Irene Awret:
Aber erst müßt ihr mich kriegen
Erinnerungen einer Malerin 1921-1944
Vorwort von Walter Laqueur
Gebunden, 345 Seiten
Aufbau-Verlag 2005
Euro 22,90
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Irene Awret:
Aber erst müßt ihr mich kriegen
Leseprobe
Bald drei Monate waren seit dem letzten Transport im
Januar vergangen, die Öfen wurden nicht mehr geheizt, und ich wußte, daß
draußen in der Freiheit Frühling war. Statt aber an unserem
Himmelsviereck nach Schwalben zu suchen, behielt ich das Eingangstor im
Auge. Wann immer die Wache das Tor öffnete, erwartete ich, daß ein
großer, mit Mehl beladener Lastwagen einfuhr. Die Mädchen aus der
Aufnahme hatten ihn mir beschrieben. Wenn man dann nach den
Gepäckträgern pfiff, um die Mehlsäcke abzuladen, sei das ein sicheres
Zeichen, daß der nächste Zug auch nicht mehr weit war. Bei jedem von den
19 Transporten, die sie miterlebt habe, sei zusammen mit den Juden eine
Ladung Mehl fürs Vaterland verfrachtet worden, berichtete mir Minnie.
Also waren wir dankbar für jeden Tag, an dem das Mehl nicht ankam. Das
Warten war aufreibend. In meinem Skizzenbuch war noch ein wenig Platz,
ich zeichnete, was ich um mich herum sah, besonders die Lagerkinder,
junge Gesichter mit traurigen, alten Augen. Wie ein Schwamm saugte ich
diese Eindrücke auf, sie gingen durch mich hindurch, nahmen Gestalt auf
dem Papier an, ohne daß ich meiner selbst dabei bewußt gewesen wäre.
Auf den täglichen Rundgängen traf ich mich oft mit Dina, Minnie oder Evi,
doch vor engeren Beziehungen scheute ich zurück. Ich war eine
Transportnummer, warum mir die Trennung schwer machen?
Das berüchtigte Lastauto mit dem Mehl war noch immer nicht gesichtet
worden, als unsere drei Kapos, Meier, Voss und Kraus, für den folgenden
Sonntag eine Festlichkeit ankündigten. Ein alter Trick, um die Spannung
im Lager zu entladen, ein Ablenkungsmanöver, meinten erfahrene Leute,
während ich mich noch an die Möglichkeit klammerte, daß vielleicht
selbst SS-Männer eine menschliche Seite hätten.
Dago Meier, der ehemalige Opernsänger, sollte das Programm
zusammenstellen, in allen Sälen hielt man nach Talenten Ausschau.
Geduldig ließen wir den jungen Holländer in unserem Saal auf seiner
Gitarre üben. Stundenlang schwoll alle paar Minuten die gleiche Melodie
an, die er selbst komponiert hatte. Eine sacht plätschernde,
melancholische Welle, die sich ständig selbst erneuerte, noch nach einem
halben Jahrhundert klingt mir das kleine Liedchen in den Ohren. An den
Namen des jungen Komponisten kann ich mich nicht erinnern, aber der
seines ebenfalls holländischen Freundes, Api Bueno de Mesquito, ist mir
unvergeßlich. Mit einem solchen Namen, seinen markanten Zügen und
pechschwarzem Haar war Api prädestiniert für eine Hauptrolle. Im Saal
der B-Nummern fand sich ein professioneller Bühnendeko rateur, Lon
Landau vom Königlichen Theater in Antwerpen. Aus Pappmaché schuf er eine
Partnerin für Api, der er die alte Kleidung von Häftlingen überzog, die
die Nazis bei der Aufnahme beschlagnahmt hatten.
Diejenigen unter den Gefangenen, die prinzipiell dagegen waren, daß sich
Juden vor den Nazis zur Schau stellten, hofften auf Aprilschauer. Obwohl
sie sicher recht hatten, waren sie in der Minderheit, denn wer wollte
nicht wenigstens für ein paar Stunden die Gegenwart und noch mehr die
Zukunft vergessen?
Der Sonntag kam, und das Wetter war schön. Es war der einzige Tag der
Woche, an dem wir uns gegenseitig in den Sälen besuchen durften, und
schon bald nach der Suppe stellten sich auf dem Hof Gruppen im Kreis
auf.
"›Gebt Raum, ihr Völker, unserem Schritt, wir sind die letzten Goten‹ …
Vorsicht, hier kommt der Thespiskarren!" Lon Landau war bemüht, gute
Stimmung zu verbreiten, als die Gepäckträger Tische anschleppten und in
einem Rechteck aufstellten. "Die Mauern, die euch hier umringen, sind
nur eine Illusion", Lon drehte sich auf dem Absatz seines Cowboystiefels
langsam einmal um die eigene Achse und wies mit einer pathetisch breiten
Geste auf die Küche. "Venedig, verehrtes Publikum, der Dogenpalast, San
Marco, Zypressen und Orangenbäume … Nur die Bühne ist Wirklichkeit!"
Sein Enthusiasmus zündete indes nicht, die Zuschauer folgten seinem
Gebaren mit stummen Blicken. Schließlich schwang sich Dago Meier auf die
Tische und zog ein kleines Mädchen nach.
"Meine Damen und Herren, Applaus für unsere jüngste Diva, Jeannette Levi.
Nummer eins: Der Tanz der Olympia, Musik von Jacques Offenbach."
Die Ballettschuhe und das Akkordeon aus dem Magazin gingen sicher mit
einem der nächsten Transporte nach Deutschland und Jeannette noch ein
Stück weiter, dachte ich, während ich, wie alle, laut applaudierte. Die
nächste Nummer bestand aus einem Gitarren-Duo der beiden Holländer, im
Anschluß rezitierte jemand mit einer Pappnase Cyrano de Bergerac. Nach
einer weiteren Balletteinlage erzählte einer der Hofarbeiter Wiener
Witze. Begleitet von bewundernden Pfiffen, bestieg danach eine von
schwarzen Locken und rosa Schleifen umflutete Schönheit das Podium. Ihr
üppiger Busen hob sich, als sie "Quand ça va boum, là, là, mon cœur …"
sang, den neuesten Schlager, der von Paris über Brüssel kam und sogar
unsere Mauern durchdrungen hatte. Die junge Frau bot ihren ganzen
Charme, ihr ganzes Rhythmusgefühl auf, alles, was das Publikum mitreißen
könnte, sie hoffte vielleicht, daß nicht einmal die abgebrühtesten Nazis
es über sich brächten, soviel Liebreiz und Talent auf Transport zu
schicken. Tatsächlich klatschten sogar die Wachen, während die
Lagerleitung in ihren Fenstern lehnte und aus sicherer Entfernung
beobachtete, wie sich die Juden amüsierten.
Nach langem Applaus kam endlich die Hauptnummer. Von einem Akkordeon
begleitet, tanzte Api Bueno de Mesquito mit einer lebensgroßen Puppe auf
die Bühne. Ihr Gesicht war eine Karikatur von Api. Die Dame schlenkerte
mit Armen und Beinen unter einem geblümten Kleid, ihre Perücke war
elegant frisiert. Ob dieses lange schwarze Haar wohl vordem den Kopf
einer Jüdin geschmückt hatte? Das war anzunehmen, doch nicht einmal
dieser ernüchternde Gedanke hielt mich vom Lachen ab. Api war einfach zu
komisch. Mit seiner ausgestopften Tanzpartnerin legte er einen
leidenschaftlichen Tango auf das imaginäre Parkett, entriß sie einem
unsichtbaren Rivalen, stritt mit ihr und hätschelte sie. Das Publikum
konnte von diesem Pärchen gar nicht genug bekommen. Schließlich kam aber
doch die nächste und letzte Nummer an die Reihe: Dagobert Meier,
Künstlername Dago Meybert, den ich später so sehr hassen lernte, sang
mit seiner wunderschönen Stimme verschiedene Arien. Bei Kennst du das
Land, wo die Zitronen blühen? zerflossen wir vor Sehnsucht, vergaßen für
einen flüchtigen Moment unsere Umgebung. Noch bevor der Applaus für
Meier sich vollkommen gelegt hatte, stimmte eine Gruppe von jungen
Leuten das "Lied von Mecheln" an. Die Melodie war einem
Ray-Ventura-Schlager entlehnt, der seinerzeit auf allen Radiosendern
gespielt wurde. Wer im Lager den neuen Text dazu verfaßt hatte, weiß ich
nicht. In bester jüdischer Tradition mokierte sich darin ein Gefangener
über sein eigenes Unglück:
"On a les mêmes apparences,
Un nez, deux yeux et deux oreilles,
A cause d’une petite différence,
Un malheur nous est arrivé.
On a tous le cœur qui bat,
Comme tout le monde,
Un cerveau, un estomac,
Comme tout le monde."
"Wir sehen alle gleich aus,
Haben eine Nase, zwei Augen und zwei Ohren,
Und nur wegen des einen kleinen Unterschieds,
Ist uns ein Unglück passiert.
Ein Herz schlägt mir in der Brust
Wie jedem Menschen,
Ein Gehirn denkt mir im Kopf,
Wie bei allen anderen auch."
Wir sangen das Lied immer wieder und immer lauter, bis die Wachen pfiffen:
"Alles auf die Säle!"
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04-05-05 |