Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni, Nils
Römer (Hg.):
Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19.
und 20. Jahrhundert
Beck Verlag 2003
Euro 29,90 [Bestellen?]
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Grundlagentexte:
Jüdische Geschichte lesen
Von Andrea Livnat
"Was ist die Geschichte der Juden?" Diese Frage eröffnet
die von Michael Brenner, Anthony Kauders, Gideon Reuveni und Nils Römer
herausgegebene Textsammlung zur jüdischen Geschichtsschreibung im 19.
und 20. Jahrhundert. Die Frage ist keinesfalls einfach zu beantworten,
hängt sie einerseits mit dem Wesen des Judentums und seiner Definition
als Volks- oder Religionsgemeinschaft zusammen, und kreist andererseits
um die Erklärungsmuster, als Verfolgungs- oder Erfolgsgeschichte
gedeutet zu werden.
Historiker der jüdischen Geschichte haben vielfältige
Antworten und "Lesarten jüdischer Geschichte" gestellt. Der vorliegende
Band stellt die wichtigsten dieser Historiker und ihrer Narrative vor.
Die Herausgeber legen damit die erste Textsammlung dieser Art für die
jüdische Geschichte vor, der es bisher an Überblicksdarstellung der
eigenen Historiographiegeschichte fehlt. Die Herausgeber hoffen daher,
"eine Auswahl vorlegen zu können, die originelle wie auch
repräsentative, prägnante und doch nicht vereinfachende Texte einander
gegenüberstellt und vor allem eines erreicht: das Interesse an der
weiteren Lektüre jüdischer Geschichtsschreibung und Historiographie zu
wecken."
Das erste Kapitel stellt verschiedene Klassiker jüdischer
Geschichtsschreibung vor, wobei jeweils Einführungen in
Gesamtdarstellung vorliegen. Neben Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz
und Simon Dubnow finden sich hier die Einleitungen von Raphael Mahlers
"Geschichte Israels in der neuesten Zeit" und Haim Hillel Ben-Sasson
"Geschichte des jüdischen Volkes" erstmal ins Deutsche übertragen.
Das zweite Kapitel wendet sich der Einordnung der jüdischen
Geschichte in die Weltgeschichte zu. Texte von Moritz Lazarus, Franz
Rosenzweig, Ben-Zion Dinur, Salo W. Baron u.a. untersuchen die Frage:
"Bildet die jüdische Geschichte einen historisch-theologischen
Sonderweg, oder stellt sie einfach ein weiteres Kapitel der komplexen
Weltgeschichte dar?"
Die Beziehung von Israel und Diaspora steht im Zentrum des
dritten Kapitels, das verschiedene Interpretationen der Bedeutung Zions
für die jüdische Geschichte vorlegt: "Ist die jüdische Geschichte von
einer Rückkehr aus dem alten in das neue Domizil Zion mit einer
zweitausendjährigen Unterbrechung gekennzeichnet, oder sollte man sie
lieber als eine endlose Kette von wechselnden Zentren lesen?"
Das vierte Kapitel behandelt das Spannungsfeld zwischen
Integration und Bewahrung und wendet sich damit der, wie Amos
Funkenstein betont, "für die gesamte jüdische Geschichte
charakteristische Dialektik von Assimilation versus Selbstbehauptung"
zu. Dubnow, Baron, Gerson D. Cohen, Jacob Katz und Paula Hyman begleiten
Amos Funkensteins Text.
Im fünften Kapitel "Judenfeindschaft und jüdische
Identität" stehen die Auswirkungen des Antisemitismus auf die jüdische
Identität im Zentrum. Neben klassischen Texten, wie beispielsweise von
Hannah Arendt und Emil L. Fackenheim, kommt mit Sander L. Gilmans Text
auch das Thema des "Jüdischen Selbsthasses" zur Sprache. Saul
Friedländer beschreibt die "Shoah als Element der Konstruktion
israelischer Erinnerung".
Das Abschlusskapitel "Rekonstruktionen und Dekonstruktionen
jüdischer Geschichte" wendet sich wiederum den Ausgangsfragen des Bandes
zu, jedoch unter veränderter Perspektive. Die eigene
Geschichtsschreibung, in Form der "Wissenschaft des Judentums", wird
zunächst durch zwei Texte deren Gründerväter, Leopold Zunz und Immanuel
Wolf, und durch chronologisch geordnete Repliken ins Blickfeld gerückt.
Dabei kommen sowohl Gershom Scholem, mit seiner aus dem Jahre 1960
stammenden Kritik, als auch Yosef Hayim Yerushalmi mit "Zackor", Amos
Funkenstein, Susannah Heschel und schließlich Laurence Silberstein mit
dem Ausblick auf einen "postzionistischen Diskurs" zu Wort.
Der Band ist durch ein Glossar, Kurzbiographien der
Autorinnen und Autoren und eine wertvolle Auswahlbibliographie ergänzt.
Das Lesebuch sei allen empfohlen, die sich für jüdische Geschichte
interessieren, auch wenn sie selbst keine Historiker sind. Jedem Kapitel
ist eine Einführung vorangestellt, so dass auch Nicht-Historiker diese
exzellente Textsammlung zugänglich finden werden.
hagalil.com
31-05-04 |