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Neues NurInst Jahrbuch: Schwerpunkt „Entrechtung und Enteignung“

„Ich habe nur einmal aus der im Haus Hessestrasse 18 freigewordenen Wohnung der evakuierten jüdischen Familie Schönfeld durch Beamte des Finanzamts ein paar Vorhänge für RM 20.- gekauft. Es waren damals nach dem Auszug der Schönfelds Beamte des Finanzamts in der Wohnung, die gleich an Ort und Stelle Einrichtungsgegenstände verkauften.“

Mit dieser Schilderung beginnt der Beitrag von Jim G. Tobias im neuen Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Tobias zeigt darin erstmals die Verstrickungen der Nürnberger Finanzbehörde, die das Eigentum deportierter Juden „zugunsten des Reiches vereinnahmt“ und somit Millionen in die öffentlichen Kassen des dritten Reiches gespült hat…

Von Ramona Ambs

Zahlreiche Einzelschicksale konnten, trotz anfänglicher Behinderung durch die Behörden, konkret ermittelt und reich bebildert dargestellt werden, darunter beispielsweise das Schicksal der Lisa Schneider – die als einzige ihrer Familie die Shoa überlebt hatte. Das Eigentum der Familie fiel dem fiskalischen Raubzug der NS-Diktatur zum Opfer. Als Lisa Schneider deshalb 1954 bei den Behörden wegen Entschädigung anfragte, konnten dort angeblich darüber keine Unterlagen gefunden werden. Tobias jedoch konnte nun nachweisen, dass die Behörde seinerzeit eine falsche Auskunft gegeben hatte und dass die Nazibehörden mit deutscher Gründlichkeit die Enteignungen dokumentiert hatten.

[>> Leseprobe: Die fiskalische „Arisierung“ in Nürnberg — Eine Spurensuche mit Hindernissen]

Über die Gewinner dieser Arisierungesmassnahmen berichtet Peter Zinke. „Quelle“-Gründer Gustav Schickedanz gehört dazu. Zinke weist anhand einiger Akten erstmalig nach, dass Schickedanz teils mit Hilfe der Gauleitung den günstigen Verkauf von Aktien, Fabriken, Häusern und Grundstücken erpresste.
Anhand einiger Beispiele schildert Zinke den Ablauf solcher Enteignungen. So zitiert er u.a.die Aussage Gustav Gersts, Anteilseigner bei Camelia, dessen Neffe in so genannter Schutzhaft war, wie folgt: „Unter dem Druck meinem Neffen helfen zu müssen und ihn aus der Haft zu befreien, liess ich mich auf Verhandlungen ein“. Gersts verkauft denn auch seine Anteile weit unter Wert. Insgesamt soll das 1949 vorhandene Vermögen Schickedanz‘ aus von über 9 Mio DM zu mindestens 7 Mio DM aus geraubtem oder zwangsarisiertem Vermögen bestanden haben. Dennoch wurde Schickedanz nur als „Mitläufer“ eingestuft und juristisch und finanziell kaum belangt. So zieht denn auch Zinke ein bitteres Resümee.

Zum Schwerpunktthema „Entrechtung und Enteignung“ bietet das Jahrbuch noch weitere interessante Aufsätze. So beschreibt beispielsweise Lorenz Pfeiffer die Verfolgung ehemals gefeierter jüdischer Sportler wie des Fussballers Julius Hirsch. Christoph Kreutzmüller und Elisabeth Weber erinnern an die Rolle des antisemitischen Hetzblatts „Der Stürmer“ bei der Vernichtung jüdischer Firmen und Heike Tagsold erzählt vom Schicksal der jüdischen Gemeinde Memmelsdorf, insbesondere der Familie Lauchheimer, deren Hab und Gut während der sogenannten Reichskristallnacht geplündert wurde. Die Proteste der Lauchheimers gegen dieses Vorgehen vermittelt einen schockierenden Einblick in das heute absurd-naive Vertrauen, das die jüdische Familie noch 1940 in die deutschen Behörden hatten.

Mit der „Kristallnacht“ beziehungsweise ihrer Verarbeitung in den bildenden Künsten beschäftigt sich Aviv Livnat. Der einzige in Englisch verfasste Artikel des Buches ist mit reichlich Anschauungsmaterial bestückt, der anhand von Bilder, Skulpturen und Installationen die Bandbreite der künstlerischen Annäherungsversuche an dieses Thema zeigt.

Die weiteren Aufsätze des Buches beschäftigen sich mit dem Schicksal der Holocaustüberlebenden nach dem Krieg. Tatjana Knoll beschreibt ausserordentlich anschaulich die Erfahrungen jüdischer Flüchtlingskinder, die in schwedischen Kinderheimen nach dem Krieg vorübergehend unterkamen.
Ruth Weiss beschäftigt sich in ihrem Artikel mit der komplexen und komplizierten Rolle der Juden im südafrikanischen Apartheidssystem.

Andrea Livnat berichtet über die Probleme Holocaustüberlebender im heutigen Israel. „Der Staat hat uns vergessen“ – der Titel beschreibt die emotionale Lage der finanziell nicht oder nicht ausreichend unterstützten Shoa-Überlebenden im jüdischen Staat. Livnat beschreibt die seit Jahren in Israel geführten Debatten zu diesem Thema, stellt Untersuchungsergebnisse vor und beklagt, dass es letztlich an echtem politischen Willen fehle, den Zustand zu ändern.

Einen kritischen Blick auf einen jüdischen Emigranten wirft Josef Moe Hierlmeyer: Henry Kissinger, dessen in seiner Heimatstadt Fürth recht unkritisch gedacht wird, hat selbst seine Karriere auf zahlreichen Menschenrechtsverletzungen gebaut. Der letzte Aufsatz des Jahrbuchs schliesslich stammt von Annette Haller. Sie stellt die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre der Germania Judaica – der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums – dar und wagt eine optimistische Sicht in die Zukunft.

Das neue Jahrbuch bietet also wieder eine reiche und vielfältige Zusammenstellung gut recherchierter
Artikel, denen man aufmerksame Leser/innen nur wünschen kann!

nurinst 2008: Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte
Schwerpunktthema: Entrechtung und Enteignung
Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte
des 20. Jahrhunderts
Jim G. Tobias/Peter Zinke (Hg.)
ANTOGO Verlag Nürnberg
ISBN 978-3-938286-34-0, 184 S., 8 Abb. schw.-w., Preis Euro 12,80.
Erhältlich über den Buchhandel oder direkt beim Verlag per eMail:
bestellung(at)antogo-verlag.de oder per Fax: 0911/559241

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