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Judentum und Sozialdemokratie

Auf dem Hamburger Parteitag 2007 hat die SPD das Judentum als die erste der geistigen Wurzeln der Sozialdemokratie in ihr neues Grundsatzprogramm aufgenommen. Die Jüdische Allgemeine schrieb dazu: "144 Jahre hat die sozialdemokratische Partei gebraucht oder sich Zeit gelassen, sich ihrer jüdischen Wurzeln zu erinnern"…

Was das für die politische Kultur und Judentum in Deutschland bedeutet, lässt sich noch nicht ermessen: Zum ersten Mal in ihrer Geschichte aber hat sich die SPD damit zu einem Begründungshorizont sozialdemokratischen Denkens und Engagements geöffnet, der sie aus ihrem programmatischen Schwebezustand befreien kann. Die geistigen Motive und ethischen Leidenschaften der Sozialdemokratie erlauben nun, auch ihr politisches Subjekt zu reflektieren.

Die biblische Erzählung vom Ungehorsam als Beginn und Sinn von Geschichte und Menschlichkeit, dies die Kernthese des Buches, enthält die Koordinaten jüdischen Denkens. Nicht Gehorsam, Paradies und Unsterblichkeit, sondern die aus dem Ungehorsam gegen irrationale Herrschaft geborenen Erkenntnisse begründen die Freiheit des Menschen, seinen Willen zum Dialog und die Gerechtigkeit zwischen den Menschen. Die Geburt der Sozialdemokratie vollzog sich aus dem Geist des Judentums.

Nach dem Godesberger Programm von 1959 ist das Hamburger Programm der zweite und entscheidende Schritt der Sozialdemokratie auf dem Weg zurück zu ihren antiautoritären jüdischen Wurzeln als dem Fundament einer linken Volkspartei.

Die von den jüdischen Opfern inspirierten weltweiten gegenautoritären Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre haben eine sozialdemokratische Kulturrevolution fortgesetzt, an der heute das Überleben der Menschheit hängt. Ihr Politikstil folgt der jüdischen Aufklärung, für die es Sinn, aber keine fertige Wahrheit gibt.

Der Autor:

Hans Erler, politisches Engagement im Bundestagswahlkampf 1976, Promotion mit einer Arbeit zu "Hannah Arendt, Hegel und Marx — Studien zu Fortschritt und Politik", Initiator und Mitherausgeber von sechs Publikationen zum Judentum, u.a. "Meinetwegen ist die Welt erschaffen – Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums. 58 Portraits", "Der Dialog zwischen Juden und Christen — Versuche des Gesprächs nach Auschwitz", "Judentum verstehen — Die Aktualität jüdischen Denkens von Maimonides bis Hannah Arendt", "Gegen alle Vergeblichkeit – Jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus" sowie "Erinnern und Verstehen — Der Völkermord an den Juden im politischen Gedächtnis der Deutschen". – 27 Jahre in der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V. tätig, Mitglied der SPD seit April 2007.

Hans Erler:
Judentum und Sozialdemokratie. Das antiautoritäre Fundament der SPD
ca. 180 Seiten, Broschur mit Fadenheftung
Königshausen & Neumann 2009, Euro 20,00

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Leseprobe: 

Vorwort von Micha Brumlik

Es gibt Lagen — so schon Ende des neunzehnten Jahrhunderts der Baseler Professor Franz Overbeck, ein Freund Friedrich Nietzsches, angesichts der Krise der Universitätstheologie — in denen nur noch Verwegenheit helfe. In dieser Lage befindet sich gegenwärtig die älteste deutsche Partei. Die Lage der SPD, der sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist gegenwärtig deplorabel. Nach dem hessischen Debakel, das nur die späte Frucht eines zu Unrecht gegebenen und damit notwendig zu brechenden Versprechens war, nach der unwürdigen Erledigung des Parteivorsitzenden Beck, dem intriganten Hin und Her um ein Hamburger Direktmandat und der schwächlichen Performance des Kanzlerkandidaten Steinmeier ist es unübersehbar: Jene Partei, auf der einst die Hoffnungen eines grossen Teils der deutschen Bevölkerung seit mehr als hundert Jahren ruhten, die als einzige das Zeitalter der Extreme, Nationalsozialismus und Stalinismus aufrecht, mit Anstand und moralisch integer überstanden hat, ist am Ende.

In zwei sich unversöhnlich bekämpfende Flügel gespalten, von mediokrem Personal mehr repräsentiert als geführt, von einer immer weiter nach links driftenden CDU ebenso bedrängt wie einer sich realistisch gebenden Linkspartei, verliert die Partei nicht nur Stimmen, sondern auch Macht und Einfluss, sowie — vor allem — Selbstvertrauen.

Dem will nun ein Aussenseiter, Spross einer sozialdemokratischen Familie und eines berühmten sozialdemokratischen Politikers zwar, aber gleichwohl Jahrzehnte in der Konrad Adenauer Stiftung tätig und nun, im Ruhestand wieder Sozialdemokrat, durch eine Besinnung aufs Wesentliche abhelfen. Die Streitschrift, die Hans Erler nun unter dem Titel "Judentum und Sozialdemokratie. Das antiautoritäre Fundament der SPD" vorlegt, verdankt sich nicht nur dem
Umstand, dass sich die SPD als erste deutsche Partei in ihrem jüngsten Grundsatzprogramm von 2007 ausdrücklich zu ihren jüdischen Wurzeln bekennt bzw. dass es in dieser Partei, anders als in allen anderen deutschen Parteien, einen eigenen jüdischen Arbeitskreis gibt, sondern einer (noch) ganz unzeitgemässen Suche nach tragfähigen Fundamenten für politisches Handeln. Es gibt Lagen, in denen nur noch Verwegenheit hilft, genauer, in denen ein pragmatisches Weiterwursteln nur noch tiefer in die Krise führt. Ohne eine tiefgreifende Besinnung auf die normativen Wurzeln des sozialdemokratischen Gedankens sei — so Erler — eine Besserung nicht absehbar, diese Wurzeln aber seien jüdisch. Man mag Erler nachsehen, dass er August Bebel an keiner Stelle erwähnt, aber — tatsächlich — Moses Hess, Karl Marx Ferdinand Lassalle und last, but not least, Eduard Bernstein waren Juden, wenngleich sie zu ihrem Judentum ein durchaus gebrochenes Verhältnis hatten.

Freilich: das Judentum, das Erler der Sozialdemokratie als geistiges Remedium aus ihrer Krise vorschlägt, ist weder das Judentum alltäglicher Frömmigkeit noch rabbinischer Gelehrsamkeit — auch wird auf keiner Seite der vorliegenden Streitschrift deutlich, dass sich der Autor trotz einer gründlichen, ja lebenslangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit jüdischem Denken und jüdischer Philosophie ernstlich auf den jüdischen Glauben eingelassen hat. Dieser ist und bleibt ihm fremd, oder anders: Das Judentum, so wie Hans Erler es versteht, ist einerseits weniger als eine gelebte und praktizierte Religion, anderseits auch bedeutend mehr: es handelt sich um eine Form "innerweltlicher Religiosität".

Dies zu begründen, beruft sich Erler nicht nur auf bekannte jüdische Sozialtheoretiker, Philosophen und Theologen wie Erich Fromm und Leo Baeck, sondern vor allem auf die biblische Schöpfungsgeschichte, der er eine ganz und gar eigene Deutung gibt: Entgegen der offensichtlichen Evidenz des biblischen Textes — und, das sei angefügt — des jüdisch liturgischen Dankes an Gott, die Welt erschaffen zu haben, sieht Erler am Anfang des jüdischen Denkens :"das Schweigen über den Ursprung des Universums". Indem Erler in einer kühnen Volte die Schöpfungsgeschichte wider den Strich liest und unmittelbar mit dem mosaischen Bilderverbot und Gottes unrepräsentabler Selbstpräsentation des "Ich bin da" verbindet, gerät ihm die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies zur Urszene alles freiheitlichen, auf die Autonomie, die Auto-Nomie, die Selbstgesetzgebung des Menschen bauenden politischen Denkens. Es ist der Ungehorsam, der Ungehorsam der ersten Menschen als Beginn einer Geschichte von "Erkenntnis und Liebe" in einer Schöpfung, die gut ist und daher — so Erlers bewusst anti-christliches Bekenntnis — eines durch solidarische Hingabe ins Leiden versöhnenden Gottessohnes nicht bedarf.

Nun ist Erler historisch bewandert genug, um zu wissen, dass das über zwei Jahrtausende unter durchaus unterschiedlichen Umständen real existierende Judentum eine politische Ethik in diesem Geiste eben nicht ausgebildet hat. Ohne sich, wie dies etwa in den letzten Jahren der us.amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer getan hat, auf Quellen gestützt mit dem politischen Denken des Judentums intensiv auseinanderzusetzen und dabei zu ganz anderen Schlussfolgerungen zu kommen, meint Erler, dass das Judentum ob des Antijudaismus und Antisemitismus, seinen Kern, eine Lehre vom befreienden Ungehorsam verbergen musste und diesen Kern nur "verkappt zur Geltung bringen" konnte: "in der Moderne als Sozialismus der Sozialdemokratie." Man muss sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen, um zu verstehen: nach Hans Erlers Überzeugung ist alle recht verstandene Sozialdemokratie Judentum und alles sich recht verstehende Judentum Sozialdemokratie. Damit erweist sich Erler seiner antichristlichen Polemik zum Trotz — und womöglich, ohne es zu wissen — als ein Universalisierer des Judentums in den Spuren des Apostel Paulus: Wenn "Ungehorsam" die zentrale Tugend des Judentums und die Grundlage aller auf Autonomie setzenden Politik ist, dann müsste im Hinblick auf die jüdische Gemeinschaft gelten: "die Beschäftigung mit der Thora wäre nicht mehr selbstlos und der religiöse Besitz der Verheissung würde nicht nur gehütet sondern als bestimmtes Interesse in der politischen Öffentlichkeit jenseits der Gemeinde aktualisiert."

Es ist schade, dass sich Erler nicht intensiver auf die Lehren des rabbinischen Judentums gestützt hat. Denn dann könnte er wissen, dass nach rabbinischem Glauben Gott lange vor dem mit den Israeliten am Sinai geschlossenen Bund bereits einen Bund mit der ganzen Menschheit geschlossen hat: den Noahbund nach der Sintflut, gemäss dessen alle Menschen bestimmte Untaten wie Mord, Unzucht und Götzenverehrung zu unterlassen haben, um indes einer positiven Weisung folgen zu sollen: nämlich unter Rechtsverhältnissen zu leben.

Das aber sind Weisungen, wenn man so will Gebote und damit das genaue Gegenteil von dem, was Erler als "Ungehorsam" preist. Hat sich gerade das rabbinische Judentum über Jahrhunderte einer in sogenannten "Midraschim" niedergelegten narrativen Theologie befleissigt, in der es um gar nichts anderes ging, ob und wie die Balance von göttlichen Weisungen und menschlicher Autonomie zu fassen sei. Daher ist der kühne Autor in dieser Hinsicht schlicht zu korrigieren.

Seine Behauptung, dass "das Judentum theologischem Denken von Anfang an definitiv einen Riegel vorgeschoben hat" ist ganz einfach falsch. Aber darauf kommt es ihm womöglich gar nicht an: Von Rabbiner Leo Baeck und dessen grundlegendem Werk über das "Wesen des Judentums", erstmals 1906 publiziert, zieht er jene Lehre, die er in dem seiner Meinung der Verklärung von Tod und Leiden, von Armut und Verfolgung, von Herrschaft und Unterdrückung verfallenen Christentum nicht finden kann: eine Politik des Lebens: "Der politische Pragmatismus der Thora heisst: unter allen Umständen dem Leben dienen. Die Thora enthält — so Erler in einer zentralen Passage — eine handfeste pragmatische, keineswegs übernatürliche oder metaphysische, sondern sinnliche und dialogische Erzählung, die erklären möchte, unter welchen Bedingungen Leben gelingt, Leben lebenswert ist. Der Gehorsam gegenüber dem Lebensdienlichen …

Dieser Sinn der Thora ist politisch, denn der Gehorsam gegenüber dem Lebensdienlichen enthält den Aufruf, sich dem das Leben in Frage stellenden, es Verneinenden keinen Gehorsam zu leisten."

Mit dieser Aussage ist Hans Erler dann endlich doch, allen kleineren Verzeichnungen zum Trotz, beim offenbaren Kern des Judentums angelangt und zwar jetzt nicht nur in Übereinstimmung mit der Schrift, sondern der Sache nach auch in voller Übereinstimmung nicht nur mit dem rabbinischen Denken sondern auch mit jüdischer Frömmigkeit.

Jeden Samstag, jeden Schabbat sprechen die zur Lesung der Thora aufgerufenen Frauen und Männer nach der Lesung aus einem Abschnitt des Fünfbuchs einen Segen, in dem sie Gott nicht nur dafür danken, die Thora erhalten zu haben, sondern dafür, mit der Thora "Chajej olam" (Leben der Welt) unter dem Volk Israel gepflanzt zu haben. Anders als der den Apostel Paulus einseitig und damit falsch deutende Martin Luther sieht Erler mit Leo Baeck und jüdischer
Frömmigkeit ganz richtig, dass die Gabe der Thora, Gottes guter Weisung, selbst bereits eine Gnade und kein Fluch ist. Autonome Menschen könne sich diese Weisung bzw. ihren Geist zu eigen machen und damit Gottes gute Schöpfung seinem Willen gemäss einrichten.

Ob derlei Gedanken der siechen SPD aus ihrer Krise helfen können? Das ist ungewiss. Gewiss scheint mir indes zu sein, dass ohne jede Besinnung auf derlei Grundlagen ein "Weiter so", das sich an kurzfristigen Interessen des Tages orientiert und bodenlos im Stil der Selbsthypnose Zuversicht einredet, die Misere nur verlängern wird.

So befremdlich manches in Hans Erlers aufrüttelndem Traktat auch wirken mag, so sehr ist doch der Partei, zu der er um ihrer grossen Tradition, eines kostbaren Erbes wegen zurückgekehrt ist, zu wünschen, diese beinahe prophetische Stimme zu vernehmen und ihre Vorschläge zu hören und — ernsthaft zu diskutieren.