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Das Dorf des Deutschen

Ein großes Werk des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal…

Von Roland Kaufhold

„Es war Zeit, dass ich fortging. Ich hatte hier nichts zu schaffen, ich habe keinen Platz an diesem Ort. Ich hätte nicht herkommen sollen, ich habe ihn beschmutzt.“ Mit diesen Bemerkungen verabschiedet sich der 33-jährige literarische Protagonist Rachel Schiller vom Ort einer unermesslichen Schande: von Auschwitz. Zugleich ist dies das Ende einer aufdeckenden biografischen und historischen Reise. Sie endet wenige Monate später mit Rachels Freitod.

Die verstörende Suche nach der tabuisierten familiären Wahrheit – die ihn von Frankreich über Algerien nach Deutschland, Österreich, Auschwitz, Istanbul und Kairo führt – überwältigt ihn. Er vermag das familiäre Erbe – sein 1918 geborener Vater Hans Schiller war ein nationalsozialistischer Mörder, der nach dem Krieg in Algerien untergetaucht war – nicht mehr zu ertragen.

Und doch lebt Rachel weiter: in seinem Tagebuch, das im Buch dokumentiert wird. Parallel hierzu erzählt der zweite Protagonist der Erzählung, sein 19-jähriger Bruder Malrich, seine eigene Geschichte. Er nimmt das Erbe an.

Verfasser dieses aufrührenden Werkes ist der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, der bis heute, trotz seiner eigenen Bedrohung durch islamistische Terroristen, in Algerien lebt. Ein Großteil seiner Werke ist in seinem Heimatland verboten. Und doch schreibt er weiter. In diesem Herbst erhält der Autor – sechs seiner Bücher sind beim Merlin Verlag auf Deutsch erschienen – den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Er hat es wahrlich verdient.

Das Dorf des Deutschen oder das Tagebuch der Brüder Schiller ist das hoch komplexe Werk betitelt, das dem Leser einiges abverlangt. Gleich mit den ersten Worten des Werkes wird in das Drama eingeführt: „Es sind jetzt sechs Monate, dass Rachel tot ist. (…) Eines Tages, das ist zwei Jahre her, ist irgendwas in seinem Kopf kaputtgegangen (…) er hockte grübelnd in seiner Ecke, er schrieb, er delirierte (…) Er büßte die Gesundheit ein. Dann seine Arbeit. Dann den Verstand. Ophelia hat ihn sitzen lassen. Eines Abends hat er sich umgebracht“ (S. 7). Dies bemerkt Malrich in einer Tagebuchnotiz vom 24. April 1996. Und noch einen weiteren Tod hat dieser zu verkraften: Genau zwei Jahre zuvor wurden sein aus Deutschland gebürtiger Vater sowie seine algerische Mutter bei einem islamistischen Attentat in Algerien ermordet. In Algerien waren sie zuvor hofiert worden, waren Günstlinge des herrschenden Regimes, staatliche Berater für Logistik und Bewaffnung. Über die mörderische Vergangenheit seines Vaters, seinen von der Odessa-Gruppe (1) organisierten Fluchtweg, seine Verbrechen während der Nazizeit, hatte er nichts gewusst. Das zerstörerische, unaufgearbeitete Erbe wirkte in der Familie als mörderische seelische Last weiter.

Der Selbstmord seines großen, beruflich erfolgreichen Bruders, dieser kam 1970 als Siebenjähriger von Algerien nach Frankreich, erschüttert ihn. Der Schmerz droht ihn zu überwältigen. Durch die Lektüre des Tagebuches seines Bruders lernt der in Frankreich Aufgewachsene seine familiäre Geschichte kennen: „Ich habe Rachels Tagebuch wieder und wieder gelesen. Es war dermaßen kolossal, dermaßen schwarz, dass ich damit nicht fertig wurde. Und auf einmal habe ich, der einen Horror davor hat, mich daran gemacht, zu schreiben wie ein Irrer“ (S. 14).

Algerien, das Land seiner Eltern, war ihm zuvor sehr fremd gewesen: „Was ich über Algerien weiß, das habe ich durch die Medien erfahren, durch meine Lektüre, die Gespräche mit den Kumpels“ (S. 17), erinnert er sich.

In einem rasenden Tempo wird der Leser in die verwirrende Zeitgeschichte, den familiären Ereignisstrom hineingesogen, muss sich immer wider neu orientieren, um die Geschichte zu verstehen. Rachels Entschluss, nach der Ermordung seiner Eltern in das ihm fremde Algerien zu reisen, um Näheres über deren Tod, aber auch deren verborgene Nazivergangenheit zu erfahren, löst die Geschichte aus der Verdrängung, der individuellen sowie gesellschaftlichen Tabuisierung. „Meine Entscheidung steht fest, ich fahre nach Ain Deb. Das ist eine Pflicht, eine absolute Notwendigkeit. Es ist mein Weg nach Damaskus. Ungeachtet der Risiken“ (S. 22), betont Rachel. Er setzt sich der realen wie auch der fantasierten Bedrohung, einer übermächtigen Angst aus, immer wieder: „Die Angst zerschnitt mir den Bauch. Die Landkarte war so leer, dass einem das Blut gefror. Keine Sterbensseele. Nicht ein Geräusch“ (S. 26f.). Es gelingt ihm, gegen den Willen der algerischen Behörden – „nach drei Monaten höllischen Herumrennens“ (S. 23) – , den elterlichen Nachlass, „Papiere, Fotos, Briefe, Zeitungsausschnitte“ (S. 45), zu sichten. Er entdeckt eine Medaille der Wehrmacht, ein Abzeichen der Hitlerjugend, ein Abzeichen der Waffen-SS. Die Fotos des Vaters, aus der Nazizeit, erschrecken ihn: „Auf anderen ist er älter, er trägt die schwarze Uniform der SS, er macht ein strenges Gesicht. Er steht aufrecht, in der Mitte eines großen Platzes, gegen einen Panzer gelehnt, oder er sitzt auf den Stufen einer Baracke“ (S. 45). Und er findet im Tagebuch seines älteren Bruders auf deutsch notierte Satzfragmente wie „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ und „Befehl ist Befehl“ (S. 50), die ihn ohne Kenntnis der deutschen Sprache an dunkle Verurteilungen denken lassen.

Im Sommer 1995 reist Rachel nach Frankfurt. Er erfährt, dass sein Vater dort während seines Ingenieurstudiums an der Chemischen Fakultät gearbeitet hat, wo das Todesgas Zyklon B entwickelt wurde. Er forscht der mörderischen Verbrechen der Sonderkommandos (S. 160) nach, liest über die Endlösung.

Nach seiner Reise nach Algerien kehrt sein Bruder Rachel sehr verändert zurück. Und auch Malrich drängt sich die beunruhigende Frage auf, die seinen Bruder in den Selbstmord treiben sollte: „Müssen wir Rechenschaft ablegen für die Verbrechen unserer Väter, die Verbrechen unserer Brüder und unserer Kinder?“ (S. 51)

Für Malrich folgt eine Reise nach Deutschland, nach Uelzen, dem Geburtsort seines Vaters, er sucht nach ehemaligen Bekannten. Deren Hilfsbereitschaft irritiert ihn: „Die Deutschen sind hilfsbereit, zu sehr, sie verzweifeln, wenn sie sich entwaffnet sehen; nicht helfen zu können, erniedrigt sie“ (S. 61). Nach langer Suche trifft er einen ehemaligen Freund seines Vaters: „Dein Vater war ein Soldat, und das ist alles. Vergiss das nicht, mein Junge“ (S. 68) schärft dieser ihm ein. Je mehr sich die Brüder der mörderischen Vergangenheit ihres Vaters annähern, desto totalitärer, gefährlicher erscheint ihnen der islamistische Fundamentalismus, den sie in Frankreich wie auch in Algerien erleben. Die „sozialistische Diktatur“ (S. 144) habe sich mit „dem Basar und der Religion“ (ebda.) zusammen getan. In dem Maße, in dem Rachel sich auf die historische – nazistische – wie auch reale – islamistische – Gefahr einlässt wird er von Ängsten, von Schamgefühlen überflutet, die er irgendwann nicht mehr zu ertragen vermag. Malrich versucht diesen Entwicklungsprozess, der seinen großen Bruder in den Selbstmord trieb, zu rekonstruieren, zu verstehen:

“Als meine Eltern und ihre Nachbarn aus dem Dorf von den Islamisten hingemetzelt wurden, hat Rachel angefangen nachzudenken. Er hat verstanden, dass der Islamismus und der Nazismus Jacke wie Hose sind. Er wollte sehen, was uns bevorstand, wenn wir es laufen ließen wie in Deutschland, in Kabul und in Algerien, wo die islamistischen Leichenhaufen sich nicht mehr zählen lassen, wenn wir es bei uns, in Frankreich, so laufen lassen, wo sich die islamistische Gestapo zahlenmäßig nicht mehr erfassen lässt. Am Ende hat ihm das so viel Angst gemacht, dass er sich das Leben genommen hat. Er dachte, es war bereits zu spät, er fühlte sich verantwortlich, er sagte, dass unser Schweigen Komplizenschaft war“ (S. 132f.).

Der demokratische Staat Israel ist der Hauptfeind, dieser wird dämonisiert. „Sie werden dich braten wie einen Juden“ (S. 146) lässt Sansal seinen Protagonisten vernehmen – eine Analyse, die den Schriftsteller Boualem Sansal Todfeindschaften in seinem Heimatland Algerien einbringt.

Und immer stärker wird Rachel durch die sich ihm aufdrängende Frage bedrückt: „Wusste Papa, was er in Dachau, in Buchenwald, in Majdanek, in Auschwitz tat? Ich kann nicht mehr glauben dass er ein Opfer war, ein unschuldiger und zerbrechlicher Jüngling, den das Böse in seinem Nichtwissen oder gegen seinen Willen gepackt hat“ (S. 100).

Sein Vater, der Massenmörder, hat „danach“ glücklich weiter gelebt, die Ermordeten waren ihm gleichgültig; vielleicht freute er sich sogar seiner Mordtaten. Sein Schweigen hat seinen Kindern und Enkeln die seelische Last, das tödliche Gift – die sich als „vergiftete Milch“ in ihren Seelen niederschlug – hinterlassen. Rachel ist über die trostlose Einsamkeit dieser mörderischen Erinnerung verrückt geworden: „Diese Fragen machen mich verrückt, weil ich die Antwort auf sie kenne: Papa hat sich das Leben genommen, hat sich nicht gestellt, er ist geflohen, er hat den Mund gehalten, er hat gesessen. Er hat mir nichts gesagt“ (S. 168).

Er fühlt sich den Opfern nahe. Das Vergessen ihres Todes lässt sie ein zweites Mal sterben, so erscheint es ihm. Er fühlt seine Ähnlichkeit mit seinem ihm fremden Vater, was ihn zunehmend ekelt und verzweifeln lässt. Er schließt sich in seinem Schmerz ein, der ihn zerstört. Und er fühlt die Ungerechtigkeit, dass die Henker überlebt haben, immer noch leben. Das Wissen darüber treibt ihn in den Wahnsinn – und zugleich, im Februar 1996, zu einem Besuch nach Auschwitz – „dieser Reise ins Herz des Schreckens“ (S. 200). Rachel schreibt in seinem Tagebuch „hunderte von Seiten“, von „herzzerreißenden Seiten“ (ebda.) über Auschwitz – eine Konfrontation, die ihn zerstört. Nur noch der Selbstmord vermag für ihn  einen Ausweg, eine Rettung zu bieten. Das literarische Kapitel über Auschwitz (S. 241-262) – betitelt mit „Auschwitz, das Ende der Reise“ (S. 241-261) – gehört zu den bedrückendsten Teilen dieses Buches; voller Verwunderung fragt sich der Rezensent, wie sich ein in Algerien lebender Autor in derart schonungsloser Weise mit den deutschen Verbrechen zu beschäftigen vermag. Er schreibt über die Millionen von Ermordeten, sadistisch Gequälten. Sein Vater war an diesen systematischen Mordtaten beteiligt – dies vermag Rachel bei seinem Besuch in Auschwitz nicht mehr zu ertragen: „Sich als der Sohn eines Henkers zu entdecken ist schlimmer, als selbst ein Henker gewesen zu sein. Der Henker hat seine Rechtfertigungen, er nimmt Deckung hinter seinem Diskurs, er kann leugnen, er kann auffahren (…) er kann sich retten, die Identität wechseln, sich neue Rechtfertigungen zusammenbasteln, er kann sich bessern, er kann alles. Aber der Sohn, was kann er, außer die Verbrechen seines Vaters zählen und sein Leben lang die schwere Last mit sich herumschleppen? Ich bin böse auf meinen Vater, ich bin böse auf dieses Land“ (S. 253). Und wenig später, als er in Auschwitz seinen Vater, den Massenmörder, verflucht, schreibt er voller Verzweiflung, wie ihm der Schrei im Hals stecken bleibt: „Ich habe mich hingesetzt, und wie ein Deportierter, der den Tag über zu viel von allen gesehen hat, habe ich trockene Tränen geweint“ (S. 254). Und wenig später: „Mein Vater wird ein Rätsel bleiben, und mein Schmerz wird kein Ende kennen“ (S. 259). Die Begegnung mit einer Greisin, die Auschwitz überlebt hat und diesen Ort noch einmal besucht, berührt ihn tief, kurzzeitig, eine Begegnung, über die Abgründe hinweg: „… Ich habe mich vorgebeugt und ich habe sie auf die Stirn geküsst. Eine Freundesgeste, eine Geste der Brüderlichkeit. Über den Abgrund hinweg, der uns trennte“ (S. 260).

Rachel, der unschuldige Sohn eines deutschen Massenmörders, musste Auschwitz besuchen – und hätte dies vielleicht doch nicht tun sollen. Das Kapitel über seinen Besuch in Auschwitz endet so: „Es war Zeit, dass ich fortging. Ich hatte hier nichts zu schaffen, ich habe keinen Platz an diesem Ort. Ich  hätte nicht herkommen sollen, ich habe ihn beschmutzt“ (S. 261).

In einer »Notiz«, einem Zwischenkapitel, ordnet der Autor den verwirrenden Handlungsablauf. Über das Massaker, dem unter anderem der Mörder und Vater Hans Schiller am 24. April 1994 zum Opfer fallen, lässt er seinen jugendlichen Protagonisten Malrich resümieren:

»Papa, Mama und unsere Nachbarn waren dabei die Opfer, aber es ist auch in diesem Moment, dass der SS-Mann Hans Schiller, der Austilger, der Usurpator, sein Leben beendet hat, und dabei sein Geheimnis mit sich ins Grab nahm. Für Rachel war keine Gerechtigkeit hergestellt. Er hat die Last dessen bis zum Ende getragen, und ich trage sie meinerseits« (S. 205f.).

Boualem Sansal, der große algerische Schriftsteller, hat eine spannende, aufwühlende Spurensuche vorgelegt. Sie macht auf seine weiteren Werke neugierig, wie auch auf seine hier auf haGalil veröffentlichte biografische Skizze. Und auf seine Frankfurter Preisrede am 16. Oktober diesen Jahres. Mit einer Laudatio des Schweizer Schriftstellers Peter von Matt.

Boualem Sansal, Das Dorf des Deutschen oder das Tagebuch der Brüder Schiller. Roman. Übers. aus dem Französischen von Ulrich Zieger. Gifkendorf (Merlin Verlag), 279 S., 22,90 Euro, Bestellen?

Internettipp: http://www.boualem-sansal.de/

Eine veränderte Version dieser Rezension erscheint in der Ausgabe 4/2011 (Heft 126) der Zeitschrift psychosozial. Wir danken dem Psychosozial-Verlag für die Nachdruckrechte. Eine weitere Rezension des Autors erscheint in der Zeitschrift TRIBÜNE (3/2011).

(1) Der britische Schriftsteller und Journalist Frederick Forsyth hatte dieses Thema bereits 1972 zum Focus seines packenden Thrillers „Die Akte ODESSA“ gemacht. Das Buch erschien 1972 in England und 1973 beim Pieper-Verlag auf deutsch. Siehe http://www.arte.tv/de/1298862,CmC=1298816.html