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Zeugen: So viele Briefe!

Im Dezember 2002 erhält Erika Esther Goldschmidt Briefe, die ihre Tante Hilde die ganzen Jahre seit der Schoah aufbewahrt hat. Und plötzlich steht mit der kleinen Kiste der Holocaust mitten in ihrem Zimmer.

Als sie sie öffnet findet sie Briefe voller Hoffnung und voller Verzweiflung, Briefe ihrer von den Nazis ermordeten Familie und auch Briefe derer, die überlebt haben. Inzwischen hat sie die Briefe veröffentlicht…

So viele Briefe! So viele noch ungelesen, noch nicht im PC.

Ich bin so froh, dass meine Tante Hilde mir diese Briefe vor drei Jahren überlassen hat. Und auch hier werde ich nicht eine datierte Reihenfolge einhalten. Ich werde sie in der Reihenfolge abschreiben, wie ich sie in meine Hände nehme.

Von Erika Esther Goldschmidt

Am 18. Oktober 1941 schreibt meine Tante Mathilde (Tilla) an Tante Hilde:

Hier einige Auszüge, die geprägt sind von der Hoffnung auf Ausreise:

Mein liebes Idelchen! So, mein Liebes, zuerst möchte ich dir berichten, dass unsere lb. Mama u. der lb. Siegfried uns bald verlässt. Sie reisen nach Domingo. Sie wären schon am Mittwoch abgereist, wenn alles in Ordnung gewesen wäre. Die lb. Mama ist ganz kopflos. Sie kann nichts in Ordnung kriegen und ich habe mir schon so viel Mühe gegeben und kann nicht hin. Vielleicht klappt es nächste Woche. Zudem ist sie gar nicht an Kleidung für das heisse Klima gerichtet. Sie hat rein gar nichts. Ist das nicht furchtbar? Am 15. November sollen sich beide bereit halten. Wenn sie erst da glücklich ankommen! Wenn wir (sie meint hier ihre Schwester Hilde) zusammen wären, da könnte es meinetwegen nach Pusemuckel gehen.

Der Weg dieser drei Menschen ging nicht in die Dominikanische Republik, er führte sie direkt in die Vernichtungslager.

Folgenden Brief muss meine Grossmutter noch im Februar oder März 1942 geschrieben haben. Das Datum ist der 8.2. Denn anscheinend haben sich einige von den Deportierten noch mehrere Male vor ihrem Tod bei Oma Fanny gemeldet. Meine Grossmutter Fanny ist am 29.07.1942 deportiert worden.

"Meine liebe Hilde. Ich weiss, mein l. Kind, dass du schon lange mit Sehnsucht auf ein paar Zeilen von mir gewartet hast, konnte aber bis jetzt noch nicht meine Gedanken zusammen kriegen. Ja, meine liebe Hilde, es ist ganz furchtbar, dieses elende Leben. Du wirst schon von Julchen gehört und erfahren haben, dass Tilla, Fritz, Grete, Arthur und Familie, Siegfried u. Frau die Reise hinter sich haben. Ich habe mich schon so darüber gegrämt und kann aber alles nicht fassen. Die l. Tilla schrieb noch 4 x von der Reise. Auch Grete u. Siegfried u. Arthur schrieben alle noch einige Mal u. nun ist alles vorüber. Die letzte Post kam von Tilsit. Wenn ich nur wüsste, wo die Lieben wären. Ich will mal an Willon, der beim Hilfsverein ist, anfragen. Wenn Tilla reklamiert hätte weiss ich bestimmt, dass sie noch nicht weg brauchte, aber sie wollte ja mit den Gelsenkirchenern weg, u. Tilla geht mir auch nicht aus dem Sinn, weil sie doch schon so viel mitgemacht hat und für mich so lieb und gut war. Alle meine Kinder. Ich weiss nicht, warum der l. Gott alles so lange mit ansehen kann. Ich habe mich schon so beruhigt u. ich glaube, dass es nicht mehr lange dauert und wir alle gehen den Weg. Wenn ich dann zu meinen Kindern komme, dann will ich gerne alles hinnehmen, was auch kommt. Nun, l. Hilde, wie geht es dir denn noch, schreiben von dort auch Leute? Du glaubst nicht, wie ich warte, von dir etwas zu hören. Warum schreibst du nicht? Hat dir Tilla auch geschrieben? Frau Wolf, Trudes Mutter, ist ja auch mit. Ich war erst noch bei den lieben Kindern bis zwei Tage vor ihrer Abreise. Ich habe auch Sorgen um dich. Der l. Gott behüte dich und alle meine Kinder und gebe doch bald Frieden, und nun meine l. Hilde, gratuliere ich dir noch herzlich zum Geburtstag. Und gräme dich nicht zu sehr. Ich bin auch jetzt gefasster..Vielleicht werden wir auf wunderbare Weise gerettet. Erwarte bald von dir, mein l. Kind, einen Brief und nehme noch die herzlichsten Glück- und Segenswünsche von deiner dich liebenden Mutter."

Oh, mein Gott! Diese Briefe! Diese Briefe, die alle Hoffnung auf ein Weiterleben beinhalten. Die Worte zwischen den Zeilen lassen ahnen, dass alle wussten, dass sie hier wohl nicht lebend rauskommen. Und doch immer wieder die Hoffnung, immer wieder die schon fast kindliche Naivität, dass alles gut wird. Das nicht glauben wollen von so viel Grausamkeit, obwohl sie doch direkt vor den eigenen Augen geschehen ist. Hoffnung auf Ausreise, Ansätze von Panik, weil nichts in dieser Richtung geschieht, Kopflosigkeit, Hilfegesuche, Abweisung und dann wieder der Wille zu überleben und auch wieder das Nichtwahrhabenwollen aller schrecklichen Ereignisse. Menschen werden abtransportiert, packen vorher noch schnell ihre wenigen Habseligkeiten in dem festen Glauben, diese noch behalten zu dürfen. Viele hatten nicht einmal zum Packen Zeit. Ich glaube, dass alle es wussten, dass es kein Entrinnen gab.

Erika Esther Goldschmidt:
Vergangene Gegenwart
BoD, 2008
Euro 9,80

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