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Die Türkei als Zuflucht und verschlossener Hafen

Mit dem lange angekündigten und nun endlich erschienen Werk „Die Türkei, die Juden und der Holocaust“ legt die Turkologin und Historikerin Corry Guttstadt ein Buch vor, das zu einem Standardwerk über die Situation der jüdischen Minderheit in der türkischen Republik, vor allem aber über die Positionierung der Türkei gegenüber der deutschen Vernichtungspolitik, werden wird…

Von Thomas Schmidinger

Nach einem historischen Überblick über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden im osmanischen Reich, der von der Aufnahme der Sephardim über die messianische Bewegung des Sabbatai Zwi bis zum entstehen der österreichisch-aschkenasischen Gemeinde und den Aktivitäten der Alliance Israelite Universelle reichen, beschäftigt sich Guttstadt mit der widersprüchlichen Lage der jüdischen Gemeinden in der frühen türkischen Republik. Einerseits als Teil der neuen Nation, andererseits v.a. durch den turanistischen Flügel des türkischen Nationalismus als „untürkisch“ betrachtet, wurden ständig neue Anpassungsleistungen und Loyalitätsbezeugungen von den Jüdinnen und Juden abverlangt. Durch Auswanderung nach Westeuropa, aber auch durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, blieben jedoch auch tausende osmanische bzw. Jüdinnen und Juden ausserhalb des neuen Nationalstaates zurück, von denen viele die alte Staatsbürgerschaft behielten bzw. behalten wollten.

Diese türkischen Jüdinnen und Juden waren es schliesslich auch, die mit der Machtübernahme der Nazis in Deutschland und mit Beginn des 2. Weltkriegs in ganz Europa unter nationalsozialistische Herrschaft gelangten. Guttstadt geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, wie sich der türkische Staat, der sich lange Zeit als „neutrales“ Land aus dem 2. Weltkrieg heraushielt, gegenüber seinen jüdischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern im deutschen Herrschaftsbereich verhielt. Sie widerspricht dabei der These, die Stanford Shaw in seinem Standardwerk „Turkey and the Holocaust“ 1993 entwickelt hatte, wonach türkische Diplomaten durch „übermenschliche Rettungsaktionen“ tausenden jüdischen Schutzbefohlenen das Leben gerettet hätten. „Mehrere türkische Autoren haben die dort vorgestellte Version `schöpferisch weiterentwickelt´, wobei sich die Zahl der angeblich geretteten Juden von Publikation zu Publikation multiplizierte. Obwohl die türkischen Juden in diesen Werken nur die Kulisse für die Heldentaten türkischer Diplomaten abgeben und die dort aufgestellten Behauptungen kaum belegt sind, ist dieser Mythos fester Bestandteil der türkisch-jüdischen Historiographie.“ (S. 298)

Guttstadt hält diesem Mythos ein wesentlich differenziertere Bild entgegen, das vom grundsätzlichen Bemühen des türkischen Staates gekennzeichnet war, eine Massenflucht bzw. „Rückkehr“ türkischer Juden zu verhindern. Zwar liess die Türkei eine grössere Gruppe gut gebildeter Universitätsprofessoren und Intellektueller aus Deutschland und Österreich ins Land, die einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau des türkischen Universitätssystems leisteten, allerdings galt die Grosszügigkeit diesen gegenüber, eben nur für Intellektuelle, die das Land dringend benötigte. Anderen Jüdinnen und Juden, auch solchen die im Besitz der türkischen Staatsbürgerschaft waren, wurde die Einreise in die Türkei durch Ausbürgerungen verweigert. Schiffe, die illegal Flüchtlinge an Bord hatten, wurde die Landung untersagt. Als besonders tragisches Beispiel beschreibt Guttstadt die Katastrophe der Struma, der die Landung mit 769 Flüchtlingen an Bord untersagt wurde. „Während der Wintermonate 1941/42 lag die Struma siebzig Tage lang im Bosporus, das am Schiff befestigte Transparent `Rettet uns´ war für die Istanbuler Bevölkerung täglich sichtbar. Obwohl jüdische Organisationen sich erboten, sämtliche Kosten für die Unterbringung der Not leidenden Passagiere zu übernehmen, wurde ihnen der Landgang verboten. Lediglich sechs Personen erhielten Ausnahmegenehmigungen.“ (S. 242) Das manövrierunfähige Schiff wurde schliesslich von türkischen Schleppern ins offene Meer gezogen, wo es versank. Ausser einer einzigen Person, die sich Retten konnte, fanden sämtliche Flüchtlinge den Tod.

Während sich die Türkei im Grossen und Ganzen weigerte türkische Jüdinnen und Juden in grösserer Zahl die Rückkehr zu gestatten, wurden durchaus kleineren Gruppen die Rückreise erlaubt. Guttstadt schildert auch, dass sich türkische Diplomaten durchaus in einzelnen Fällen sehr engagiert zeigten um ihre jüdischen Staatsbürger vor der Deportation in die Vernichtungslager zu retten. Die daraus später entworfenen Heldengeschichten halten einer detaillierteren Prüfung jedoch oft nicht stand. So äussert Guttstadt berechtigte Zweifel an der Geschichte des damaligen Vizekonsul von Marseilles Necdet Kent, der behauptet hatte, freiwillig einen Deporationszug bestiegen zu haben und diesen mit achtzig türkischen Juden wieder verlassen durfte und damit das Leben gerettet zu haben. Bisher konnten keinerlei Belege für diese Geschichte gefunden werden, geschweige denn ein Überlebender, der sie bezeugen konnte. „Seit 1987 haben Mitarbeiter von Yad Vashem vergeblich versucht, unter türkischen Juden in Frankreich und Israel Überlebende oder Zeugen zu finden. Auch der türkische Generalkonsul in Marseille schrieb 1989, dass es keine Belege für die Aktion von Kent gebe.“ (S. 375)

Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Türkei deswegen nicht einen gewissen Schutz für ihre Staatsbürger in Europa geboten hätte. Guttstadt resümiert: „Trotz der zögerlichen Haltung ihrer Regierung genossen türkische Juden in Europa über längere Zeit einen relativen Schutz vor Verfolgung. Spätestens ab Ende 1943 überlebten die meisten von ihnen wie Juden anderer Nationalität nur unter extremen Verhältnissen in der Klandestinität.“

In ihrer umfassenden Analyse und ihrer detaillierten Quellenarbeit, setzt das Buch von Guttstadt einen Meilenstein für die Erforschung dieser Epoche der deutschen, türkischen und europäischen Geschichte. Offen gebliebene Fragen werden wohl erst durch die Öffnung noch unzugänglicher türkischer Archive klärbar sein. Bis dahin wird es wohl kein besseres Buch über die türkische Rolle in Bezug auf die Shoah mehr geben.

Das Buch schliesst nicht nur eine wichtige Forschungslücke, sondern erhält vor dem Hintergrund eines erstarkten Antisemitismus in der Türkei sowie der Diskussion um das Holocaustgedenken in der Migrationsgesellschaft eine besondere Aktualität.

Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust
Assoziation a Verlag 2008, 516 Seiten, Euro 26,00
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Corry Guttstadt, geb. 1955, studierte Turkologie und Geschichte an der Universität Hamburg. Sie arbeitet als Übersetzerin (Türkisch), Deutschlehrerin und freie Autorin. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die Situation der ethnischen und religiösen Minderheiten in der Türkei.