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Die christliche Eroberung des alten Testaments

Sebastian Moll stellt auf rund 80 Seiten einen chronologischen Überblick über den Umgang der Christen mit ihrer Herkunftsbibel dar. In angenehm witziger Sprache erzählt Moll von Ignatius von Antiochia, Barnabas, Ptolemäus und Marcion, Justin und Apelles, Irenäus von Lyon und schließlich von Adolf von Harnack und all ihren unterschiedlichen Lösungsansätze für das Problem des Umgangs mit der jüdischen Bibel in der neuen christlichen Religion mit ihren Evangelien…

Von Ramona Ambs

Während Ignatius noch versuchte, das Problem als solches herunterzuspielen und Barnabas den Widerspruch zwischen Ursprungsbibel und Neuem Testament hinweg allegorisierte (wobei hier nur die halbe Moses-Geschichte erzählt wird), kommen die späteren „Theologen“ zu höchst unterschiedlichen Einschätzungen. Marcion und Ptolemäus beispielsweise schrieben die Ursprungsbibel schlicht einem anderen Gott als dem ihren zu. Das Christentum hätte demnach einen neuen eigenen Gott, der mit dem Gott der Juden nichts gemein hat.

Bedauerlicherweise passiert dem Autor hier ein Fehler, der -nicht nur aus jüdischer Perspektive- gravierend ist. Moll schreibt auf Seite 31 seines Buches: „Übrigens findet sich hier bereits einer der berühmtesten Kontraste, der auch heute noch oft als Zeichen einer Disharmonie zwischen beiden Testamenten empfunden wird: Im Alten Testament heißt es: Auge um Auge, Zahn um Zahn, im Neuen Testament aber heißt es, wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar (…)“.

Ajn tachat ajn (Auge für Auge) wird im Judentum aber ganz anders ausgelegt als in der lutherischen Übersetzung. Anhand dieses Zitats wird Juden bis heute vorgeworfen, sie und ihr Gott seien rachsüchtig und grausam – im Unterschied zum „christlichen“, gütigen Gott. Dass es sich bei „ajn tachat ajn“ um eine Grundlage für Ausgleichs – und Vergleichsfälle handelt, findet bei Moll keinerlei Erwähnung. Der so konstruierte unnötig riesige Widerspruch zwischen dem alten und neuen Testament wäre deutlich geringer, wenn man die Stelle korrekt benannt hätte. Moll beschreibt zwar an dieser Stelle die Sichtweise Marcions, dennoch fehlt hier eine Richtigstellung eben dieses Zitats, das doch bis heute für sehr viel Unheil (mit-)verantwortlich ist.

Im weiteren Verlauf beschreibt Moll die Haltungen der anderen frühen Theologen zu ihrer Herkunftsbibel. Apelles wertete die ursprüngliche Bibel quasi als Märchenbuch ab. Justin hingegen behauptete, dass es sich beim Gott der Juden und der Christen zwar um denselben handelte dass aber der ursprünglich geschlossene Bund mit den Juden hinfällig geworden sei, weil die Juden ein sündhaftes und hartherziges Volk wurden. Irenäus von Lyon schließlich sieht den Bund Gottes mit den Juden endgültig als hinfällig an. Das „alte Testament“ gehört den Christen, die Juden haben sich „von der Offenbarung Gottes abgewandt“. Hinzu kommt bei Irenäus der Vorwurf des „Gottesmords“, der jedoch im Heilsplan Gottes für die Christenheit mit vorgesehen sei.

Dann springt Moll direkt ins 20. Jahrhundert, wo er eine – beinah begeisterte- Besprechung über Adolf von Harnack schreibt. Dieser wollte das alte Testament „den Juden zurückgeben“, da es durch Jesus selbst überflüssig geworden sei. Hier streift Moll eine alte Debatte, nämlich die des Verhältnisses kulturprotestantisch geprägtem Bürgertums gegenüber dem Judentum. Moll attestiert von Harnack dabei eine beinah judenfreundliche Haltung, die um so irritierender wirkt, da Moll selbst von Harnack wie folgt zitiert: „So steht die Frage des AT, die Marcion einst gestellt und entschieden hat, heute noch fordernd vor der evangelischen Christenheit. Er mußte das AT als ein falsches, widergöttliches Buch verwerfen, um das Evangelium rein behalten zu können; von „verwerfen“ ist aber heute nicht die Rede, vielmehr wird dieses Buch erst dann in seiner Eigenart und Bedeutung allüberall gewürdigt und geschätzt werden, wenn ihm die kanonische Autorität, die ihm nicht gebührt, entzogen ist.“

Nun hat Moll mit seiner Bewertung von Harnacks insofern recht, dass von Harnack kein rassistisch motivierter Antisemit war, dennoch hat er Juden ganz offenbar als etwas Fremdes und Minderwertiges empfunden. Jedenfalls schrieb Adolf von Harnack an Houston Stewart Chamberlain, einen hochgradig antisemitischen Schriftsteller seiner Zeit, dass es „diesem Volk“ durch die Geschichte „furchtbar schwer gemacht worden, sich zu edler Menschlichkeit emporzufinden,“ obwohl er „schon jetzt […] mehrere Juden“ kenne, die ihm „auf verschiedenen Linien Ehrerbietung abnötigen. Wollen wir dem Volke doch hoffen, dass es vorwärts komme“ . Wie Moll dennoch nun zur Erkenntnis gelangt, dass von Harnack ein positives Bild von Juden und ihrer Bibel gehabt haben soll, bleibt -für mich- trotz seiner breiten Ausführungen nicht nachvollziehbar. Dazu passt allerdings, dass Moll die Kirche offenbar als unfrei empfindet. Er bemängelt sowohl die christliche Ablehnung der Juden in der Antike, als auch die übertriebene Annäherung der Kirche an die Juden in der Nachkriegszeit, wobei man sich hier wirklich fragt, von welcher Annäherung Moll da spricht.

Die Erklärung der evangelischen Kirche im Rheinland von 1980, die besagt, dass Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes von der Welt seien und deshalb Juden nicht missioniert werden sollen, empfindet Moll als Politikum, da darin explizit benannt wird, dass die Kirche sich durch die Abwertung des Bundes Gottes zu den Juden mitschuldig gemacht habe an der Vernichtung der Juden und dass deshalb nun eine Neuinterpretation notwendig geworden sei. Er beklagt: „Denn es waren nicht etwa theologische oder exegetische Erkenntnisse, die zu dieser Neuinterpretation des Alten Testaments in den letzten Jahrzehnten geführt haben, sondern die politisch-gesellschaftliche Atmosphäre unseres Landes.“

Wenn man von der fragwürdigen Begründung der „politisch-gesellschaftlichen Atmosphäre“ einmal absieht, muss man zugeben: Das ist ein Einwand, der rein wissenschaftlich gültig sein könnte- aber soll man eine exegetisch korrekte Theologie, die halt judenfeindlich ist, beibehalten, nur weil sie sich theologisch glatt begründet?

Jesus, der -typisch Jude(!)- eben mehr am Menschen als an der Schrift, interessiert war, hätte diese Erklärung vermutlich begrüßt, denn es ist sehr angenehm aus Gründen eines „Politikums“ am Leben zu bleiben, als aus theologisch-exegetisch korrekter Ablehnung ermordet zu werden. Moll schreibt hier am Menschen vorbei. Seine Versuche die Ablehnung des ersten Testaments als judenfreundlicher darzustellen als dessen vollständige Vereinnahmung sind nicht überzeugend. Die bittere Wahrheit ist, dass sowohl die Ablehnung als auch die vollständige (und Juden ausschließende) Vereinnahmung der Ursprungsbibel mit judenfeindlichen Begründungen einher ging.

Dennoch ist das Buch von Moll durchaus empfehlenswert. Es gibt nämlich tatsächlich einen guten kurzen Überblick über die frühen christlichen Theologen und einen guten Einblick in das heutige Verständnis eines jungen Theologen, der ganz in der Tradition des protestantischen Bürgertums um seine Beziehung zu den Juden ringt.

Sebastian Moll: Die christliche Eroberung des Alten Testaments
Etwa 100 Seiten, gebunden, € 19,90 (D), € 25,60 (A), ISBN 978-3-940432-80-3, Bestellen?