
Moishe Postone:
Deutschland, die Linke und der Holocaust
Politische Interventionen
ça ira,
Freiburg 2005
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Leseprobe:
Antisemitismus und Nationalsozialismus
Von Moishe Postone
© ça ira-Verlag
2005, www.isf-freiburg.org
I. Ausmaß und Stärke der Reaktionen auf den
Fernsehfilm Holocaust werfen Fragen bezüglich des Verhältnisses von
Antisemitismus und Nationalsozialismus und deren öffentliche Diskussion
in der BRD auf.[1]
Diese Diskussion ist durch eine offenbare Antinomie
gekennzeichnet. Einerseits haben Liberale und Konservative, während sie die
Diskontinuität zwischen der Nazivergangenheit und der Gegenwart betonten, im
Bezug auf jene Vergangenheit ihre Aufmerksamkeit auf die Verfolgung und
Vernichtung der Juden konzentriert. Andere Gesichtspunkte, die für den
Nazismus zentral waren, sind dabei vernachlässigt worden. Die Betonung des
Antisemitismus diente dazu, den angeblich totalen Bruch zwischen dem Dritten
Reich und der BRD zu unterstreichen. Eine Auseinandersetzung mit der
gesellschaftlichen und strukturellen Wirklichkeit des Nationalsozialismus,
die 1945 nicht plötzlich verschwunden war, wurde so vermieden. Es ist
bezeichnend, daß die westdeutsche Regierung an Juden
'Wiedergutmachungszahlungen' leistet, jedoch nicht an Kommunisten und andere
verfolgte, radikale Gegner der Nazis. Mit anderen Worten, was den Juden
geschah, ist instrumentalisiert und in eine Ideologie zur Legitimation des
gegenwärtigen Systems verwandelt worden. Diese Instrumentalisierung war nur
möglich, weil der Antisemitismus vorwiegend als eine Form des Vorurteils
behandelt wurde. Eine solche Sündenbockideologie ist eine Auffassung, die
die innere Beziehung zwischen Antisemitismus und anderen Aspekten des
Nationalsozialismus verdeckt.
Andererseits neigte die Linke dazu, sich auf die Funktion
des Nationalsozialismus für den Kapitalismus zu konzentrieren. Sie hob daher
die Zerstörung der organisierten Arbeiterklasse hervor, die Gesellschafts-
und Wirtschaftspolitik der Nazis, den Expansionismus und die bürokratischen
Herrschaftstechniken von Partei und Staat. Kontinuitätsmomente zwischen dem
Dritten Reich und der Bundesrepublik wurden von ihr betont, doch hat sie die
Vernichtung der Juden natürlich nicht unterschlagen. Allerdings ist die
Vernichtung schnell unter die allgemeinen Kategorien von Vorurteil,
Diskriminierung und Verfolgung subsumiert worden.[2]
Mit anderen Worten: Die Vernichtung der Juden wurde außerhalb des Rahmens
einer Analyse des Nazismus behandelt. Antisemitismus wurde als eher
peripheres denn als zentrales Moment des Nationalsozialismus verstanden.
Auch die Linke hat die inneren Beziehungen zwischen beiden verdeckt.
Beide Positionen teilen ein Verständnis von modernem
Antisemitismus als antijüdischem Vorurteil, als besonderem Beispiel für den
Rassismus im allgemeinen. Die massenpsychologische Natur des Antisemitismus
wird in einer Weise betont, die es ausschließt, ihn in eine sozioökonomische
Untersuchung des Nationalsozialismus einzubeziehen.
Die Schwäche dieses Verhältnisses war insbesondere in den
TV-Diskussionen offensichtlich, die im Anschluß an die Ausstrahlungen des
Fernsehmehrteilers Holocaust geführt wurden. Die Podiumsteilnehmer waren
besonders gut darin, Informationen zu vermitteln: über die Bedingungen in
den Konzentrationslagern, die Aktivitäten der 'Einsatzgruppen' und deren
Zusammensetzung (der Polizei ebenso wie der SS-Einheiten), den Massenmord an
den Zigeunern und über die materiellen Schwierigkeiten und das Ausmaß des
jüdischen Widerstandes. Jedoch gerieten sie in Verlegenheit, als sie die
Vernichtung des europäischen Judentums zu erklären versuchten. Sie
erörterten die Frage hauptsächlich unter der Annahme eines Mangels an
Zivilcourage in der Bevölkerung (was implizierte, daß die überwiegende
Mehrheit der deutschen Bevölkerung dem Antisemitismus der Nazis zumindest
passiv widerstanden habe oder in den allgemeinen Kategorien von Mißtrauen
und Furcht gegenüber dem Anderen oder in individualpsychologischen
Kategorien ("Der potentielle 'Dorf' steckt in jedem von uns")[3]
Über Antisemitismus wurde hingegen wenig gesprochen und es gab keinen
Versuch, den modernen Antisemitismus genauer zu bestimmen und ihn auf den
Nazismus zu beziehen. Folgerichtig blieb die Frage, warum so etwas geschehen
konnte, notwendig rhetorisch und bloßer Ausdruck von Scham und Entsetzen.
Die Scham und das Entsetzen, die der Film weckte,
fokussierte die Diskussion auf die Frage, ob die Deutschen gewußt hätten,
was den Juden geschehen war; eine Frage, die in Fernsehen und Presse sehr
hitzig und emotional diskutiert wurde.[4] Indem
Holocaust Massenerschießungen von Juden durch 'Einsatzgruppen' zeigte,
untergrub der Film die Fiktion, der Völkermord der Nazi sei Sache einer
Handvoll Leute gewesen, die innerhalb eines Rahmens operierten, der von den
Soldaten wie von der übrigen deutschen Bevölkerung hermetisch getrennt
gewesen sei. Die Tatsache, daß Millionen Juden, Russen und Polen außerhalb
der Lager mit Wissen und zeitweise mit aktiver Unterstützung der Wehrmacht
ermordet wurden oder Hungers starben, konnte vom öffentlichen Bewußtsein
nicht länger verdrängt werden.[5] Die öffentliche
Reaktion auf Holocaust machte klar, daß Millionen Deutscher tatsächlich
davon gewußt haben mußten, selbst wenn nicht in allen Einzelheiten.
Die Tatsache dieses Wissens wirft das Problem auf, daß der
typische Deutsche nach dem Krieg darauf beharrte, nichts über die
Vernichtung des europäischen Judentums und andere Naziverbrechen gegen die
Menschheit gewußt zu haben. Es ist klar, daß die Verleugnung dieses Wissens
einen Versuch darstellt, die Schuld zu leugnen. Es könnte jedoch
argumentiert werden, daß, selbst wenn die Leute davon gewußt hätten, es
wenig gab, was sie hätten tun können. Das Wissen um die Naziverbrechen muß
nicht notwendigerweise Schuld einschließen. Welche Bedeutung hat also die
Leugnung dieses Wissens nach dem Krieg, als die Meisten doch sicherlich
alles wußten?
Nach dem Krieg darauf zu beharren, nichts gewußt zu haben,
muß vermutlich als fortgesetztes Beharren darauf interpretiert werden,
nichts wissen zu wollen. "Wir wußten nicht" müßte als "Wir wollen noch immer
nicht wissen" interpretiert werden. Das Wissen zuzugestehen – selbst als
post factum erworbenes – hätte notwendig eine innere Distanzierung von
vergangener Identifikation erfordert und zu politischen und
gesellschaftlichen Konsequenzen geführt. Wären die Menschen nach dem Krieg
für dieses Wissen offen gewesen, wäre vielleicht das, was ersichtlich
fehlte, eingetreten: eine massive öffentliche Reaktion des Entsetzens und
die Forderung nach gerechter Strafe. Vielleicht wäre es für viele
Nazibeamte, Staatsanwälte und Richter nicht möglich gewesen, weiterhin die
gleichen Funktionen in der Bundesrepublik auszuüben.[6]
Ein antinazistischer Umschwung der Massen stand jedoch nicht auf der
Tagesordnung. Das Ziel war 'Normalität' um jeden Preis – eine Normalität,
die ohne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit erreicht werden sollte.
Die starke Identifikation mit jener Vergangenheit wurde nicht überwunden,
sondern einfach unter Unmengen von Volkswagen begraben.
Das Ergebnis war psychische Selbstverleugnung und
Verdrängung. Es gibt viele Interpretationen der Natur dieser massiven
psychischen Verdrängung: Angst vor Strafe, Scham, fortgesetzte
Identifikation oder statt der Überwindung die Verleugnung einer vergangenen
starken Identifikation (Mitscherlichs These von der Unfähigkeit zu trauern).
Daß eine solche Verdrängung stattfand, ist unbestreitbar. Daraus entstand
eine Art kollektiver Somnambulismus: Die Mehrheit der Bevölkerung ging
schlafwandelnd durch den Kalten Krieg, durch das 'Wirtschaftswunder' und
durch das Wiederauftauchen von Politik während der Studentenbewegung.
Dieser schlafähnliche Zustand ist durch Holocaust,
zumindest für einen Augenblick, erschüttert worden. Dies ist vermutlich
ebenso ein Ergebnis der Zeit als des Films selbst. 34 Jahre nach Kriegsende
hat sich die Geschichte verlangsamt. Die Vorwärtsgerichtetheit der
Nachkriegsära – die Aufsplitterung der Welt in zwei Lager; die Periode der
wirtschaftlichen Expansion, in der Glück durch Konsum erkauft werden sollte;
die Periode der Studentenbewegung, als man die Wurzel allen Glücks in der
praktischen Politik vermutete, ist vorüber. Die Vergangenheit, die man
glaubte hinter sich gelassen zu haben, ist wieder aufgetaucht. Sie war immer
im Schlepptau, einen Schritt hinterher. Das ist jetzt offensichtlich
geworden. Doch ist es noch zu früh, um festzustellen, ob die Reaktionen auf
Holocaust zu Auseinandersetzungen mit weitreichenden Konsequenzen führen
oder sich als eine vorübergehende Katharsis erweisen werden.
II.
Das Problem des Wissens von der Nazi-Vergangenheit hat
eine besondere Rolle in der deutschen Neuen Linken gespielt, die nicht
unmittelbar auf der Hand liegt. Diese Vergangenheit und ihre kollektive
psychische Verdrängung waren sehr wichtige Momente in der Entstehung der
Neuen Linken. Obwohl es eine Diskussion über den Nazismus und den Holocaust
innerhalb der Linken gab, haben viele Gespräche in Frankfurt jüngst ein
bemerkenswertes Phänomen offenbart: Während die meisten der älteren
Generation der Neuen Linken sich in den 60er Jahren intensiv mit dem Problem
beschäftigt haben, scheint es, daß ein großer Teil der jüngeren Generation,
vielleicht die meisten, die sich 1968 und danach politisiert haben, über die
Vernichtung des europäischen Judentums niemals Dokumentationen eingesehen
oder sich überhaupt informiert hatten. Für diese Generation war Holocaust
ein Schockerlebnis. Es war das erste Mal, daß sie konkret und hautnah mit
dem Schicksal der Juden konfrontiert wurden. Sie hatten natürlich davon
gewußt, aber offensichtlich nur abstrakt. Mit der Wirklichkeit dieses
Entsetzens haben sie sich nie konkret auseinandergesetzt. Das Fehlen einer
solchen Konfrontation spiegelte sich im Umgang der Nach-68er-Generation mit
Geschichte und in ihrem Verständnis des Nationalsozialismus wieder.
In den späten 60er und den frühen 70er Jahren schenkte die
Neue Linke der Geschichte der Arbeiterbewegung, insbesondere von 1918 bis
1923, und dem Widerstand gegen die Nazis weit mehr Aufmerksamkeit als der
Geschichte des Nationalsozialismus selbst. Das Studium der Geschichte wurde
zu einer Suche nach Identifikation, einer Suche, die angesichts der
Nazivergangenheit besonders intensiv war. Eine historische Konfrontation mit
dem Dritten Reich wurde dadurch jedoch umgangen. Durch die Hervorhebung der
revolutionären Bewegungen, die auf den Ersten Weltkrieg folgten, wurde aber
die Tatsache verdeckt, daß diese Geschichte spätestens 1933 zu Ende war und
weder in der BRD noch in der DDR eine lebendigehistorische Tradition
darstellte. Das Bedürfnis nach Identifikation führte zu einer Überbetonung
des Widerstands gegen Hitler, die eine Auseinandersetzung mit der
Popularität des Naziregimes vermied. Dadurch wurde aber auch die Entwicklung
eines Verständnisses für die Lage der Juden in Europa zwischen 1933 und 1945
abgeblockt. Vielmehr wurde der 'Mangel an jüdischem Widerstand' zu einer
impliziten Anklage, anstatt Ausgangspunkt für genauere Untersuchungen zu
bilden.
Das Fehlen wirklichen Wissens über die Aktivitäten und die
Politik der Nazis in Polen und in der Sowjetunion, in den Ghettos und in den
Vernichtungslagern führte zu einem unvollständigen Bild des Nazismus. Das
Ergebnis war eine Analyse des Nationalsozialismus, die jene Momente des
Phänomens heranzog, welche in den Jahren 1933-1939 augenscheinlich waren:
ein terroristischer, bürokratischer Polizeistaat, der im unmittelbaren
Interesse des Großkapitals arbeitete und auf autoritären Strukturen, der
Glorifizierung der Familie und der Benutzung des Rassismus als Mittel für
den gesellschaftlichen Zusammenhalt beruhte. Diese Art der Analyse wurde
noch durch die kommunistische Angewohnheit verstärkt, lieber vom Faschismus
als vom Nazismus zu sprechen, wodurch die Klassenfunktion unter Ausschluß
anderer Momente hervorgehoben wurde. Mit anderen Worten: Sowohl die
undogmatische Linke als auch die orthodoxen Marxisten neigten dazu, den
Antisemitismus als Randerscheinung des Nationalsozialismus zu behandeln.
Dadurch wurden die Naziverbrechen gegen die Menschheit von der
sozialhistorischen Untersuchung des Nationalsozialismus getrennt. Das
Ergebnis ist, daß die Vernichtungslager entweder als bloße Beispiele
imperialistischer (oder totalitärer) Massenmorde erscheinen oder unerklärt
bleiben.
Das Bestehen auf einer Auseinandersetzung mit der
Besonderheit des Nazismus und der Vernichtung des europäischen Judentums ist
in Deutschland häufig als eine Anklage verstanden worden – auch von der
Linken. Daß Terror, Massenmord, Rassismus und Autoritarismus ein deutsches
Monopol seien, ist ein Mißverständnis, das Abwehrreaktionen hervorruft. Die
bloße Erwähnung von Nazismus wird unmittelbar mit Greuelbeispielen in
Vietnam, Palästina usw. 'beantwortet'. Auch linke Theorien des
Nationalsozialismus neigen zu dieser Abwehrhaltung. Objektivistische
Theorien verkehren entweder Horkheimers Diktum von der Beziehung zwischen
Kapitalismus und Faschismus in eine vorausgesetzte Identität oder vermitteln
beides ökonomistisch. Subjektivistische Theorien (wie z.B. die von
Theweleit[7]) lassen hingegen die Besonderheit des
Nationalsozialismus außer acht. So wird das Dritte Reich entweder mit dem
Kapital oder mit dem Patriarchat identifiziert, jedenfalls in historisch
unspezifischen Kategorien begriffen.
Theorie wurde zu einer Form psychischer Verdrängung.
Konzepte wurden lieber genutzt, um eine unverstellte Wahrnehmung des
Nazismus abzublocken, als um jene Wirklichkeit zu begreifen und verstehbar
zu machen. Diese Verkehrung der Funktion von Analyse nährte sich meines
Erachtens aus der Abscheu und Schuld, die die Nachkriegsgeneration gegenüber
der Nazi-Vergangenheit empfand. Mit dem Schuldgefühl war nur schwer
umzugehen. Es war kaum zu greifen, da es ja nicht auf wirklicher Schuld
beruhte. Die Verbindung von Abscheu und Schuld führte vielmehr zu einem
Interesse am Nazismus, das durch Abwehrreaktionen gekennzeichnet war. Jene
verhinderten eine Auseinandersetzung mit der Besonderheit der Vergangenheit,
da ein Zugeständnis jener Besonderheit mit einem Eingeständnis von Schuld
verbunden gewesen wäre. Als Ergebnis wurde der Nazismus als leere
Abstraktion behandelt, die mit Kapitalismus, Bürokratie und autoritären
Strukturen assoziiert wurde und einfach eine schlimmere Ausprägung der uns
bekannten 'Normalität' gewesen sei. Dadurch wurde nicht nur die Besonderheit
der deutschen Vergangenheit aufgehoben, sondern der Terminus 'Faschismus'
durch rhetorische Inflation in seiner Bedeutung entwertet. Einerseits
verkannte diese einseitige Betonung der oben angesprochenen Momente des
Nationalsozialismus seine antibürgerlichen Aspekte: die Revolte, sowie den
Haß auf die Herrschenden und den grauen kapitalistischen Alltag.
Andererseits konnte der Kampf gegen die autoritäre, kapitalistische
Gegenwart der BRD, die durch Kontinuitäten der Nazivergangenheit geprägt
war, als direkter Kampf gegen Faschismus interpretiert werden. Dies war ein
Versuch, das damalige Fehlen eines deutschen Widerstandes wiedergutzumachen.
Solche Tendenzen beeinflußten stark die politische Diskussion im Frankfurt
der 70er Jahre, die in hohem Maße durch die Auseinandersetzung mit Theorie,
Strategie und Taktik des westdeutschen Untergrunds bestimmt war. Viele
politische Aktivitäten in der BRD werden heute als 'Lernen aus der
Vergangenheit' dargestellt. Die Foci des politischen Interesses und der
Aktivität in Westdeutschland sind die Kämpfe gegen Unterdrückung,
Berufsverbot, den Eingriff in bürgerliche Freiheiten, Gerichtsverfahren, die
erschreckende Behandlung politischer Gefangener (in Wirklichkeit aller
Gefangener), die Diskriminierung ausländischer Arbeiter, Rassismus und
Kernenergie mit ihren politischen wie ökologischen Auswirkungen. Machen es
diese Kämpfe notwendig, aus der Nazi-Vergangenheit zu lernen? Sicherlich
sind sie zwar gegen den autoritären Staat gerichtet. Diese Bestimmung
erschöpft die des Nationalsozialismus aber keineswegs. Diese Kampagnen – so
wichtig sie sind – als 'Lernen aus der Vergangenheit' darzustellen, ist
irgendwie verdächtig. Das Lernen geht hier etwas zu schnell und stellt zum
Teil eine Flucht aus der Besonderheit jener Vergangenheit dar.
Die Auswirkungen dieser Flucht sind zweideutig. Ich
bezweifle, daß es im Westen eine andere Linke gibt, die gegenüber
Entwicklungen in anderen Ländern so offen und informiert ist wie die
westdeutsche. Jedoch spürt man eine unterschwellige Verzweiflung, eine Suche
nach Identität, mit der große Teile der undogmatischen Linken versucht
haben, sich unmittelbar auf die Entwicklungen im Ausland zu beziehen – den
italienischen 'heißen Herbst' 1969, die Black-Panther-Bewegung, Palästina,
Portugal, alternative Projekte in den USA, die italienischen Stadtindianer,
die französische ' Neue Philosophie' usw.
Am deutlichsten kam das Probleme des Lernen und
Verdrängens, beziehungsweise von Flucht und der Suche nach Identität, in der
Haltung der deutschen Neuen Linken gegenüber Israel zum Vorschein. Keine
westliche Linke war vor 1967 in dem Maße philosemitisch und prozionistisch
wie sie nach dem Sechs-Tage-Krieg propalästinensisch war. Was
'Antizionismus' genannt wurde, war in Wirklichkeit so emotional und
psychisch beladen, daß es weit über die Grenzen einer politischen und
gesellschaftlichen Kritik am Zionismus hinausging. Das bloße Wort war so
negativ besetzt wie Nazismus; und das in einem Land, wo die Linke es hätte
besser wissen müssen.[8] Der Wendepunkt vom
Philosemitismus zu jener Form des Antizionismus war der Krieg 1967. Ich
vermute, daß hier ein Prozeß psychologischer Umkehr stattfand, in dem die
Juden als Sieger mit der Nazi-Vergangenheit identifiziert wurden – positiv
durch die deutsche Rechte, negativ von der Linken. Umgekehrt wurden die
Opfer der Juden, nämlich die Palästinenser, als Juden identifiziert. Es ist
in dieser Hinsicht bemerkenswert, daß der Auslöser für eine solche Wende
nicht die Vertreibung und das Leiden der Palästinenser war, das schon lange
vor 1967 begonnen hatte, sondern der siegreiche 'Blitzkrieg' der Israelis.
Der Philosemitismus offenbarte seine andere Seite: Wenn die Juden einerseits
keine Opfer sind und deshalb integer und andererseits die Israelis brutal
und rassistisch sind, dann müssen sie 'Nazis' sein. Nach der Schlacht von
Karameh 1968 erwiesen sich die Palästinenser zudem als die 'besseren Juden'
– sie leisteten Widerstand. So war endlich eine Gelegenheit gegeben, sich
mit den 'Juden' und mit ihrem Widerstand zu identifizieren. Der Kampf gegen
Zionismus verwandelte sich in den langersehnten Kampf gegen die
Nazivergangenheit – befreit von Schuld.
Diese Abfolge psychischer Verkehrung manifestierte sich am
groteskesten 1976 in Entebbe. Ein Flugzeug der Air France war entführt und
alle nicht-jüdischen Passagiere freigelassen worden. Als Geiseln wurden die
jüdischen Passagiere zurückgehalten, nicht einfach alle Israelis – was
schlimm genug gewesen wäre. Dieses 'Selektionsverfahren' wurde, weniger als
vierzig Jahre nach Auschwitz, von zwei jungen linken Deutschen vorgenommen.
Innerhalb der Neuen Linken in Deutschland gab es keine öffentliche
Protestreaktion – geschweige denn einen allgemeinen Aufschrei. 'Lernen aus
der Vergangenheit' ist von einer Verwirklichung noch weit entfernt. Schuld
hatte es abgeblockt, Unkenntnis hatte es behindert, und das überwältigende
Bedürfnis nach unzweideutiger Identifikation hatte es schließlich verdrängt.
Vielleicht haben die unmittelbaren Probleme, denen sich eine deutsche Linke
gegenübersieht, viel mehr mit einem zunehmend autoritären technokratischen
Kapitalismus zu tun als mit Nazismus und Antisemitismus. Nichtsdestoweniger
lastet die Vergangenheit zu schwer, als daß sie ignoriert werden könnte; der
Versuch, die Vergangenheit beiseite zu schieben, um mit der Gegenwart fertig
zu werden, hat nicht funktioniert. Die verdrängte Vergangenheit ist
geblieben, hat ihre untergründige Arbeit fortgesetzt und dazu beigetragen,
den Umgang mit der Gegenwart zu bestimmen.
III.
Ein wichtiger Aspekt in der Konfrontation mit dieser
Vergangenheit wäre der Versuch, sich mit der Beziehung von Antisemitismus
und Nationalsozialismus auseinanderzusetzen; zu versuchen, die Vernichtung
des europäischen Judentums zu verstehen. Das kann nicht gelingen, solange
Antisemitismus als Beispiel für Rassismus sans phrase und der Nazismus als
Ausdruck des Großkapitals und eines terroristisch-bürokratischen
Polizeistaates verstanden wird. Auschwitz, Chelmo, Majdanek, Sobibor und
Treblinka dürfen nicht außerhalb der Analyse des Nationalsozialismus
behandelt werden. Sie stellen nicht einfach seine furchtbarsten
Randerscheinungen dar, sondern einen seiner logischen Endpunkte. Keine
Analyse des Nationalsozialismus, die nicht die Vernichtung des europäischen
Judentums erklären kann, wird ihm gerecht.
Meine Absicht ist nicht die Beantwortung der Frage, warum
dem Nazismus und dem modernen Antisemitismus ein historischer Durchbruch in
Deutschland gelungen ist. Ein solcher Versuch müßte einer Betrachtung der
Besonderheit deutscher Entwicklung Rechnung tragen: darüber ist zur Genüge
gearbeitet worden. Dieser Essay will vielmehr untersuchen, was damals
durchbrach: Er ist eine Betrachtung der Aspekte des modernen Antisemitismus,
die als unabdingbarer Bestandteil des deutschen Nationalsozialismus
verstanden werden müssen und dazu beitragen, die Vernichtung des
europäischen Judentums zu erklären. Dies ist auch die notwendige
Voraussetzung einer adäquaten Beantwortung der Frage, warum es gerade in
Deutschland geschah. Was ist die Besonderheit des Holocaust und des modernen
Antisemitismus? Dies ist sicherlich keine Frage der Quantität, sei es der
Zahl der Menschen, die ermordet worden sind, noch des Ausmaßes ihres
Leidens. Es gibt zu viele historische Beispiele für Massenmord und Genozid.
So sind zum Beispiel viel mehr Russen als Juden von den Nazis getötet
worden. Die Frage zielt vielmehr auf die qualitative Besonderheit. Bestimmte
Aspekte der Vernichtung des europäischen Judentums bleiben so lange
unerklärlich, wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für Vorurteil,
Fremdenhaß und Rassismus allgemein behandelt wird, als Beispiel für
Sündenbockstrategien, deren Opfer auch sehr gut Mitglieder irgendeiner
anderen Gruppe hätten gewesen sein können. Charakteristisch für den
Holocaust war der verhältnismäßig geringe Anteil an Emotion und
unmittelbarem Haß (im Gegensatz zu Pogromen zum Beispiel).
Dafür zeichnete ihn das Selbstverständnis einer
ideologischen Mission aus, und, was das wichtigste ist: Der Holocaust hatte
keine funktionelle Bedeutung. Die Vernichtung der Juden war kein Mittel zu
einem anderen Zweck. Sie wurden nicht aus militärischen Gründen ausgerottet
oder um gewaltsam Land zu nehmen (wie bei den amerikanischen Indianern); es
ging auch nicht um die Auslöschung der potentiellen Widerstandskämpfer unter
den Juden, mit dem Ziel, den Rest als Heloten besser ausbeuten zu können
(dies war übrigens die Politik der Nazis den Polen und Russen gegenüber). Es
gab auch kein 'äußeres' Ziel. Die Vernichtung der Juden mußte nicht nur
total sein, sondern war sich selbst Zweck – Vernichtung um der Vernichtung
willen –, ein Zweck, der absolute Priorität beanspruchte.[9]
Eine funktionalistische Erklärung des Massenmords und eine
Sündenbocktheorie des Antisemitismus können nicht einmal im Ansatz erklären,
warum in den letzten Kriegsjahren, als die deutsche Wehrmacht von der Roten
Armee überrollt wurde, ein bedeutender Teil des Schienenverkehrs für den
Transport der Juden zu den Gaskammern benutzt wurde und nicht für die
logistische Unterstützung des Heeres. Ist die qualitative Besonderheit der
Vernichtung des europäischen Judentums einmal erkannt, wird klar, daß
Erklärungsversuche, die sich auf Kapitalismus, Rassismus, Bürokratie,
sexuelle Unterdrückung oder die autoritäre Persönlichkeit stützen, viel zu
allgemein bleiben. Die Besonderheit des Holocaust erfordert eine
spezifischere Vermittlung, um sie wenigstens im Ansatz zu verstehen. Die
Vernichtung des europäischen Judentums steht natürlich in Beziehung zum
Antisemitismus. Die Besonderheit des ersteren muß auf letzteren bezogen
werden. Darüber hinaus muß der moderne Antisemitismus im Hinblick auf den
Nazismus als Bewegung verstanden werden – eine Bewegung die in der Sprache
ihres eigenen Selbstverständnisses eine Revolte war.
Der moderne Antisemitismus, der nicht mit dem täglichen
antijüdischen Vorurteil verwechselt werden darf, ist eine Ideologie, eine
Denkform, die in Europa im späten 19. Jahrhundert auftrat. Sein Auftreten
setzt Jahrhunderte früherer Formen des Antisemitismus voraus. Antisemitismus
ist immer ein integraler Bestandteil der christlich westlichen Zivilisation
gewesen. Allen Formen des Antisemitismus ist eine Vorstellung von jüdischer
Macht gemein: die Macht, Gott zu töten, die Beulenpest loszulassen oder, in
jüngerer Zeit, Kapitalismus und Sozialismus herbeizuführen. Seine Denkweise
ist manichäisch, mit den Juden in der Rolle der Kinder der Finsternis. Nicht
nur Ausmaß, sondern auch Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht
unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus. Alle
Formen des Rassismus schreiben dem Anderen potentielle Macht zu. Diese Macht
ist gemeinhin konkret, materiell und sexuell. Es ist die potentielle Macht
des Unterdrückten (als Macht des Verdrängten) in Gestalt des
'Untermenschen'. Die den Juden zugeschriebene Macht ist jedoch größer und
wird nicht nur als potentiell, sondern als tatsächlich wahrgenommen. Sie ist
vielmehr eine andere Art der Macht, die nicht notwendigerweise konkret ist.
Die den Juden im modernen Antisemitismus zugeschriebene
Macht wird durch mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Universalität
charakterisiert. Es wird angenommen, daß diese Form der Macht sich selbst
nicht direkt manifestieren kann, sondern eine gesonderte Ausdrucksweise
benötigt. Sie sucht sich einen Träger, sei er politisch, sozial oder
kulturell, durch den sie wirken kann. Weil die Macht der Juden nicht konkret
gebunden, nicht 'verwurzelt' ist, wird sie zum einen als überwältigend
wahrgenommen und ist zum anderen sehr schwer nachzuprüfen. Es wird
angenommen, daß sie hinter den Erscheinungen stehe, ohne mit diesen
identisch zu seien. Ihre Quelle ist hinterlistig verborgen: konspirativ. Die
Juden stehen für eine ungeheuer machtvolle, unfaßbare internationale
Verschwörung. Ein Naziplakat bietet ein plastisches Beispiel für diese
Wahrnehmung: Es zeigt Deutschland – dargestellt als starken, ehrlichen
Arbeiter – das im Westen durch einen fetten, plutokratischen John Bull
bedroht ist und im Osten durch einen brutalen, barbarischen,
bolschewistischen Kommissar. Jedoch sind diese beiden feindlichen Kräfte
bloße Marionetten. Über den Rand des Globus, die Marionetten fest in der
Hand, späht der Jude. Eine solche Vision war keineswegs Monopol der Nazis.
Der moderne Antisemitismus ist dadurch gekennzeichnet, daß die Juden für die
geheime Kraft hinter jenen Widersachern, dem plutokratischen Kapitalismus
und dem Sozialismus gehalten werden. 'Das internationale Judentum' wird
darüber hinaus als das wahrgenommen, was hinter dem 'Asphaltdschungel' der
wuchernden Metropolen, hinter der 'vulgären, materialistischen, modernen
Kultur' und, generell, hinter allen Kräften steht, die zum Niedergang
althergebrachter sozialer Zusammenhänge, Werte und Institutionen führen. Die
Juden stellen demnach eine fremde, gefährliche und destruktive Macht dar,
die die soziale 'Gesundheit' der Nation untergräbt. Für den modernen
Antisemitismus ist nicht nur sein säkularer Inhalt charakteristisch, sondern
auch sein systemartiger Charakter. Er beansprucht, die Welt zu erklären.
Diese deskriptive Bestimmung des modernen Antisemitismus
ist zwar notwendig, um ihn von Vorurteil oder Rassismus im allgemeinen zu
unterscheiden; sie kann jedoch als solche noch nicht die innere Beziehung
zum Nationalsozialismus aufzeigen. Die Absicht also, die übliche Trennung
zwischen einer sozioökonomischen Analyse des Nazismus und einer Untersuchung
des Antisemitismus zu überwinden, ist auf dieser Ebene noch nicht erfüllt.
Es bedarf einer Erklärung, die fähig ist, beides zu vermitteln. Sie muß in
der Lage sein, den oben beschriebenen Antisemitismus in den gleichen
historischen Kategorien zu fassen, die auch benutzt werden könnten, um den
Nationalsozialismus zu erklären. Es ist nicht meine Absicht,
sozialpsychologische oder psychoanalytische Erklärungen zu negieren [10],
sondern vielmehr einen historisch-erkenntnistheoretischen Zusammenhang zu
erläutern, innerhalb dessen weitere psychologische Spezifizierung
stattfinden kann.
Solch ein Zusammenhang muß den besonderen Inhalt des
modernen Antisemitismus fassen und hat insofern historisch zu sein, da
erklärt werden muß, warum diese Ideologie – beginnend im ausgehenden 19.
Jahrhundert – sich zu jener Zeit so verbreitete. Fehlt ein solcher
Zusammenhang, bleiben alle anderen Erklärungsversuche, die sich um
Subjektivität zentrieren, historisch unspezifisch. Es bedarf einer Erklärung
in Form einer materialistischen Erkenntnistheorie. Eine vollständige
Entfaltung des Antisemitismusproblems würde den Rahmen dieses Essaysbei
weitem sprengen.
Dennoch gilt es hervorzuheben, daß eine sorgfältige
Überprüfung des modernen antisemitischen Weltbildes das Vorliegen einer
Denkform deutlich werden läßt, in der die rasche Entwicklung des
industriellen Kapitalismus durch den Juden personifiziert und mit ihm
identifiziert wird. Es handelt sich dabei nicht um die bloße Wahrnehmung der
Juden als Träger von Geld – wie im traditionellen Antisemitismus; vielmehr
werden sie für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit
gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit
der raschen Industrialisierung einhergehen: explosive Verstädterung, der
Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen
eines großen, in zunehmendem Maße sich organisierenden industriellen
Proletariats und so weiter.
Mit anderen Worten: Die abstrakte Herrschaft des Kapitals,
wie sie besonders mit der raschen Industrialisierung einhergeht, verstrickte
die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut
zu werden vermochten, in Gestalt des 'internationalen Judentum' wahrgenommen
wurden. Dies ist nicht wesentlich mehr als ein erster Zugang. Die
Personifizierung ist zwar beschrieben, aber nicht erklärt. Es fehlt die
erkenntnistheoretische Begründung. Ansätze dazu hat es gegeben. Das Problem
jener Theorien – wie der Max Horkheimers[11] –,
die sich wesentlich auf die Identifizierung der Juden mit dem Geld und damit
auf die Zirkulationssphäre beziehen, besteht darin, daß sie nicht imstande
sind, die antisemitische Vorstellung einzufangen, Juden stünden hinter
Sozialdemokratie und Kommunismus. Auf den ersten Blick erscheinen Theorien
wie die George Mosses[12], die den modernen
Antisemitismus als Revolte gegen die 'Moderne' interpretieren, angemessener.
Sowohl Plutokratie als auch Arbeiterbewegung waren Begleiterscheinungen der
Moderne, beziehungsweise der massiven sozialen Umstrukturierungen, die aus
der kapitalistischen Industrialisierung resultierten.
Das Problem, das sich solchen Ansätzen stellt, ist der
Umstand, daß die 'Moderne' ohne Zweifel das Industriekapital einschließt,
welches bekanntlich gerade nicht Objekt antisemitischer Angriffe war, nicht
einmal in der Periode rascher Industrialisierung. Die Einstellung der
Nationalsozialisten gegenüber anderen Dimensionen der Modernität,
insbesondere gegenüber modernen Technologien, war vielmehr affirmativ als
kritisch. Jene Aspekte des modernen Lebens, die jeweils zurückgewiesen, und
solche, die angenommen wurden, bilden zusammengenommen ein Muster. Dieses
Muster muß in einem adäquaten Konzept dieses Problems enthalten sein. Da das
Muster nicht nur auf den Nationalsozialismus beschränkt ist, hat dieses
Problem eine darüber hinausreichende Bedeutung. Die Affirmation des
Industriekapitals durch den modernen Antisemitismus erfordert einen Ansatz,
der unterscheiden kann zwischen dem, was moderner Kapitalismus ist, und der
Art, wie er sich darstellt. Der Begriff 'modern' hält keine inhärente
Differenzierung bereit, die eine solche Unterscheidung erlauben würde. Ich
halte demgegenüber soziale Kategorien, wie 'Ware' und 'Kapital', die von
Marx in seinem Spätwerk entwickelt wurden, für angemessener, da diesen eine
Reihe von Unterscheidungen zwischen dem, was ist, und dem, was zu sein
scheint, inhärent ist. Diese Kategorien können als Ausgangspunkt für eine
Analyse dienen, die in der Lage ist, diverse Wahrnehmungen 'der Moderne' zu
unterscheiden. Ein solcher Ansatz würde versuchen, das Muster sozialer
Kritik und Affirmation, mit dem wir uns beschäftigen, mit den
Charakteristika kapitalistischer Verhältnisse selbst in Beziehung zu setzen.
IV.
Diese Überlegungen führen zu Marx' Begriff des Fetischs,
einem Begriff, der die Grundlage einer historischen Erkenntnistheorie
bildet, die sich in der Unterscheidung zwischen dem Wesen der
kapitalistischen Verhältnisse und ihrer Erscheinungsformen gründet. Was dem
Begriff des Fetischs vorausgeht, ist Marx' Analyse der Ware, des Geldes, des
Kapitals als Formen gesellschaftlicher Verhältnisse und nicht nur als bloße
ökonomische Bestimmungen. Nach seiner Analyse erscheinen kapitalistische
Formen gesellschaftlicher Beziehungen nicht als solche, sondern drücken sich
in vergegenständlichter Form aus. Weil Arbeit im Kapitalismus auch die
Funktion einer gesellschaftlichen Vermittlung hat ('abstrakte Arbeit'), ist
die Ware nicht bloß Gebrauchsgegenstand, in dem konkrete Arbeit
vergegenständlicht ist, sondern sie verkörpert auch gesellschaftliche
Verhältnisse. Insofern ist ihr Produkt, die Ware, nicht einfach ein Produkt,
in dem sich konkrete Arbeit vergegenständlicht; es ist ebenso die Form
vergegenständlichter sozialer Beziehungen. Die Ware, als
Vergegenständlichung beider Dimensionen kapitalistischer Arbeit, ist ihre
eigene soziale Vermittlung. Sie hat insofern einen 'Doppelcharakter': Wert
und Gebrauchswert. Als Objekt drückt die Ware soziale Verhältnisse aus und
verschleiert sie zugleich. Diese Verhältnisse haben keine andere, davon
unabhängige Ausdrucksform. Durch diese Form der Vergegenständlichung
gewinnen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus ein
quasi-objektives Eigenleben. Sie bilden eine 'zweite Natur', ein System von
Herrschaft und Zwängen, das – obwohl gesellschaftlich – unpersönlich,
sachlich und 'objektiv' ist und deshalb natürlich zu sein scheint. Diese
gesellschaftliche Dimension bestimmt die Waren und ihre Produktionsweise.
Zugleich drücken die kategorialen Formen eine spezifische, sozial
konstituierte Naturvorstellung in der Begrifflichkeit objektiven,
gesetzmäßigen und quantifizierbaren Verhaltens eines qualitativ homogenen
Wesens aus.
Die Marxschen Kategorien beziehen sich simultan auf
besondere gesellschaftliche Verhältnisse und Denkformen. Der Fetisch
verweist auf die Denkweisen, die auf Wahrnehmungen und Erkenntnissen
basieren, die in den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse
befangen bleiben.[13] Betrachtet man die
besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne Antisemitismus den
Juden zuordnet -nämlich Abstraktheit, Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität
–, dann fällt auf, daß es sich hierbei um Charakteristika der Wertdimension
jener gesellschaftlichen Formen handelt, die Marx analysiert hat. Mehr noch:
diese Dimension – wie die den Juden unterstellte Macht – erscheint nicht
unmittelbar, sondern nimmt vielmehr die Form eines stofflichen Trägers, wie
der Ware, an. Um die oben beschriebene Personifizierung zu deuten und dabei
die Frage zu klären, warum der moderne Antisemitismus, der sich gegen so
viele Aspekte der 'Moderne' wandte, sich dem industriellen Kapital und der
modernen Technologie gegenüber so verdächtig still verhielt, wird es an
dieser Stelle nötig sein zu analysieren, wie
kapitalistisch-gesellschaftliche Verhältnisse sich darzustellen pflegen. Ich
beginne mit der Warenform als Beispiel. Die dialektische Einheit von Wert
und Gebrauchswert in der Ware erfordert, daß dieser 'Doppelcharakter' sich
in der Wertform entäußert, in der er 'doppelt' erscheint: als Geld (die
Erscheinungsform des Werts) und als Ware (die Erscheinungsform des
Gebrauchswerts).
Diese Entäußerung erweckt den Schein, als enthalte die
Ware, die eigentlich sowohl Wert wie Gebrauchswert ausdrückt, nur letzteren,
das heißt, sie erscheint als rein stofflich und 'dinglich'. Weil die
gesellschaftliche Dimension der Ware dabei entfällt, stellt sich das Geld
als einziger Ort des Wertes dar, als Manifestation des ganz und gar
Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware
selbst. Die dem Kapitalismus eigene Form vergegenständlichter
gesellschaftlicher Beziehungen erscheint so auf der Ebene der Warenanalyse
als Gegensatz zwischen Geld als Abstraktem einerseits und stofflicher Natur
andererseits. Die kapitalistischen Verhältnisse scheinen ihren Ausdruck nur
in der abstrakten Dimension zu finden – etwa als Geld und als äußerliche,
abstrakte, allgemeine 'Gesetze'. Ein Aspekt des Fetischs ist also, daß
kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen nicht als solche in
Erscheinung treten und sich zudem antinomisch, als Gegensatz von Abstraktem
und Konkretem, darstellen. Und weil beide Seiten der Antinomie
vergegenständlicht sind, erscheint jede als quasi-natürlich: Die abstrakte
Seite tritt in der Gestalt von 'objektiven' Naturgesetzen auf, und die
konkrete Seite erscheint als reine stoffliche Natur. Die Struktur
entfremdeter gesellschaftlicher Beziehung, die dem Kapitalismus eigen ist,
hat die Form einer quasi-natürlichen Antinomie, in der Gesellschaftliches
und Historisches nicht mehr erscheinen. Diese Antinomie wiederholt sich im
Gegensatz positivistischer und romantischer Denkweisen.
Die Mehrzahl der kritischen Untersuchungen
fetischistischer Denkformen bezieht sich vor allem auf jenen Strang der
Antinomie, der das Abstrakte als überhistorisch hypostasiert – das
sogenannte bürgerliche Denken – und damit den gesellschaftlichen und
historischen Charakter der bestehenden Beziehungen verschleiert. In diesem
Beitrag geht es um einen anderen Strang, nämlich um jene Formen von
Romantizismus und Revolte, die ihrem Selbstverständnis nach anti-bürgerlich
sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren und damit innerhalb
der Antinomie der kapitalistischen gesellschaftlichen Beziehungen verharren.
Formen antikapitalistischen Denkens, die innerhalb der Unmittelbarkeit
dieser Antinomie verharren, tendieren dazu, den Kapitalismus nur unter der
Form der Erscheinungen der abstrakten Seite dieser Antinomie wahrzunehmen,
zum Beispiel Geld als 'Wurzel allen Übels'. Dem wird die bestehende,
konkrete Seite dann als das 'natürliche' oder ontologisch-menschliche, das
vermeintlich außerhalb der Besonderheit kapitalistischer Gesellschaft stehe,
positiv entgegengestellt.
So wird – wie etwa bei Proudhon – konkrete Arbeit als das
nichtkapitalis tische Moment verstanden, das der Abstraktheit des Geldes
entgegengesetzt ist.[14] Daß konkrete Arbeit
selbst kapitalistische gesellschaftliche Beziehungen beinhaltet und von
ihnen materiell geformt ist, wird nicht gesehen. Mit der Fortentwicklung des
Kapitalismus, der Kapitalform und ihres Fetischs bekommt die dem
Warenfetisch innewohnende Naturalisierung neue Dimensionen. Wie bei der
Warenform ist die Kapitalform durch das antinomische Verhältnis des
Abstrakten und Konkreten, die beide natürlich erscheinen, gekennzeichnet.
Die Qualität des 'Natürlichen' ist aber unterschiedlich. Verbunden mit dem
Warenfetisch ist die Vorstellung grundsätzlich gesetzmäßiger Verhältnisse
zwischen individuellen Monaden, wie es sich etwa in der klassischen
politischen Ökonomie und der Theorie von Naturgesetzen zeigt. Das Kapital
ist nach Marx in seiner prozessualen Form als selbstverwertender Wert
charakterisiert, als die unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des Wertes.
Es erscheint in der Form von Geld sowie in der von Waren, das heißt, es hat
keine fertige und endgültige Gestalt. Kapital erscheint als rein abstrakter
Prozeß. Seine konkrete Dimension ändert sich dementsprechend: Individuelle
Arbeiten bilden nicht länger abgeschlossene Einheiten, sondern werden mehr
und mehr zu Teilkomponenten eines größeren dynamischen Systems, das Mensch
wie Maschine umfaßt und dessen Zweck Produktion um der Produktion willen
ist. Das Ganze wird größer als die Summe der sie konstituierenden Individuen
und hat einen Zweck, der außerhalb ihrer liegt. Die Kapitalform
gesellschaftlicher Verhältnisse hat einen blinden, prozessualen,
quasi-organischen Charakter. Mit der Durchsetzung der Kapitalform verlor das
mechanische Weltbild des 17. und 18. Jahrhunderts an Bedeutung; mehr und
mehr übernahmen organische Prozesse an Stelle statischer Mechanik die Form
des Fetischs. Das drückt sich zum Beispiel in der Verbreitung solcher
Denkformen aus wie der Lehre vom Staat als lebendigem Organismus, aber auch
in den Rassentheorien und der zunehmenden Bedeutung des Sozialdarwinismus im
späten 19. Jahrhundert. Gesellschaft wie historischer Prozeß werden
zunehmend biologisch begriffen. Diesen Aspekt des Kapitalfetischs will ich
jedoch hier nicht weiter verfolgen.
Festzuhalten ist, welche Wahrnehmungsweisen von Kapital
sich daraus ergeben. Wie angedeutet, läßt der 'Doppelcharakter' auf der
logischen Ebene der Warenanalyse die Arbeit als ontologische
Betätigungsweise erscheinen und nicht als eine Tätigkeit, die materiell von
den gesellschaftlichen Beziehungen geformt wird; er stellt die Ware als rein
stoffliches Ding dar und nicht als Vergegenständlichung vermittelter
gesellschaftlicher Beziehungen. Auf der logischen Ebene des Kapitals läßt
der 'Doppelcharakter' (Arbeits-und Verwertungsprozeß) industrielle
Produktion als ausschließlich materiellen schöpferischen Prozeß, ablösbar
vom Kapital, erscheinen. Die manifeste Form des Konkreten ist nun
organischer. So kann das industrielle Kapital als direkter Nachfolger
'natürlicher' handwerklicher Arbeit auftreten und, im Gegensatz zum
'parasitären' Finanzkapital, als 'organisch' verwurzelt. Seine Organisation
scheint der Zunft verwandt zu sein; der gesellschaftliche Zusammenhang, in
dem es sich befindet, wird als eine übergeordnete organische Einheit gefaßt:
Gemeinschaft, Volk, Rasse.
Kapital selbst – oder das, was als negativer Aspekt des
Kapitalismus verstanden wird – wird lediglich in der Erscheinungsform seiner
abstrakten Dimension verstanden: als Finanz-und zinstragendes Kapital. In
dieser Hinsicht steht die biologistische Ideologie, die die konkrete
Dimension (des Kapitalismus) als 'natürlich' und 'gesund' dem Kapitalismus
(wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des
Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der 'dinglichen'
Seite der Antinomie. Das wird gewöhnlich mißverstanden. So zum Beispiel von
Norman Mailer, der in einer Verteidigung des Neo-Romantizismus (und des
Sexismus) in seinem Buch The Prisoner of Sex schrieb, daß Hitler zwar von
Blut gesprochen, aber die Maschine gebaut habe. Dabei blieb unverstanden,
daß im fetischistischen 'Antikapitalismus' dieser Art beides, Blut wie
Maschine, als konkretes Gegenprinzip zum Abstrakten gesehen wird. Die
positive Hervorhebung der 'Natur', des Blutes, des Bodens, der konkreten
Arbeit, der Gemeinschaft, geht ohne weiteres zusammen mit einer
Verherrlichung der Technologie und des industriellen Kapitals. [15]
Diese Denkweisen sind genauso wenig anachronistisch oder
Ausdruck einer historischen Ungleichzeitigkeit zu nennen, wie der Aufstieg
von Rassentheorien im späten 19. Jahrhundert als Atavismus aufzufassen ist.
Sie sind historisch neue Denkformen, nicht die Wiederauferstehung einer
älteren Form. Sie erscheinen nur als atavistisch oder anachronistisch
aufgrund ihrer Betonung der biologischen Natur. Das ist jedoch selbst Teil
des Fetischs, der das 'Natürliche' als 'wesensgemäß' und ursprungsnäher
erscheinen läßt und die geschichtliche Entwicklung als zunehmend künstlich.
Solche Denkformen begleiten die Entwicklung des industriellen Kapitalismus.
Sie sind Ausdruck jenes antinomischen Fetischs, der die Vorstellung erzeugt,
das Konkrete sei 'natürlich', und dabei das gesellschaftlich 'Natürliche'
zunehmend so darstellt, daß es biologisch erscheint. Genau diese
Hypostasierung des Konkreten und die Identifikation des Kapitals mit dem
manifest Abstrakten lag einem 'Antikapitalismus' zugrunde, der die
bestehende soziale Ordnung von einem der Ordnung immanenten Standpunkt aus
überkommen wollte. Insofern dieser Standpunkt die konkrete Dimension der
kapitalistischen Verhältnisse ist, deutet diese Ideologie in Richtung einer
konkreteren und verstärkt organisierten Form der offenbar kapitalistischen
sozialen Synthese.
Diese Ideologie ist besonders funktional für die
Entwicklung des Industriekapitals in der Krise. Die nationalsozialistische
Ideologie war nicht nur aufgrund ihres Antimarxismus, und weil die Nazis die
Organisationen der deutschen Arbeiterklasse zerstörten, im Interesse des
Kapitals, sondern auch für den Übergang vom liberalen zum Quasi-
Staatskapitalismus. Die Identifikation des Kapitals mit dem manifest
Abstrakten überschneidet sich zum Teil mit seiner Identifikation mit dem
Markt: Die Angriffe auf den liberalen Staat als abstraktem beförderten die
Entwicklung des interventionistischen Staates als konkretem. Diese Form des
'Antikapitalismus' erscheint daher nur so, als ob sie sehnsüchtig rückwärts
gewandt sei; als Ausdruck des Kapitalfetischs drängt sie in Wirklichkeit
vorwärts. Sie ist ein Beitrag zum Kapitalismus in seinem Übergang zum
Quasi-Staatskapitalismus in einer Situation der strukturellen Krise. Diese
Form des 'Antikapitalismus' beruht also auf dem einseitigen Angriff auf das
Abstrakte. Abstraktes und Konkretes werden nicht in ihrer Einheit als
begründende Teile einer Antinomie verstanden, für die gilt, daß die
wirkliche Überwindung des Abstrakten – der Wertseite – die
geschichtlich-praktische Aufhebung des Gegensatzes selbst sowie jeder seiner
Seiten einschließt.
Statt dessen findet sich lediglich der einseitige Angriff
gegen die abstrakte Vernunft, das abstrakte Recht und, auf anderer Ebene,
gegen das Geld-und Finanzkapital. So gesehen entspricht dieses Denken seiner
komplementären liberalen Position in antinomischer Weise: Im Liberalismus
bleibt die Herrschaft des Abstrakten unbefragt; eine Unterscheidung zwischen
positiver und kritischer Vernunft wird nicht getroffen. Der
'antikapitalistische' Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das
Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint
vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die
konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende
abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird.
So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und
Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne
Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst
nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird – als
internationales Judentum. Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht
nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem
Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt. Diese fetischisierende Anschauung
schloß in ihrem Verständnis des Kapitalismus alle konkreten Aspekte wie
Industrie und Technologie aus. Der Kapitalismus erschien nur noch als das
Abstrakte, das wiederum für die ganze Reihe konkreter gesellschaftlicher und
kultureller Veränderungen, die mit der schnellen Industrialisierung
verbunden sind, verantwortlich gemacht wurde. Die Juden wurden nicht bloß
als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die
antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden
vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich
mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals. Bestimmte Formen
kapitalistischer Unzufriedenheit richteten sich gegen die in Erscheinung
tretende abstrakte Dimension des Kapitals in Gestalt des Juden, und zwar
nicht etwa, weil die Juden bewußt mit der Wertdimension identifiziert worden
waren, sondern vielmehr deshalb, weil durch den Gegensatz seiner konkreten
und abstrakten Dimensionen der Kapitalismus selbst so erscheinen konnte.
Deshalb geriet die 'antikapitalistische' Revoltezur Revolte gegen die Juden.
Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit
der Überwindung der Juden gleichgesetzt.[16]
V.
Obwohl die innere Verbindung zwischen jener Art des
'Antikapitalismus', der den Nationalsozialismus beeinflußte, und dem
Antisemitismus gezeigt worden ist, bleibt die Frage offen, warum die
biologische Interpretation der abstrakten Seite des Kapitalismus sich an den
Juden festmacht. Diese 'Wahl' war innerhalb des europäischen Kontextes
keineswegs zufällig. Die Juden hätten durch keine andere Gruppe ersetzt
werden können. Dafür gibt es vielfältige Gründe.
Die lange Geschichte des Antisemitismus in Europa und die
damit verbundene Assoziation Juden = Geld ist wohlbekannt. Die Periode der
schnellen Expansion des industriellen Kapitals im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts fiel mit der politischen und gesellschaftlichen Emanzipation
der Juden in Mitteleuropa zusammen. Die Zahl der Juden an den Universitäten,
in den freien Berufen, im Journalismus, den schönen Künsten, im Einzelhandel
nahm immer schneller zu – das heißt, die Juden wurden in der bürgerlichen
Gesellschaft rasch aufgenommen, besonders in Sphären und Berufen, die sich
gerade ausweiteten und mit der neuen Form verbunden waren, die die
Gesellschaft gerade annahm. Man könnte viele andere Faktoren
berücksichtigen. Einen möchte ich hervorheben: Ebenso wie die Ware, als
gesellschaftliche Form, ihren 'Doppelcharakter' in dem entäußerten Gegensatz
zwischen dem Abstrakten (Geld) und dem Konkreten (der Ware) ausdrückt, so
ist die bourgeoise Gesellschaft durch die Trennung von (politischem) Staat
und (bürgerlicher) Gesellschaft charakterisiert. Im Individuum stellt sie
sich als Trennung zwischen Staatsbürger und (Privat-)Person dar. Als
Staatsbürger ist das Individuum abstrakt. Das drückt sich zum Beispiel in
der Vorstellung von der Gleichheit aller vor dem (abstrakten) Gesetz
(zumindest in der Theorie) aus oder in der Forderung 'eine Person, eine
Stimme'. Als eine (Privat-)Person ist das Individuum konkret, eingebettet in
reale Klassenbeziehungen, die als 'privat' angenommen werden; das heißt, sie
betreffen die bürgerliche Gesellschaft (im Gegensatz zum Staat) und sollen
keinen politischen Ausdruck finden. In Europa war jedoch die Vorstellung von
der Nation als einem rein politischen Wesen, abstrahiert aus der
Substantialität der bürgerlichen Gesellschaft, nie vollständig verwirklicht.
Die Nation war nicht nur eine politische Entität, sie war auch konkret,
durch eine gemeinsame Sprache, Geschichte, Traditionen und Religion
bestimmt.
In diesem Sinne erfüllten die Juden nach ihrer politischen
Emanzipation als einzige Gruppe in Europa die Bestimmung von
Staatsbürgerschaft als rein politischer Abstraktion. Sie waren deutsche oder
französische Staatsbürger, aber keine richtigen Deutschen oder Franzosen.
Sie gehörten abstrakt zur Nation, aber nur selten konkret. Sie waren
außerdem noch Staatsbürger der meisten europäischen Länder. Diese Realität
der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer Unmittelbarkeit
kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen Staat und das Recht,
wurde genau mit den Juden identifiziert. In einer Periode, in der das
Konkrete gegenüber dem Abstrakten, dem 'Kapitalismus' und dem bürgerlichen
Staat verklärt wurde, entstand daraus eine fatale Verbindung: Die Juden
wurden als wurzellos, international und abstrakt angesehen.
VI.
Der moderne Antisemitismus ist also eine besonders
gefährliche Form des Fetischs. Seine Macht und Gefahr liegen darin, daß er
eine umfassende Weltanschauung liefert, die verschiedene Arten
antikapitalistischer Unzufriedenheit scheinbar erklärt und ihnen politischen
Ausdruck verleiht. Er läßt den Kapitalismus aber dahingehend bestehen, als
er nur die Personifizierung jener gesellschaftlichen Form angreift. Ein so
verstandener Antisemitismus ermöglicht es, ein wesentliches Moment des
Nazismus als verkürzten Antikapitalismus zu verstehen. Für ihn ist der Haß
auf das Abstrakte charakteristisch. Seine Hypostasierung des existierenden
Konkreten mündet in einer einmütigen, grausamen – aber nicht notwendig
haßerfüllten Mission: der Erlösung der Welt von der Quelle allen Übels in
Gestalt der Juden. Die Vernichtung des europäischen Judentums ist ein
Anzeichen dafür, daß es viel zu einfach ist, den Nazismus als eine
Massenbewegung mit antikapitalistischen Obertönen zu bewerten, die diese
Hülse 1934 im Röhmputsch abwarf, nachdem sie erst einmal ihren Zweck
erreicht und sich in Form staatlicher Macht gefestigt hatte. Zum einen sind
die ideologischen Formen nicht einfach Bewußtseinsmanipulationen. Und zum
anderen mißversteht diese Auffassung das Wesen des 'Antikapitalismus' der
Nazis – das Ausmaß, in dem es der antisemitischen Weltanschauung innerlich
verbunden war. Es stimmt, daß auf den zu konkreten und plebejischen
'Antikapitalismus' der SA 1934 verzichtet wurde; nicht jedoch auf die
antisemitische Grundhaltung – die 'Erkenntnis', daß die Quelle allen Übels
das Abstrakte sei – der Jude. Eine kapitalistische Fabrik ist ein Ort, an
dem Wert produziert wird, der 'unglücklicherweise' die Form der Produktion
von Gütern annehmen muß. Das Konkrete wird als der notwendige Träger des
Abstrakten produziert. Die Vernichtungslager waren demgegenüber keine
entsetzliche Version einer solchen Fabrik, sondern müssen eher als ihre
groteske arische 'antikapitalistische' Negation gesehen werden. Auschwitz
war eine Fabrik zur 'Vernichtung des Werts', das heißt zur Vernichtung der
Personifizierung des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines
teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom
Abstrakten zu 'befreien'.
Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt
die 'Maske' der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen,
was 'sie wirklich sind', Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite
Schritt war dann, diese Abstraktheit auszurotten, sie in Rauch zu
verwandeln, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten
gegenständlichen 'Gebrauchswerts' abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife.
Auschwitz, nicht die 'Machtergreifung' 1933, war die wirkliche 'Deutsche
Revolution' – die wirkliche Schein-'Umwälzung' der bestehenden
Gesellschaftsformation. Diese Tat sollte die Welt vor der Tyrannei des
Abstrakten bewahren. Damit jedoch 'befreiten' die Nazis sich selbst aus der
Menschheit. Militärisch verloren die Nazis den Krieg gegen die Sowjetunion,
die USA und Groß-Britannien. Sie gewannen ihren Krieg, ihre 'Revolution'
gegen das europäische Judentum. Sie ermordeten nicht nur sechs Millionen
jüdische Kinder, Frauen und Männer. Es ist ihnen gelungen, eine Kultur zu
zerstören – eine sehr alte Kultur –, die des europäischen Judentums. Diese
Kultur war durch eine Tradition gekennzeichnet, die eine komplizierte
Spannung von Besonderheit und Allgemeinheit in sich vereinigte.
Diese innere Spannung wurde als äußere in der Beziehung
der Juden zu ihrer christlichen Umgebung verdoppelt. Die Juden waren niemals
völlig Teil der größeren Gesellschaften, in denen sie lebten; sie waren auch
niemals völlig außerhalb dieser Gesellschaften. Dies hatte für die Juden
häufig verheerende Auswirkungen, manchmal jedoch auch sehr fruchtbare.
Dieses Spannungsfeld sedimentierte sich im Zuge der Emanzipation in den
meisten jüdischen Individuen. Die schließliche Lösung dieser Spannung
zwischen Besonderem und Allgemeinem ist in der jüdischen Tradition eine
Funktion der Zeit, der Geschichte – die Ankunft des Messias. Vielleicht
jedoch hätte das europäische Judentum angesichts der Säkularisierung und
Assimilation jene Spannung aufgegeben. Vielleicht wäre jene Kultur
schrittweise als lebendige Tradition verschwunden, bevor die Auflösung des
Besonderen und des Allgemeinen verwirklicht worden wäre. Hierauf wird es
niemals mehr eine Antwort geben können.
VII.
'Lernen aus der Vergangenheit' muß das Verständnis des
Antisemitismus, mithin des verkürzten 'Antikapitalismus', einschließen. Es
wäre ein schwerwiegender Fehler, würde die Linke den Kapitalismus nur in der
Form der abstrakten Dimension des Kapitalwiderspruchs wahrnehmen, sei es in
der Begrifflichkeit der technokratischen Herrschaft oder der abstrakten
Vernunft. Es ist mehr als Vorsicht geboten gegenüber solchen Vorstellungen,
die, wie in Gestalt 'neuer' Psychotherapieformen, das Gefühl in einen
Gegensatz zum Denken stellen, oder gegenüber Auffassungen die das
gesellschaftliche Problem der Ökologie biologisieren. 'Antikapitalismus',
der das Konkrete verklärt und das Abstrakte unmittelbar abschaffen möchte –
anstatt praktische und theoretische Überlegungen darüber anzustellen, was
die historische Überwindung von beidem bedeuten könnte –, kann politisch und
gesellschaftlich im besten Falle unwirksam bleiben. Schlimmstenfalls wird er
jedoch selbst dann gefährlich, wenn die Bedürfnisse, die der
'Antikapitalismus' ausdrückt, als emanzipatorische interpretiert werden
könnten. Die Linke machte einmal den Fehler anzunehmen, daß sie ein Monopol
auf Antikapitalismus hätte; oder umgekehrt: daß alle Formen des
Antikapitalismus zumindest potentiell fortschrittlich seien. Dieser Fehler
war verhängnisvoll – nicht zuletzt für die Linke selbst. 1979
Übersetzt von Renate Schumacher und
Dan Diner
Redaktion: J. Olaf Kleist
Leseprobe aus: Moishe Postone,
Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen, Sommer
2005, 218 Seiten, 18 Euro, ISBN: 3-924627-33-X, Seite 165 - 194
© ça ira-Verlag 2005,
www.isf-freiburg.org
Anmerkungen:
[1] Ich möchte mich für die
Diskussion und Kritik bei Barbara Brick, Dan Diner und Jeffrey Herf
bedanken. In Bezug auf den Film selbst konzentriert sich ein Großteil der
Kritik in westdeutschen Publikationen auf den kommerziellen Charakter und
seine Tendenz zur Trivialisierung. Meines Erachtens waren andere Aspekte des
Films weitaus wichtiger im deutschen Kontext. Die besonderen Schwächen des
Films begründeten gerade seine Stärke, eine öffentliche Reaktion hervorrufen
zu können. Die Schilderung des Schicksals einer einzelnen jüdischen Familie
lieferte Vorschub für Sympathien mit den Opfern. Eine deutsche
Öffentlichkeit fand sich in der Identifikation mit den Juden wieder, die
durch die Darstellung einer assimilierten Familie der Mittelklasse zudem
erleichtert worden war. Das Wissen um die Ermordung von 6.000000 jüdischen
Menschen wurde dadurch hervorgehoben. Die Darstellung und die Reaktionen
verblieben jedoch im liberalen Reaktionsschema gegenüber Rassismus und
begegneten nicht den Implikationen der eigenen Mehrheit. In der einfachen
Reaktion auf die negativen Bewertungen des Anderen durch Rassismus und
Antisemitismus werden die Tatsache und das Recht auf das Anderssein
verneint. Was damit verschleiert wird, ist der Umstand, daß nicht nur
Millionen von jüdischen Leben vernichtet wurden, sondern ebenso das Leben
des europäischen Judentums. Durch die Erleichterung einer Identifikation
schwächte der Film die Wahrnehmbarkeit, daß es sich um die Auslöschung einer
anderen Kultur handelte. Eine andere Schwäche des Films war die Darstellung
der Lebensbedingungen in den Ghettos und in den Lagern, die imVergleich zu
den Greueln der Realität mild ausfielen. Doch erlaubte gerade dieser Umstand
der Öffentlichkeit den Horror mitzufühlen. Die Zuschauer konnten in einer
Art und Weise offen sein, die den meisten nicht möglich ist, wenn sie mit
Dokumentaraufnahmen konfrontiert sind, die das unbegreifliche Grauen zeigen,
die Opfer als entmenschlichte Skelette – lebend oder tot –, und daher häufig
negative Abwehrreaktionen hervorrufen. Schließlich behandelt der Film die
Verfolgung und Vernichtung der Juden ausschließlich auf der
Erscheinungsebene. Es wurde kein Versuch unternommen, den Antisemitismus
oder die gesellschaftlichen und historischen Dimensionen des
Nationalsozialismus anzudeuten. Jedoch zwang gerade dieser Mangel die
Zuschauer, sich mit dem unverarbeiteten Phänomen zu konfrontieren und sich
nicht hinter analytischen Kategorien oder moralisierendem Bedauern zu
verstecken.
[2] Alle Juden in Ostdeutschland, ungeachtet ihrer
politischen Herkunft, erhalten höhere Pensionen von der Regierung. Sie
erhalten sie jedoch nicht als Juden, sondern als 'Antifaschisten'.
[3] 'Dorf' war der Name der zentralen (fiktiven)
Nazi-Figur in dem Film.
[4] Während der Herausgeber des Spiegel, Rudolf
Augstein, ein Editorial verfaßte, in dem er sein fehlendes Wissen betonte
(aber nicht entschuldigte), schrieb Henri Nannen vom Stern ein Editorial, in
dem er sich selbst seines Wissens, aber Nichthandelns wegen, zumal er sogar
weiterhin voller Stolz eine Uniform der Luftwaffe trug, verurteilte. Eine
dramatische Situation ereignete sich im Fernsehen, als, nach vielen
Unkenntnis vorschützenden Stellungnahmen, ein Nachrichtenredakteur, der über
die öffentlichen Reaktionen berichtet hatte, seinen Bericht unterbrach, um
eine persönliche Erklärung abzugeben. Während des Krieges habe er auf einem
U-Boot im Atlantik gedient. Sie hätten selbst dort über Auschwitz Bescheid
gewußt.
[5] Schon 1940 beziehen sich interne Memoranden
von Heydrichs SD (Sicherheitsdienst) auf das 'Problem' der deutschen
Soldaten – die meisten von ihnen waren übrigens an der Ostfront –, die zum
Urlaub nach Hause kamen und ihre Erfahrungen berichteten.
[6] Ich glaube nicht, daß das Ausbleiben einer
solchen Reaktion nur der konservativen Politik der Alliierten nach 1945
zugeschrieben werden kann. Die 'Antifa'-Komitees waren klein und isoliert.
Aus den Nazilagern entlassene Antifaschisten fanden beim 'Volk' wenig
Beifall.
[7] Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt
(Roter Stern Verlag) 1977. Das Buch ist eine reiche Quelle an Dokumenten und
Interpretationen männlicher Phantasien. Seine Schwäche liegt in dem Versuch,
den Nazismus in diesen Termini zu begreifen, d.h. als Resultat des
Patriarchats. Die These ist mehr als fraglich. Erstens: Soweit eine
Beziehung zwischen Patriarchat und Nazismus besteht, bedeutet dies
keineswegs eine Identität. Im Gegenteil, die wohlbekannten Photos bartloser
junger Nazis, die sadistisch lächeln, während sie älteren jüdischen Männern
die Bärte ausreißen, scheinen auf psychologischer Ebene einen Haß auf das
Patriarchat anzudeuten. Das wird nicht nur durch die Überlegung bestätigt,
daß Hitler eher Gegenstand der Identifikation mit dem Ebenbürtigen als mit
dem Vater war, sondern auch durch die Untersuchung der Familienpolitik der
Nazis, die trotz ihrer Slogans keineswegs traditionalistisch war. Die
offensichtlich paradoxe Verbindung von Revolte mit dem Wunsch nach Disziplin
und Ordnung kann als Revolte gegen einen zu schwachen Vater verstanden
werden, d.h. als eine Bewegung, die den Niedergang des Patriarchats
ausdrückt (was natürlich von seiner Überwindung sehr verschieden ist).
Zweitens macht Theweleit den Fehler, psychosexuelle Strukturen unvermittelt
auf direkte Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu beziehen. Das führt
ihn dann zu einem Verständnis von Rassismus als Nebenresultat der Beziehung
zwischen den Geschlechtern. Der geschichtliche Charakter besonderer Formen
des Rassismus wird darin verdeckt. Es ist erstaunlich, daß in einem Buch,
das von der subjektiven Seite des Nazismus handeln will, Rassismus außer
acht gelassen und Antisemitismus ignoriert wird. Der Versuch, die subjektive
Seite eines historischen spezifischen Phänomens zu untersuchen, endet bei
einer subjektivistischen, überhistorischen und unspezifischen Ideologie. Das
Problem wird in der Form formuliert, ob es überhaupt möglich sei, von
'nichtfaschistischen' Männern zu reden (S. 44). Männerphantasien ist in
Deutschland ein großer publizistischer Erfolg gewesen. In der liberalen
Presse wurde das Buch hoch gelobt. (Die Zeit widmete ihm eine ganze Seite.)
Zur gleichen Zeit war es in der linken 'Szene' ungeheuer populär. Meiner
Meinung nach aus genau dem Grund, aus dem ich es kritisiert habe: Die
Interpretation des Textes stimmte mit dem Trend überein – eine
nichtauthentische Huldigung an die Frauenbewegung – und ist so unspezifisch,
daß das Problem des nationalsozialistischen Erfolgs in Deutschland in ein
Problem von Männern überhaupt aufgelöst wird; außerhalb von Raum und Zeit.
[8] Ein nicht weniger häufig angegebener Grund
mancher Linker für die Weigerung Holocaust anzusehen, war das Argument, daß
er ein Ausdruck zionistischer Propaganda sei. Das vernachlässigt die
offensichtliche Tatsache, daß die Vernichtung des europäischen Judentums für
die meisten Juden nach 1945 der Grund war, mit dem Zionismus zu
sympathisieren. Das hing nicht allein mit den Nazis zusammen, sondern auch
mit dem Eifer der rumänischen, ukrainischen, kroatischen, flämischen und
französischen Antisemiten und Faschisten, die die Nazis bei der Verfolgung
und Vernichtung der Juden unterstützten. Gleiches gilt für die Politik
'passiver Duldung', wie sie von den Amerikanern und Briten vollzogen wurde.
Zionismus wurde als nationalistische Antwort für viele Juden überzeugend,
nachdem sie erfahren hatten, wie die Projektion einer jüdischen
Weltverschwörung in ihr Gegenteil umschlug: eine Weltverschwörung gegen die
Juden. Die Gründe für die jüdische Massenunterstützung des Zionismus zu
verstehen, hat nicht notwendigerweise zur Folge, zionistische Politik zu
akzeptieren und zu entschuldigen. Genauso wenig, wie Verständnis für die
Reaktionen der Palästinenser auf Jahrzehnte zionistischer Unterdrückung,
Einverständnis mit der Politik radikaler Nationalisten eines Habaschs oder
Wadi Haddads bedeutet. Es ist wirklich nicht schwer, solche Unterscheidung
zu machen. Das also kann nicht das Problem sein. Braucht sich eine deutsche
Linke mit der Vernichtung des europäischen Judentums durch die Nazis deshalb
nicht zu befassen, weil es die Wirklichkeit des Zionismus gibt?
[9] Einer der wenigen jüngeren Versuche in den
westdeutschen Medien, die Vernichtung der Juden durch die Nazis qualitativ
zu bestimmen, wurde von Jürgen Thorwald unternommen. (Der Spiegel vom 5.
Februar 1979).
[10] Siehe z.B., Norman Cohen, Warrant for
Genocide, London 1967.
[11] Max Horkheimer, Die Juden und Europa, in:
Ders., Gesammelte Schriften, Band 4, Hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt am
Main 1988, S. 308-331. Der Text entstand im Jahr 1939 und wurde zuerst in
der Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang VIII, New York 1939,
Doppelheft 112, S. 115-137 veröffentlicht.
[12] George Mosse, The Crisis of German Ideology,
New York 1964.
[13] Die erkenntnistheoretische Dimension der
Marxschen Kritik ist dem ganzen Kapital immanent, wurde aber nur im Rahmen
seiner Warenanalyse entschlüsselt dargestellt. Seine Kategorien sollen
verstanden werden als gleichzeitige Ausdrucksformen besonderer
verdinglichter gesellschaftlicher Beziehungen und Denkweisen. Dies
unterscheidet sie wesentlich von der Hauptströmung marxistischer Tradition,
in der die Kategorien als Bestimmungen einer 'ökonomischen Basis' begriffen
werden und das Denken als Überbauphänomen aufgefaßt wird, das sich aus
Klasseninteressen und -bedürfnissen ableitet. Diese Form des Funktionalismus
kann, wie erwähnt, die Nicht-Funktionalität der Vernichtung der Juden nicht
adäquat erklären. Allgemeiner formuliert: Sie kann nicht erklären, warum
eine bestimmte Denkform, die sehr wohl im Interesse bestimmter Klassen und
anderer gesellschaftlicher Gruppen liegen kann, eben diesen und keinen
anderen ideologischen Inhalt hat. Gleiches gilt für die aufklärerische
Vorstellung von Ideologie (und Religion) als Ergebnis bewußter Manipulation.
Die Verbreitung einer bestimmten Ideologie impliziert, daß sie eine Resonanz
besitzen muß, deren Ursprung zu erklären ist. Andererseits steht der von
Lukács, der
Frankfurter Schule und Sohn-Rethel weiterentwickelte Marxsche Ansatz jenen
einseitigen Reaktionen auf den traditionellen Marxismus entgegen, die jeden
ernst zu nehmenden Versuch aufgegeben haben, Denkformen historisch zu
erklären und jeden Ansatz in solche Richtung als 'Reduktionismus' ablehnen.
[14] Proudhon, der in dieser Hinsicht als einer
der geistigen Vorläufer des modernen Antisemitismus gelten kann, meinte
daher, die Abschaffung des Geldes – der erscheinenden Vermittlung – genüge
bereits, um die kapitalistischen Beziehungen abzuschaffen. Kapitalismus ist
jedoch von vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen gekennzeichnet, die
in kategorialen Formen vergegenständlicht sind, von denen Geld ein Ausdruck,
nicht aber Ursache ist. Proudhon verwechselt demnach die Erscheinungsformen
– Geld als Vergegenständlichung des Abstrakten – mit dem Wesen des
Kapitalismus.
[15] Theorien, die den Nationalsozialismus als
'antimodern' oder 'irrational' darstellen, erklären die Wechselbeziehung
dieser beiden Momente nicht. Der Begriff 'Irrationalismus' stellt den noch
fortbestehenden 'Rationalismus' gar nicht mehr in Frage und kann das
positive Verhältnis einer 'irrationalistischen', 'biologistischen' Ideologie
zur Ratio von Industrie und Technologie nicht erklären. Der Begriff
'antimodern' übersieht die sehr modernen Aspekte des Nationalsozialismus und
kann nicht angeben, warum nur einige Aspekte des 'Modernen' aufgegriffen
wurden und andere nicht. Beide Analysen sind einseitig und repräsentieren
nur die andere, die abstrakte Seite der oben beschriebenen Antinomie.
Tendenziell verteidigen sie unkritisch die bestehende nichtfaschistische
'Modernität' oder 'Rationalität'. Damit ließen sie Raum für neue einseitige
Kritik (diesmal seitens Linker) wie etwa die von Foucault oder Glucksmann,
die die heutige moderne kapitalistische Zivilisation nur als abstrakte
verstehen. All diese Ansätze sind nicht nur unbrauchbar für eine Theorie des
Nationalsozialismus, die eine angemessene Erklärung für die Verbindung
zwischen 'Blut und Maschine' geben soll, sie können auch nicht aufzeigen,
daß die Gegenüberstellung von 'abstrakt' und 'konkret', von positiver
Vernunft und 'Irrationalismus' keineswegs die Grenzen einer absoluten Wahl
abstecken, sondern daß die Pole dieser Gegensätze miteinander verbunden sind
als antinomische Ausdrücke der dualen Erscheinungsformen ein und desselben
Wesens: der kapitalistischen Gesellschaftsformation. (In diesem Sinn fiel
Lukács in seinem unter dem Eindruck der unaussprechlichen Brutalität der
Nazis geschriebenen Buch Die Zerstörung der Vernunft hinter seine eigenen
kritischen Einsichten in die Antinomien bürgerlichen Denkens zurück, die er
25 Jahre zuvor in Geschichte und Klassenbewußtsein entwickelt hatte.) So
bewahren solche Ansätze die Antinomie, anstatt sie theoretisch zu
überwinden.
[16] Wollte man die Frage behandeln, warum der
moderne Antisemitismus so unterschiedlich stark in den verschiedenen Ländern
verbreitet war und warum er in Deutschland hegemonial geworden ist, dann
müßte man die oben entwickelte Argumentation in den entsprechenden sozialen
und historischen Kontext stellen. Was Deutschland betrifft, ließe sich von
der besonders raschen Industrialisierung mit ihren weitreichenden sozialen
Umwälzungen und dem Fehlen einer vorausgegangenen bürgerlichen Revolution
mit ihren liberalen Werten und ihrer politischen Kultur ausgehen. Die
Geschichte Frankreichs von der Dreyfus-Affäre bis zum Vichy-Regime scheint
aber zu zeigen, daß eine bürgerliche Revo lution vor der Industrialisierung
keine ausreichende 'Immunität' gegen den modernen Antisemitismus gibt.
Andererseits war der moderne Antisemitismus in Großbritannien nicht sehr
verbreitet, obwohl es dort natürlich auch Rassentheorien und
Sozialdarwinismus gab. Der Unterschied könnte in dem Grad der Entwicklung
der gesellschaftlichen Abstraktheit von Herrschaft vor der
Industrialisierung liegen. Unter diesem Gesichtspunkt kann der Grad der
Vergesellschaftung Frankreichs als zwischen dem Englands und zum Beispiel
dem Preußens betrachtet werden, gekennzeichnet durch eine besondere Form der
'Doppelherrschaft': Ware und Staatsbürokratie. Beide sind
Rationalitätsformen. Sie unterscheiden sich jedoch durch den Grad an
Abstraktheit, wodurch sie Herrschaft vermitteln. Es scheint ein Zusammenhang
zu bestehen zwischen der institutionellen Konzentration konkreter Herrschaft
im Frühkapitalismus (Kirche und Staatsbürokratie inklusive Armee und
Polizei) und dem Ausmaß, in dem später die abstrakte Herrschaft des Kapitals
nicht nur als bedrohlich, sondern auch als mysteriös und fremd wahrgenommen
wurde.
hagalil.com
04-01-06 |