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Edgar Hilsenrath: Berlin… Endstation

Eigentlich heisse ich Joseph Leschinsky, aber da manche Leute Leschinsky zu lang fanden, nannte man mich Lesche. An Lesche habe ich mich gewöhnt, und dieser Name ist mir geblieben…

Edgar Hilsenrath

"Lesche", sagte ich zu mir, "am besten, du gehst in die Emigrantencafeteria in der 86. Strasse, Ecke Broadway. Dort ist zwar nichts los, aber draussen auf der Strasse ist auch nichts los. Seit Jahren spazierst du jeden Abend den Broadway auf und ab, guckst dir jeden geilen Arsch an und machst dir erotische Gedanken. Zuweilen gehst du in einen Hausflur und wichst dir einen ab. Was für ein Leben ist das, ein Leben voller Frust und Begierde." "Lesche", sagte ich zu mir, "du hast zwei Romane veröffentlicht, die keine Erfolge waren. Sie sind inzwischen vergessen oder Ladenhüter. Amerika hat dein Genie nie wahrgenommen. Du hast keine Freunde, wenigstens keine wirklichen, und die Frauen machen einen grossen Bogen um dich. Was für ’ne Scheisse ist dieses Land! Du hast den amerikanischen Traum nie geträumt und kannst mit ihm nichts anfangen. Autos bedeuten dir nichts. Und ein Haus im Grünen mit Kind und Kegel auch nicht. Die Jagd nach dem Dollar hast du nie mitgemacht. Du hast vom Erfolg als Schriftsteller geträumt, aber der ist ausgeblieben."

Als er an der Ecke 88. Strasse vorbeikam, sprach ihn eine der Nutten an, die dort herumstanden.
"Na, du alter Mutterficker. Wülste ’ne schnelle Nummer schieben? Ich mach’s billig für dich." – "Nee, danke", sagte er. "Diese schnellen Nummern sind nichts für mich."
"’Ne lange Nummer kostet aber mehr."
"Ich möchte dir gern meinen Spritzer verpassen", sagte Lesche, "bin aber heute leider nicht bei Kasse."
"Dann eben beim nächsten Mal", sagte sie.

Lesche erinnerte sich, dass ihn dieselbe Nutte schon vor mehr als dreissig Jahren angesprochen hatte: "Na, du alter Mutterficker. Willst du nicht ’ne schnelle Nummer schieben? Ich mach’s billig für dich. Wirklich billig." All diese Jahre, dachte Lesche. Als ob sich nichts geändert hätte. Nur dass die Nutte damals noch ein ganz junges Ding gewesen war. Heute bestimmt schon Ende vierzig.

Die Emigrantencafeteria war hell erleuchtet. Die Emigranten sassen wie üblich dicht am Fenster. Allabendlich sassen sie hier. Auch für sie hatte sich nichts geändert, nur dass sie älter geworden waren. Lesche grüsste die Emigranten und steuerte dann auf den Tisch zu, an dem Singer sass und Kreuzworträtsel löste.

"Kreuzworträtsel?" fragte Lesche.
"Ja", sagte Singer.

Lesche holte sich am Tresen einen Käsekuchen und eine Tasse des wässrigen amerikanischen Kaffees.
"Ich habe gehört, dass Sie Amerika verlassen wollen", sagte Singer. "Es heisst, dass Sie nach Deutschland zurückkehren."
"Ja", sagte Lesche. "Ich fliege übermorgen nach London, weil ein englischer Verlag ein Buch von mir herausbringt. Dann geht es weiter nach München."
"Ausgerechnet München, die Stadt der Bewegung."
"Ich habe eine Bekannte in München, der ich meine Reisekoffer geschickt habe. Aber ich weiss nicht, ob ich in München bleibe. Vielleicht fahre ich weiter nach Berlin."
"Die Reichshauptstadt", lächelte Singer.
"Ja."
"Und Sie wollen in Deutschland bleiben?"
"Ich habe die Schnauze voll von Amerika."

Singer spielte mit seinen Kreuzworträtseln, und seine Finger fuhren fast zärtlich über das Papier.
"Sie werden als Jude nicht lange in Deutschland leben können", sagte er dann.
"Ich habe mir die Sache gründlich überlegt", sagte Lesche. "Ich bin deutscher Schriftsteller und brauche die deutsche Sprache. Ich muss sie hören, immer und überall. Ausserdem ist Deutschland heute ein demokratisches Land. Der Hitlerspuk ist längst vorüber, und inzwischen ist eine neue Generation herangewachsen."
"Der Holocaust wird Sie überall in Deutschland verfolgen. Jedes Haus, jede Strasse wird Sie daran erinnern. Und die alten Leute. Es gibt kein Entrinnen. Glauben Sie’s mir."
"Man muss es auf einen Versuch ankommen lassen."

Lesche schlürfte den wässrigen Kaffee.
"Ich habe unlängst in einer jüdischen Zeitung gelesen", sagte er dann, "dass die Deutschen in der Hauptstadt ein Holocaust-Mahnmal errichten wollen. Was halten Sie davon?"
"Das ist ein schlechter Witz", sagte Singer. "Wozu brauchen die Deutschen ein Mahnmal? Ganz Deutschland ist ein Holocaust-Mahnmal."
"Ganz Deutschland?"
"Ja. Ganz Deutschland."

So beginnt Hilsenraths Roman „Berlin… Endstation“, der jetzt als Taschenbuch vorliegt.

Nachdem der erfolglose jüdische Autor Joseph Leschinsky 1975 aus den USA zurück nach Deutschland kehrt, zurück zur Sprache, die er noch immer liebt, bezieht er ein Zimmer bei einer alten Dame, die den Davidstern an einer Kette um den Hals trägt. Doch hinter der bürgerlichen Fassade lauert das Ressentiment: Seine Wirtin verehrte den Führer, erst nach dem Krieg tauschte sie bei ihrer Heirat das Hakenkreuz gegen den Davidstern.
Nach und nach gewinnt "Lesche" Boden und trifft die Literaturszene im "Zwiebelfisch". Als sein Roman von einem Verleger angenommen und als Spitzentitel verkauft wird, erntet er späte Lorbeeren, Groupies gehören zu seinem Alltag, bis er sich in die schöne Anahid verliebt. Zur gleichen Zeit werden Nazis auf ihn aufmerksam. Die Vergangenheit ist nicht vorbei…

"Einer der grössten deutschen Stilisten."
Die Zeit

Edgar Hilsenrath, geboren 1926 in Leizig, flüchtete 1938 mit der Mutter und dem jüngeren Bruder nach Rumänien. 1941 kam die Familie in ein jüdisches Ghetto in der Ukraine. Hilsenrath überlebte und wanderte 1945 nach Palästina, 1951 in die USA aus. Heute lebt er in Berlin. 1989 erhielt Edgar Hilsenrath den Alfred-Döblin-Preis, 1992 den Heinz-Galinski-Preis, 1994 den Hans-Erich Nossack-Preis, 1996 den Jacob-Wassermann-Preis, 1999 den Hans Sahl-Preis und 2004 den Lion-Feuchtwanger-Preis der Akademie der Künste Berlin.

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