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LESEPROBE (II): Kathe – Deportiert aus Norwegen

Leseprobe aus: Espen Søbye: Kathe. Deportiert aus Norwegen. Assoziation A, Hamburg 2008. Euro 18,00
Nachwort von 2005, S. 153-160"

Von Espen Søbye

Als ich an dem Buch über Kathe Lasnik zu arbeiten begann, ahnte ich nicht, wie schwierig es sein würde, Quellen zu finden. Auch wenn sie nur 15 Jahre alt wurde, hatte sie immerhin mitten in Norwegens Hauptstadt gewohnt. Es war meine Absicht, ihr Leben zu rekonstruieren und den Denkmälern zu entreissen. Doch der Plan drohte daran zu scheitern, dass sie so wenige Spuren hinterlassen hatte.

Was sagt dieser Mangel an Quellen aus? Ist er nicht ein Indiz dafür, wie effektiv der Versuch war, die gesamte jüdische Bevölkerung Oslos auszurotten?

Der Mangel gab auch dem Erinnerungsschmerz Nahrung, der alle Überlebenden traf. Der Schmerz hemmte und schwächte ihr Gedächtnis und bewirkte, dass die Erinnerungen nur unendlich langsam in ihr Bewusstsein zurückdrangen.

Dennoch hoffte ich darauf, dass das Buch nach seinem Erscheinen neue Erinnerungen zum Leben erwecken würde. Ich hoffte darauf, Menschen kennenzulernen, die mir mehr über Kathe Lasnik erzählen konnten. Genau dies sollte tatsächlich eintreten, doch es geschah auch etwas, das ich nicht vorausgesehen hatte. Etliche Personen, die die Judenverfolgungen miterlebt hatten, meldeten sich bei mir, um mir zu erzählen, was ihnen selbst oder anderen Menschen während dieser Zeit widerfahren war.

Ich kam unter anderem mit einem Mann in Kontakt, der mir erzählte, ein Tagebuch zu besitzen, das eine junge jüdische Frau in den Kriegsjahren geschrieben hätte. Einen Augenblick lang dachte ich an das Unmögliche. Aber es stellte sich schnell heraus, dass eine gewisse Rosa London das Tagebuch geführt hatte, und zwar in den Jahren 1942, 1943 und 1946. Andere Augenzeugenschilderungen in Form zeitgenössischer schriftlicher Dokumente waren mir zuvor zum Thema der Judendeportationen nicht bekannt geworden.

Rosa London wurde 1911 geboren und wohnte im Markveien 63, direkt gegenüber dem Geschäft von Anna Lasnik in der Hausnummer 58. Scheinbar begann sie im Frühjahr 1942 mit dem Tagebuchschreiben, weil sie sich in einen Mann verliebt hatte; in ihren Tagbüchern nannte sie ihn stets nur E. Am Freitag, den 15. Mai schrieb sie, dass E sie angerufen und eingeladen habe, sowohl für den Freitag- als auch den Samstagabend, doch sie habe die Einleitung nicht angenommen. Am Sonntag, den 17. Mai, am norwegischen Nationalfeiertag, besuchten sie jedoch gemeinsam den Frognerseteren, ein beliebtes Ausflugslokal. "Sehr nett", schreibt sie in ihr Tagebuch. Am Dienstag, den 19. Mai ruft E sie an, am 4. Juni erneut. Sie verabreden und treffen sich am Samstag. Am 23. Juni notiert sie, dass E sie zweimal angerufen hat.

Im Laufe des Herbstes 1942 beginnt sich der Charakter ihrer Aufzeichnungen zu ändern. Am 26. Oktober wird sowohl Rosa Londons Vater als auch E festgenommen. Am Tag danach gibt sie am Gefängnis Bredtvedt ein Paket mit Kleidung und Medizin ab. Am 28. Oktober sucht sie die Staatspolizei auf und erfährt dort, dass die Männer "nach Tønsberg gefahren" sind. Am Samstag, den 31. Oktober lässt sie E und "Pappa" über das Rote Kreuz jeweils ein weiteres Paket zukommen — mit einer Garnitur Unterwäsche, drei Taschentüchern, einem Schlafsack, ein Paar Handschuhen und einer Mütze. Noch am selben Tag reist sie persönlich nach Tønsberg. Am Dienstag, den 17. November erscheint ein Mann namens Koren in ihrer Wohnung und beginnt ihre Möbel zu registrieren. Er taxiert sie, nach ihren Worten, sehr niedrig: Piano 2000 Kronen, Salon 250 Kronen, Regal mit Büchern 125 Kronen, Esszimmer 1200 Kronen. Am Mittwoch, den 25. November notiert sie: "Habe heute um 10 Uhr erfahren, dass Frauen und Kinder verhaftet werden sollen." Gemeinsam mit neun anderen Juden sucht sie daraufhin zunächst ein Versteck auf. In der Nacht zum 28. November, gegen 3.30 Uhr, passiert sie die Grenze nach Schweden.
Der Freund von Rosa London, E, kehrte nie aus Deutschland zurück. Nach dem Krieg heiratete sie einen Mann, der Birkenau überlebt hatte.

Moritz Gorvitz, der mir bei meinen Recherchen im Spenglermilieu behilflich war, kam zur Pressekonferenz, auf der mein Buch vorgestellt wurde. Als ich ihn kurz vor Weihnachten besuchte, zeigte er mir ein Notizbuch mit Gedichten. Es erzählte mir, dass er auf der Pressekonferenz eigentlich ein Spottgedicht auf Quisling vorlesen wollte, das er damals im Internierungslager Berg geschrieben und seinen Mitgefangenen vorgelesen hatte. "Das hättest du doch tun sollen", sagte ich. "Ich habe mich nicht getraut. Ich hätte nur weinen müssen", antwortete er.

Ein Freund seines Bruders Bjarne, Ivar Thorsheim, schrieb um den Jahreswechsel 2003/04 einen Artikel mit dem Titel: "Mein Klassenkamerad Bjarne Gorvitz. Geboren: 5. Juli 1925. Gestorben: Auschwitz, 26. November 1942". Thorsheim kopierte den Artikel 40-mal und schickte ihn unter anderem an ehemalige Mitschüler der Volksschule, die Gorvitz besucht hatte. Auf vier Seiten berichtet der Artikel über Spiele während der Kindheit, die Schulzeit und über seinen Eintritt in die Spenglerfirma seines Vaters in der Arupsgate.

Auch frühere Bewohner der Wilses gate 6 nahmen mit mir Kontakt auf und erzählten mir vom Leben im Haus, dem Bad und der Sauna im Keller und dem Zahnarzt Strandrud, der 1927 in der alten Wohnung der Familie Lasnik in der zweiten Etage eine Praxis eingerichtet hatte. Eine Dame, die 1958 dort eingezogen war, erinnerte sich daran, dass Strandrud noch zu diesem Zeitpunkt Patienten empfing. Sie erzählte auch, dass ihr Grossvater Taxifahrer war und vielen Juden dabei geholfen hatte, nach Schweden zu fliehen. Sie wusste nicht sehr viel darüber, doch hielt sie dies nicht für einen grossen Nachteil, denn nach dem Krieg habe sie gehört, dass sich viele Norweger für diese Dienstleistungen reichlich hatten entlohnen lassen.

Ich sprach auch mit Hans A. Strandrud, einem Enkel jenes Tore O. Strandrud, der 1919 das Haus in der Wilses gate 6 von Abraham Josef Koritzinsky erworben hatte. Sein Grossvater war durch Grundstücksspekulationen in Rjukan reich geworden und hatte sein Geld in das seinerzeit moderne Mietshaus investiert. Er wusste vieles zu berichten und besass noch ein komplettes Kassenbuch aus der Zeit zwischen den Kriegen. Von seiner 1912 geborenen Mutter, die in der Mariboes gate aufgewachsen war, erfuhr er, dass in der Wilses gate 6 eine jüdische Familie gewohnt hatte, die nicht nach Oslo zurückgekehrt war.

Die 1911 geborene Randi Olsen, eine Freundin von Anna Lasnik, rief mich ebenfalls an. Sie war 15 Jahre alt und Laufbotin, als Kathe zur Welt kam; sie gehörte zur grossen Familie auf der anderen Seite des Ganges. Sie erzählte mir, dass die Kinder der beiden Familien sich gegenseitig zu ihren Geburtstagsfesten eingeladen hatten. Randi Olsen verschenkte, wie es bei solchen Anlässen damals üblich war, Konfekt, wenn sie hinüber ging. Sie kaufte es für ein paar Øre in einem der beiden kleinen Tabak- und Schokoladengeschäfte in der Umgebung. Man bekam farbiges Seidenpapier dazu, das kunstvoll in kleine Streifen gerissen wurde. Sie legte die Schokoladestücke auf das Papier und dann in eine Schachtel oder eine spitze Tüte.

Als sie mir von dem Geburtstagsgeschenk erzählte, musste ich an Jenny Bermann denken. Ihr Sohn hatte erwähnt, dass sie sich über Kong-Haakon-Pralinen aus Norwegen freuen würde. "Stellen Sie sich vor, eine solche Schachtel herumgehen lassen zu können, wenn man Gäste hat", sagte sie zu mir, als ich ihr die Pralinen in Boston überreichte. Sie hatte an alte Zeiten gedacht, vielleicht an jene Jahre zwischen den Kriegen, als sich die Mädchen gegenseitig an ihren Geburtstagen besuchten. Randi Olsen bemühte sich, so genau wie möglich zu erklären, wie das schöne Seidenpapier in Streifen gerissen oder geschnitten wurde. Die Mädchen fanden es so schön, dass sie es lange aufbewahrten und damit spielten. Einer der Brüder von Randi Olsen, so erzählte sie mir auch, arbeitete zu Beginn der zwanziger Jahre als Handlanger von Elias Lasnik.

Ein weiterer Mann, der Kontakt mit mir aufnahm, Jan Erik Hægh, hatte in einem Album seiner Mutter ein Bild von Kathe Lasnik gefunden. Das Foto war an einem Sommertag des Jahres 1934 oder 1935 aufgenommen worden und zeigt die sieben- oder achtjährige Kathe beim Spielen mit den Kindern der Familie Hægh, die auf Nesodden eine Hütte besassen.

Aus Lunner meldete sich eine Dame, die zu wissen glaubte, auf welchem Hof Kathe Lasnik und Inger Becker 1939 ihre Sommerferien verbracht hatten. In meinem Buch hatte ich lediglich Inger Beckers Beschreibung des Weges zum Bahnhof und zu einem kleinen See wiedergegeben, ausserdem ihre Erinnerungen an das Haus, in dem sie schliefen, und die grosse Veranda, auf der sie ihr Abendbrot einzunehmen pflegten. Der Hof hiess Nedre Ulven und lag an einem kleineren See namens Vassjøtjernet, der Name des Bahnhofs war Grindvoll. Sie hatte auch in einem lokalhistorischen Buch nachgeschlagen und herausgefunden, dass Nedre Ulven in jenen Jahren Sommergäste beherbergte.

Ich sprach mit den Leuten, die heute auf dem Hof leben. Melvin Blekkerud bestätigte, dass eine Zeitlang eine Art Pension auf dem Hof betrieben worden war, doch hätten sich keine Papiere, Bilder oder andere Unterlagen aus jener Zeit erhalten.

Er erzählte mir auch, dass einer der Gäste, ein Spengler, 1939 einen Glockenturm für das Vorratshaus errichtet hatte. Das dürfte Elias Lasnik gewesen sein, dachte ich mir, vielleicht hatte seine Familie 1939 die Ferien dort verbracht. Auch Juden seien auf dem Hof gewesen, berichtete Blekkerud, unter anderem ein gewisser Hurwitz, ein Zauberkünstler, der unter dem Künstlernamen Ben Hur auftrat. Er hatte damals eine Almhütte in der Nordmarka gemietet, die zu dem Hof gehörte; den ganzen Tag hätte er nur mit Angeln zugebracht.

Anita Østern, verheiratete Stenklev, hatte Kathe Lasnik im Winter 1939 kennen gelernt. Auf einigen Fotos sind die Freundinnen gemeinsam abgebildet. Sie posieren auf Fahrrädern vor dem Hauseingang der Hertzbergs gate 3 A und auf einem weiteren Gruppenbild, mit Buschwindröschen in der Hand. Bei einer der ersten Gelegenheiten, als sie zusammen gerodelt waren, begleitete Kathe ihre neue Freundin nach Hause. "Ich muss dir etwas erzählen", sagte sie ihr mit ernster Miene. "Ich bin Jüdin." Anita Østerns knappe Antwort war: "Tja." Später wurde dieses kurze Gespräch nie wieder erwähnt. Anita war ein Einzelkind, Kathe eine Nachzüglerin; wohl schon deshalb suchten sie die Nähe zueinander. Eines Tages bekam die ein Jahr ältere Anita Østern ein neues rosa Kleid, das Kathe Lasnik so sehr gefiel, dass sie nach dem Namen der Schneiderin fragte und sich ein fast identisches Sommerkleid anfertigen liess.

Der Vater von Anita Østern, der als Jurist im Wirtschaftsministerium beschäftigt war, kam am "Paniktag", d.h. am 10. April 1940, um 12 Uhr nach Hause. Er und seine Familie fanden sich auf einem LKW wieder, der Richtung Sognsvann fuhr. Sie verfügten über keinen Ort ausserhalb Oslos, den sie hätte aufsuchen können, doch sie durften vorübergehend in der Villa eines Bekannten im Stadtteil Berg wohnen. Kathe Lasnik besuchte ihre Freundin fast jeden Tag. Sie pflückten zusammen Blumen oder hörten Musik bei ihrer gemeinsamen Freundin Bjørg Tutta Hansen in der Suhms gate. Sie hatte von ihrer Tante ein Grammophon geschenkt bekommen und besass viele schwedische Platten. Der Lieblingstitel der Mädchen im Jahr 1940 war Alice Babs"™ "Swing it, Magistern!", mit einem Text von Hasse Ekman und einer Melodie von Kai Gulmar.

An den Samstagen pflegten die Lasniks gekochtes Huhn zu essen. Anita Østern fand diese Zusammenkünfte der Familie am Sabbat sehr gemütlich. Zu einem Johannisfest während des Krieges, vermutlich 1941 oder 1942, lud Herr Østern seine Familie und die Freundin seiner Tochter zu einem Smørbrød-Buffet in das Lokal Dronningen am Oslofjord ein, damals eines der beliebtesten Sommerrestaurants der Stadt. Für alle Beteiligten wurde der Tag ein unvergessliches Erlebnis.

Die beiden Mädchen gingen oft gemeinsam zur Schule. Eines Tages, nach Erinnerung von Anita Østern im Frühjahr oder Herbst 1942, sagte Kathe Lasnik zu ihr: "Wir haben eine Einladung bekommen, nach Amerika zu gehen, was hältst du davon?" Anita Østern wusste nicht recht, was sie antworten sollte, doch sie war der Meinung, dass es keine gute Idee war, fortzuziehen. Zu diesem Zeitpunkt war es wohl ohnehin nicht mehr möglich, von Norwegen aus in die USA zu reisen.

Von dem Stück Papier, das Kathe Lasnik hinterlassen haben soll, als sie festgenommen wurde, war Anita Østern nichts bekannt. Um so genauer erinnerte sich jedoch Dagny Dutheil, geborene Nilsen, daran. Sie wohnte damals am Kirkeveien 129, ihr Vater leitete eine Holzhandlung. Die beiden Mädchen waren Klassenkameradinnen in der Fagerborg-Schule und hatten zu der Zeit, als der Unterricht in der Foss-Schule in Grünerløkka stattfand, einen gemeinsamen Schulweg. Es empörte Dagny Nilsen, was sie nach der Veröffentlichung meines Buches gehört hatte: Der Brief von Kathe Lasnik sei nicht in kurzem Telegrammstil, sondern mit viel Wärme geschrieben gewesen.

Am Morgen des 26. November, so erzählte sie, bog sie in die Hertzbergs gate ein, um dort ihre Freundin Kathe Lasnik zu treffen und mit ihr über BlÃ¥sen und den Alexander Kiellands plass bis nach Foss zu laufen. Da sei ihr Edith Gjeruldsen entgegen gerannt, die Freundin, bei der Kathe ihre Jacke vergessen hatte. "Dagny, Dagny, nimm du den Brief", habe sie gerufen.

Edith Gjeruldsen kann sich daran nicht erinnern; vielleicht hatte Dagny Nielsen den Brief von einer anderen Mitschülerin erhalten? Sie erfährt jedenfalls, was sich früh am Morgen zugetragen hat, läuft zur Schule, überreicht dem Studienrat Hans Christian Norløff das Papier und sagt, dass es sich um einen Abschiedsbrief von Kathe Lasnik handele. Sie beobachtet, wie der Lehrer den Brief im Stillen liest, setzt sich an ihren Platz und hört, wie er den Brief der Klasse vorliest.

Die Schulfreundin erinnert sich daran, dass Kathe Lasnik kurz vor ihrer Verhaftung sehr unruhig war. Auf dem Weg zur Schule erzählte sie von ihrem kranken Vater. Sie vermisste ihn zu Hause. Eines Tages, als sich ihre Schwestern und deren Männer vermutlich schon in Schweden befanden, wandte sich Kathe Lasnik an ihre Freundin und rief aus: "Oh, Dagny, Du kannst so froh sein, dass Du Norwegerin bist. Euch Norweger hassen die Deutschen nicht. Aber uns Juden hassen sie."

Die meisten Schüler machten im Herbst 1942 Fotos voneinander. Dagny Nilsen schickte Listen herum, auf denen man sich eintragen und Bilder nachbestellen konnte und brachte sie zu einem Fotografen am Fridtjof Nansens plass. Kathe Lasnik vertraute ihrer Freundin an, wie begeistert sie von Steinar Steinarsson war und bat sie, ihm hinterher ein Bild von ihr zu geben. Dagny Nilsen hat sich immer gefragt, was sie damit wohl gemeint haben könnte. Hinterher? Nach was nur?

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