaute ich mich in dem altmodisch-düsteren Zimmer um, und
die Frage: »Warum?« lag mir auf den Lippen. - Aber ich sprach sie nicht
mehr aus.
Erst am Abend, als ich mit meiner um fünf Jahre älteren Schwester zu
Bett ging, versuchte ich es noch einmal und sagte zögernd: »Bettina,
weißt du eigentlich, weshalb Mutti nicht mehr bei uns wohnt?«
Sie warf mir einen schnellen, beunruhigten Blick zu, sprang dann
hastig ins Bett, wühlte sich tief in die Kissen und brummte bitterböse
und damit ihre Unsicherheit verratend: »Laß mich in Ruhe, ich bin müde
und will schlafen.« Und dann nach einer langen Pause: »Schlaf gut,
kleine dumme Gans.«
In dem letzten Satz, der grob klingen sollte, schwang ein verdächtiger
Ton der Zärtlichkeit mit. (...)
Bestellen? Angelika
Schrobsdorff erstmals auf hebräisch verlegt:
Die Geschichte einer Familie
Mehr von Angelika Schrobsdorff:
Jerusalem war schon immer eine schwierige Adresse
»Ich erinnere mich genau, wann die Unruhen anfingen, denn am selben Tag ging
mein Telefon kaputt...« Die »Unruhen«, das ist der Widerstand, die
Abschüttelung, die Rebellion, der erste Aufstand der Palästinenser, die
erste Intifada. Angelika Schrobsdorff begegnet ihr hautnah, denn ihre
Wohnung liegt auf der Grünen Grenze unweit der Altstadt von Jerusalem. Hier
lebt sie mit jüdischen und arabischen Nachbarn zusammen. Ihre genaue
Beobachtungsgabe, ihre Ehrlichkeit und ihre sanfte Ironie geben diesem
Bericht über einen scheinbar aussichtslosen Konflikt zwischen zweier Völker
seine befreiende Wirkung.
Leserbesprechung (amazon.de):
"Ein gerade in unserer Zeit fast krimihaft spannendes Buch - der tiefe
Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis wird plastisch geschildert.
Besonders gefallen hat mir die ironisch-erzählerisch brilliante Sichtweise
der Autorin"...
Die Reise nach Sofia
Die Reise beginnt nicht mit dem gebuchten Flugzeug und die
Landung auf einem winzigen Flughafen am Schwarzen Meer ist unplanmäßig. Wie
die Passagiere aus Paris dennoch irgendwann nach Sofia gelangen, ist
abenteuerlich. Doch Angelika Schrobsdorff trägt das alles mit Humor. Sie
kennt die Verhältnisse, hat sie doch als Kind mit ihrer Mutter, einer
deutschen Jüdin, acht Jahre als Eminrantin in Bulgarien gelebt. Sehnsüchtig
wird sie von ihrer Jugendfreundin Ludmilla erwartet, die alsbald zu einem
Gegenbesuch nach Paris aufbricht. Die Begegnungen zwischen den beiden
Jugendfreundinnen werden zum Ausgangspunkt amüsant geplauderter, aber mit
analytischer Ironie erfasster Beobachtungen über Konsum und Liebe, Freiheit
und Glück in Ost und West.
Simone de Beauvoir hat das Vorwort zu diesen interessanten Gesprächen
geschrieben.
Jericho
Jericho, die älteste Stadt der Welt, eine Oase 250 Meter
unter dem Meeresspiegel, ein Traumgebilde und heißumkämpfter Ort inmitten
der Judäischen Wüste ... Angelika Schrobsdorff erzählt von »ihrem« Jericho,
von ihrer »Insel, die man sozusagen auf einem fliegenden Teppich erreicht«,
von Liebe und Leidenschaft, von Kummer und Hoffnungslosigkeit, von immer
neuen Träumen und von der konkreten Wirklichkeit.
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