Katharina Geiser:
Vorübergehend Wien
Paul Zsolnay Verlag Wien 2006
Euro 23,50
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Ankunftsversprechen:
Vorübergehend Wien
Von Katrin Schuster
Weitgehend "judenrein" war die österreichische
Hauptstadt bereits Ende des Jahres 1942. An die 50.000 jüdische Wiener
und Wienerinnen waren zwischen Oktober 1939 und Oktober 1942 vom
Aspangbahnhof in Richtung Lodz, Riga, Theresienstadt, Sobibor, Auschwitz
und anderer Orte deportiert worden, 45 Züge zählt das Register.
"Besondere Erfahrungen haben sich nicht ergeben",
schreibt ein Reserveleutnant über den Transport vom 6. Mai 1942, dessen
Insassen – wie üblich – in einem Wald bei Minsk gleich nach der Ankunft
erschossen und verscharrt wurden. Die Gruben waren zuvor von
Zwangsarbeiter des nahegelegenen Lagers Maly Trostinec ausgehoben
worden: drei Meter tief, bis zu fünfzig Meter lang, im Winter wurden
Sprengsätze zuhilfe genommen.
Mehr als 60 Jahre später läuft die Schweizerin Jula Fink
durch Wien, auf der Suche nach den Spuren der Emigrierten und
Verschleppten, im Stadtbild, in anderen Dokumenten. Fink ist das Alter
Ego der Autorin Katharina Geiser, die mit "Vorübergehend Wien" ihr
erstes Buch vorlegt, im Alter von 50 Jahren. Und ausnahmsweise hat der
Umschlagtext mal Recht, der von einer "anrührenden" und an "W. G. Sebald
gemahnenden" Geschichte spricht.
Auch WG Sebald erzählte verschwundenen Menschen
hinterher, indem er Fakt und Fiktion untrennbar, aber scheinbar
beweiskräftig durcheinander mischte – die mitten im Text abgedruckten
Fotografien sind auch in Geisers Buch seltsame Zugaben, die irritieren
wie beruhigen ob der Realitätsreferenz, den Fotos nun mal innehaben.
Julas Hinweise außerdem: Briefe, Tagebücher, Telegramme;
zeitgenössische Lehr- und Handbücher, Vorschriften, Gedichte auch; und
vor allem eine Schachtel, ausgestellt im jüdischen Museum Wien, gepackt
von Franz und Anni Bial (ermordet Anfang Juni in Maly Trostinec) für
ihre nach England ausgeschleuste Tochter Lilli, die die Schachtel nie
erhalten hat.
Als Motto jedes Kapitels immer wieder ein
Ankunftsversprechen für die Lieben in Wien, wie dieses zum Beispiel:
"Reise jetzt Wien Herzlichst" von Karl Kraus aus München an Sidonie
Nadherny, Kraus´ unbeständig treue Geliebte, deren beider Geschichte
Katharina Geiser auch erzählt – soviel sie davon weiß, soviel sie
glücklich dazu erfindet. Auch Jula Fink ist immer nur vorübergehend in
Wien, lebt eigentlich in Zürich. "Deshalb auch fahre ich immer wieder.
Um ... etwas zu betrachten, ohne es zu entwenden."
Katharina Geiser entwendet nie, gibt ganz im Gegenteil
wenigstens Bruchstücke individueller Biografien zurück. An die Bials
eben, an Anny Wottitz, die mit dem Komponisten Viktor Ullmann (gestorben
1944 in Auschwitz Birkenau) liiert war; an Alma Johanna König, die
ausgezeichnete Wiener Schriftstellerin, die sich im selben Transport wie
die Bials befand; an Friedl Dicker, die Bauhausschülerin, die in
Theresienstadt den Kindern Zeichenunterricht gab.
Gefühlsgeschichten allesamt, doch ganz und gar nicht
gefühlig – weil Geiser die leisen Spuren bevorzugt, gleichsam die
Rückseiten der offiziellen Dokumente. Und weil sie nicht linear vorgeht,
sondern Erinnerungen lieber in Topografien und Gleichzeitigkeiten
verortet: im Nestroyhof, dem Aspangbahnhof, im September 1913, da auch
Kafka in Wien weilt. Ein klangvolles, ein herzanstrengendes, ein
außerordentliches Buch.
hagalil.com
20-03-06 |