Leseprobe:
Die Geheimnisse von Jerusalem
Der
Amerikaner kam mit fünfminütiger Verspätung. Ein großer, hagerer
Kerl, der die unvermeidlichen Jeans trug und eine Jacke, die nur
aus Taschen bestand. Seine Gesichtszüge waren fein, intelligent,
mit einem großen, sehr markanten Mund. Er mochte ungefähr
dreißig Jahre alt sein, vielleicht älter. Seine Locken und seine
sehr hellen, eindringlichen Augen verliehen ihm jedoch etwas
entwaffnend Jungenhaftes. Hopkins gehörte zu jener Sorte Mensch,
die einem direkt in die Augen schaut, ein bißchen zu lange, als
gelte es, das Herz des Gegenübers zu ergründen. Er war
unbestritten ein sehr schöner Mann, und er bewegte sich mit
jener besonderen Anmut, die, ebenso männlich wie kindlich, ein
bißchen unbeholfen und eigensinnig wirkt und andere Männer oft
aufbringt, aber Frauen sehr anrührt. |
Marek Halter
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Wir setzten uns
an meinem Arbeitstisch einander gegenüber, und er erzählte mir seine
Geschichte nahezu in einem Atemzug. Als er geendet hatte, ging ich
ihm ein Glas Wodka holen, das er sich redlich verdient hatte.
»Ich kenne die Kupferrolle«, sagte ich, während ich sein Glas
füllte. »Es waren die Spezialisten der EDF, der französischen
Elektrizitätsgesellschaft, die sie wieder instand gesetzt haben.
Irgendwo in meinem Büro habe ich wahrscheinlich sogar eine
Transkription der vierundsechzig Rätsel, wie Sie sie nennen, und
sicherlich auch ein paar gelehrte Anmerkungen zu dem Thema.«
Hopkins nickte überglücklich.
»Aber das alles hat nichts Geheimnisvolles«, fügte ich sogleich
hinzu. »Ich verstehe nicht, was Sie von mir erwarten.«
Er leerte sein Glas und fuhr sich nervös über den Nasenrücken, wobei
er seine engelhaften Locken schüttelte.
»Warten Sie. Sie werden gleich verstehen. Ich habe die letzten
beiden Tage in der Bibliotheque Nationale verbracht, wie mein Freund
Aaron mir geraten hat. Um mir die alten Karten anzusehen. Erst
einmal hatte ich wahnsinnige Schwierigkeiten, überhaupt in dieses
Heiligtum des französischen Geistes vorzudringen. Dann gab es noch
mal einiges Hin und Her, bis ich die Dokumente einsehen durfte,
nicht einmal die Originale, sondern nur Kopien auf Mikrofilm. Und
dann, als ich sie vor der Nase hatte, waren sie mir absolut
unverständlich! Wissen Sie, für mich ist Hebräisch wie Chinesisch.
Ich kann nicht einmal die Buchstaben des Alphabets entziffern,
geschweige denn Karten aus dem achten oder zwölften Jahrhundert!«
Ich konnte ein Lachen nicht unterdrücken.
»Ich sehe sehr genau, wo die Schwierigkeit liegt. Aber wieso
brauchen Sie mich, um jemanden zu finden, der Ihnen helfen kann, sie
zu lesen? Ihre Zeitung wird doch wohl...«
»Nein, nein! Ich brauche keinen Übersetzer. Ich brauche Sie. Sie
müssen mich nach Jerusalem begleiten und mir helfen, die Rätsel der
Kupferrolle zu lösen und die Verstecke zu finden. Nicht alle, aber
zwei oder drei, das wäre schon sehr gut...«
»Was erzählen Sie da?«
»Es geht nicht darum, die Karten oder die Texte nur zu lesen,
sondern sie in ihrer historischen Bedeutung zu verstehen, sie
interpretieren zu können, Anspielungen zu erkennen, indem man Wissen
über Vergangenheit und Gegenwart mit einbringt.«
»Einverstanden, aber Sie haben sich den Falschen ausgesucht. Es gibt
Fachleute für so etwas. Dazu gehöre ich nicht, weit gefehlt! In
Jerusalem selbst gibt es hervorragende Spezialisten. Abgesehen
davon, daß meiner Meinung nach ...«
»Nein, nein! Fachleute kommen nicht in Frage! Wenn ich meine
Geschichte einem Fachmann erzähle, einem Historiker, einem
Wissenschaftler, wissen Sie, was dann passiert? Entweder wird er
mich rausschmeißen, weil ich mich in Dinge einmische, die mich
nichts angehen, oder er wird sich unter den Nagel reißen, was ich
ihm zutrage, um anschließend jede kleinste seiner Entdeckungen
hinauszuposaunen. Und das war es dann. Ich kenne solche Leute!
Außerdem will ich Ihnen ganz offen sagen: Wenn dieser Fachmann
Israeli ist, glauben Sie, daß er dann bereit sein wird, auch nur das
geringste zu unternehmen, ohne darüber mit wer weiß wie vielen
Rabbinern oder sogar der israelischen Polizei gesprochen zu haben?
Wenn man mich aber aus Israel ausweist, werde ich überhaupt nichts
mehr steuern können. Um Sokolow zu ködern, muß ich behutsam
vorgehen. Im verborgenen agieren. Jeder Fachmann wird so viel Krach
schlagen, daß ich schon raus sein werde, bevor es überhaupt los
geht.«
»Einen Augenblick, Mister Hopkins ... Ich bin nicht ganz sicher, ob
ich Sie richtig verstanden habe! Schlagen Sie mir etwa gerade vor,
mit Ihnen in Jerusalem auf Schatzsuche zu gehen und dabei mein Leben
zu riskieren in einem Konflikt mit der russischen Mafia, der nur Sie
persönlich etwas angeht?«
»Genau! Außer, daß der Konflikt nicht ganz so persönlich ist, wie es
scheint.«
Ich lachte, allerdings etwas gezwungen.
»Das ist nicht Ihr Ernst!«
»Mein voller Ernst.«
»Unmöglich, Mister Hopkins. Da hat man Sie falsch über mich
informiert.«
»Im Gegenteil! In der Bibliothek war ich ziemlich verloren und,
offen gesagt, auch wütend. Eine junge Frau hat mir ihre Hilfe
angeboten. Ich habe sie gefragt, ob sie nicht jemanden kenne, hier
in Paris, der über Jerusalem und die jüdische Geschichte genug
wisse, um mir etwas unter die Arme zu greifen. Da nannte sie mir als
erstes Ihren Namen. Sie kannte alle Ihre Bücher.«
»Wie sah sie aus?«
»Groß, hübsch, hellbraune Haare. Sie hat mir ihren Vornamen genannt:
Pauline.«
»Versuchen Sie nicht, mir zu schmeicheln! Sie arbeitet mit mir
zusammen, sie recherchiert für eines meiner Projekte! Da ist es nur
normal, daß mein Name ihr in den Sinn kam. Aber sie wußte nicht, um
was es ging.«
Hopkins war kaum irritiert.
»Warten Sie! Ich habe mich auch im Büro der Times über Sie
informiert. Alles, was mir gesagt wurde, hat mich davon überzeugt,
daß ich für dieses Abenteuer keinen besseren Partner finden könnte!
Bedenken Sie doch, Sie sprechen sogar Russisch! Das könnte sich als
sehr nützlich erweisen. Sie fühlen sich in Jerusalem wie zu Hause,
Sie haben dort Freunde. Auch das wird uns nützen ... Sie werden alle
Spezialisten besuchen können, die Sie brauchen, um Ihre
Untersuchungen voranzutreiben, ohne das Ziel Ihrer Recherchen
offenbaren zu müssen; mit Ihnen werden sie sprechen, mit mir nicht.
Außerdem weiß ich, daß Sie gern Verborgenes entdecken, und Sie sind
fasziniert von der jüdischen Geschichte. Wissen Sie, ich habe über
all das nachgedacht, ich habe Sie nicht zufällig angerufen. Sie sind
für mich die perfekte Person. Ein halber Tag vor den Karten hat
ausgereicht, um mir klarzumachen, daß ich es allein niemals schaffen
werde.«
Er sprach mit einer solchen Überzeugung, daß er mich einige Jahre
früher durchaus mitgerissen hätte, um so mehr, als er auch etwas
Charmantes hatte: die Beseeltheit von einer Sache, die
Unerschrockenheit, die Berge versetzt.
»Mein lieber Freund, Sie vergessen zwei Dinge in Ihrem sympathischen
Katalog meiner Vorzüge. Erstens wurde ich gerade am Herzen
operiert...«
»Das hat man mir gesagt, ja. Aber alles ist gut verlaufen, nicht
wahr? In einer Woche werden Sie sich schon nicht mehr daran
erinnern! Und ich bitte Sie ja auch nicht darum, durch die Wüste zu
rennen oder sich mit Sokolow zu schlagen. Machen Sie sich keine
Sorgen, die Rolle des Rambo übernehme ich.«
Er lachte herzhaft.
»Sehr komisch, aber Sie vergessen, daß es zweierlei ist, einen Plan
zu fassen und ihn umzusetzen. Außerdem übergehen Sie die
allereinfachste Frage: Warum sollte ich mich in ein so verrücktes
Abenteuer stürzen? Der Herrgott hat mir wohl, wie es scheint, eine
kleine Extraportion an Leben gewährt, und die möchte ich so lange
wie möglich ertragreich nutzen!«
»Erzählen Sie mir nicht, es ließe Sie kalt, wenn ein russischer
Mafioso, ein ordinärer Killer in der Maske eines Gelehrten, den
Tempelschatz und die möglicherweise darin enthaltenen Dokumente
raubt!«
»Noch ist nichts geraubt worden, und das wird auch gewiß nicht
geschehen.«
»Aber sicher! Im übrigen versucht Sokolow es bereits. Und er geht
dafür über Leichen! Das ist jemand, der die Vergangenheit ebenso
zerstört wie die Gegenwart. Reicht Ihnen das nicht? Haben Sie nicht
ein Buch geschrieben über die Erinnerung, die man bewahren und
lebendig erhalten muß?«
»Sie haben es sicherlich nicht gelesen.«
»Das ist hier nicht das Thema. Das Thema lautet: Stellen Sie sich
eine Sekunde lang das Buch vor, das Sie aus dieser Geschichte machen
könnten! Sie sagen, daß Sie gerade eine >Extraportion< erhalten
haben. Gibt es für Sie ein interessanteres Projekt als dieses?«
Ohne es zu wissen, hatte er den wundesten Punkt getroffen, aber ich
tat unbekümmert.
»Ganz wie für Sie, der Sie davon träumen, die große Reportage für
die Times zu schreiben.«
»Aber sicher!«
»Sie haben nicht die geringste Chance! Und, ganz ehrlich, die Sache
interessiert mich nicht. Es ist zu spät. Vor zwanzig Jahren
vielleicht...«
Dieses Mal schien ihn meine Entschlossenheit zu erreichen. Bestürzt
betrachtete er das Zimmer um uns herum, den überfüllten
Schreibtisch, die Bücherregale.
»Entscheiden Sie sich nicht sofort. Ich kann bis morgen warten.«
»Wie großzügig!«
»Ich habe nicht viel Zeit, ich muß vor Sokolow beim ersten Versteck
ankommen.«
»Sie werden es nicht finden. In dreißig Jahren hat niemand etwas
gefunden.«
»Sie suchen eben nicht richtig. Aber ich bin sicher, Sie könnten mit
Aarons Hinweisen etwas anfangen ... Er hat hervorragend gearbeitet,
ohne die Vorurteile eines Gelehrten. Es ist die Arbeit eines jungen
Mannes voller Gespür für die Dinge, eines Unschuldigen, der gefühlt
hat, daß der Tod ihm auf den Fersen war, und der vor ihm ans Ziel
gelangen wollte.«
Ich antwortete nicht. Mit einem leisen Seufzer stand er auf und
streckte mir die Hand entgegen.
»Sie haben recht. Ich werde nach Jerusalem gehen, auch ohne Sie.
Wenn Sie allerdings einwilligten, mir zu helfen, hätte ich eine
echte Chance, Aaron zu rächen und elende Mafiosi daran zu hindern,
das Gedächtnis eines Landes und eines Volkes zu plündern, das Ihnen,
wie ich sehr wohl weiß, mehr bedeutet als alles andere.«
hagalil.com
15-01-03 |