"Kontinuität im Widerspruch":
Eine ungewöhnliche Autobiografie
Rezension von Dr. Martin Kloke
Der Heidelberger Theologe Rolf Rendtorff, Jahrgang 1925, ist in der
Zeit des Nationalsozialismus und des beginnenden Kirchenkampfs
großgeworden. Er wuchs in einer nicht untypischen zehnköpfigen
evangelischen Pfarrersfamilie auf, die sich ebenso selbstverständlich
deutsch-national wie – nach einer Weile – auch NS-kritisch positionieren
sollte.
Dass sein Vater als Bischof von Mecklenburg Anfang 1934 in eine kleine
unbedeutende Landgemeinde strafversetzt wurde; dass sein älterer Bruder
zusammen mit einem Mitschüler Anfang 1942 neun Monate in KZ-Haft war –
dieser alltägliche Wahnsinn ist für Rendtorffs weitere Lebensgeschichte
prägend geworden. Als Begründung für die Verurteilung der beiden
Oberschüler ließ die Gestapo verlauten: "Weil sie in ihrer Klasse die
Anschauungen des Christentums für wahr erklärten und mit dieser Ansicht
ihre Klasse beeinflussten."
Einerseits unliebsame Erfahrungen mit der totalitären Staatsmacht,
andererseits die relative Geborgenheit von Pfarrhaus, Kirchengemeinde
und praktizierter Frömmigkeit, etwa in der bündisch geprägten
"Jungenwacht", schließlich eine Einberufung zum Kriegsdienst in der
Marine (1942 bis 1945) – komplexe Erfahrungen dieser Art ließen im
jungen Rendtorff eine christliche Identität von "Kontinuität im
Widerspruch" heranreifen:
Nach dem Krieg beschloss Rendtorff, wie nicht wenige seiner
kriegsheimkehrenden Altersgenossen, Theologie zu studieren – aus dem
"Gefühl" heraus, dass seine Kirche "einer der wenigen festen Punkte war,
an dem man sich orientieren konnte, wo sonst fast alles
zusammengebrochen war." Mit Bedacht wechselte Rendtorff nacheinander an
vier Studienorte, promovierte beim legendären Alttestamentler Gerhard
von Rad, heiratete "zwischendurch" und wurde noch während des Studiums
Vater einer Tochter. Noch die ersten Dozenten- und Professorenjahre,
zunächst in Göttingen, dann in Berlin, schienen in den konventionellen
Bahnen eines wissenschaftlichen "Vielschreibers" zu verlaufen.
Erst die Jahre 1963ff sollten für Rendtorff einschneidende mentale und
existenzielle Umbrüche mit sich bringen: Der Theologe kam in Kontakt zu
neu gegründeten "Deutsch-Israelischen Studiengruppen" und begann das
wachsende Israel-Interesse insbesonderer linkschristlicher Studenten zu
unterstützen. 1963 reiste er mit einer Studiengruppe erstmals nach
Israel – eine zu jener Zeit fast noch exotische Unternehmung. Die für
ihn überraschende Gastfreundlichkeit israelischer Kollegen und
Gesprächspartner – die teilweise Überlebende der Schoah waren –
überwältigten ihn. Fortan ließen ihn Israel, seine Menschen und die
jüdische Religion nicht mehr los. Erstaunt entdeckte der christliche
"Alttestamentler" Verbindungslinien zwischen seinem antiken
Forschungsgegenstand und der quirligen Präsenz nachbiblischen jüdischen
Lebens im "Heiligen Land". Eine neue jüdische Welt tat sich ihm auf, der
er erst im wahren Leben – außerhalb der selbstgenügsamen
Universitätstheologie – gewahr werden sollte. Insbesondere Jerusalem
wurde für Rendtorff das Ziel wiederholter Studien-, Bildungs- und
Forschungsreisen.
Lebenslange Freundschaften entstanden; der Bibelwissenschaftler lernte
Neuhebräisch und nahm, sooft sich die Gelegenheit bot, aktiv an
jüdischen Gottesdiensten teil. Zeitweise spielte Rendtorff sogar mit dem
Gedanken, zu konvertieren. Vor diesem Hintergrund begann er, zusammen
mit Gleichgesinnten die jüdischen Wurzeln christlicher Existenz
wiederzuentdecken. Binnen weniger Jahre zählte er zu den profiliertesten
Wegbereitern des christlich-jüdischen Dialogs im deutschen
Protestantismus – einige offizielle Verlautbarungen der Evangelischen
Kirche zum christlich-jüdischen Verhältnis tragen noch heute seine
Handschrift.
Auch (israel-)politisch waren die 1960er Jahre eine Zeit des
persönlichen Umbruchs: Rendtorff protestierte gegen die Praktiken
ehemaliger deutscher Raketeningenieure der Nazizeit, die an einem für
Israel potenziell gefährlichen ägyptischen Raketenprogramm zu basteln
begonnen hatten. Folgerichtig setzte er sich auch für die Aufnahme
diplomatische Beziehungen zu Israel ein. 1965/66 betrieb der inzwischen
in Heidelberg lehrende Theologe mit einer Handvoll weiterer Aktivisten
die Gründung einer überparteilichen Deutsch-Israelischen Gesellschaft –
und war jahrelang ihr Vizepräsident.
Mit seinem Eintritt in die SPD verabschiedete sich Rendtorff auch
offiziell von seiner nationalprotestantischen Herkunft – damit war er zu
jener Zeit ein Exot innerhalb der akademischen Zunft. Persönlich
schwierige Jahre erlebte er als Rektor der Universität Heidelberg
zwischen 1970 und 1972: Angefeindet von einer gekränkten und um ihre
Privilegien fürchtenden Ordinarienkaste handelte sich der linksliberale
Rektor zahlreiche "Dienstaufsichtsbeschwerden" und andere rechtliche
Maßregelungsversuche ein. Auch Ministerpräsident Hans Filbinger machte
keinen Hehl daraus, Rendtorff möglichst bald loswerden zu wollen – jeder
weitere Demokratisierungsversuch der universitären Strukturen sollte ihm
ausgetrieben werden. Erst mit seinem Rücktritt im November 1972 hörte
die publizistische und juristische Hatz auf. Weitere hochschul- und
parteipolitische Ausflüge beendete Rendtorff 1976, als der
SPD-Bundestagskandidat eine Wahlniederlage hinnehmen musste.
Dunkle Wolken zogen auch auf, als nach dem Sechstagekrieg 1967
zahlreiche ehemalige linke Israelfreunde mit selbstgerechtem Getöse ins
antiisraelische Lager wechselten. Unversehens wurde nun auch
Israelfreund Rendtorff von ehemaligen Weggefährten des
linksprotestantischen Milieus als "Rechtsabweichler" tituliert.
Gleichwohl stellte er sich in den 1970er Jahren auf die Seite jener
Stimmen innerhalb der DIG, die die Solidarität mit Israel mit einer
"kritischen" Begleitung israelischer Politik, etwa in den besetzten
Gebieten, zu vereinbaren suchten. Die daraus resultierende, letztlich
ungeklärte interne Auseinandersetzung führte dazu, dass der Heidelberger
"Störenfried" (so Botschafter Yohanan Meroz) 1977 aus der DIG austrat
und bald darauf den "Deutsch-Israelischen Arbeitskreis für Frieden im
Nahen Osten" (DIAK) gründete.
Doch auch im DIAK sollte Rendtorff auf lange Sicht keine
israelpolitische Heimat finden können, weil die dort praktizierte
"Israelkritik" die solidarischen Motive zunehmend in den Hintergrund
drängen sollte. 1986 verabschiedete er sich von der aktiven Mitarbeit.
In den letzten Jahren wurde ihm bewusst, dass die immer stärkere
Palästina-Fixierung des DIAKs eine "sehr zugespitzte kritische Haltung
gegenüber der israelischen Politik" impliziert: "Ich bin nach wie vor
Ehrenvorsitzender des DIAK, aber ich kann die dort vertretenen
Positionen oft nicht nachvollziehen." In einem Schreiben an den
Rezensenten brachte Rendtorff noch nach Redaktionsschluss dieses Buches
seine "große Beunruhigung" über die tendenziösen Entwicklungen im DIAK
zum Ausdruck.
Nach seinem Ausstieg aus der aktiven Politik 1976 widmete sich der
Hochschullehrer wieder stärker seinen wissenschaftlichen Neigungen, ohne
seine israelpolitischen und christlich-jüdischen Interessen aufzugeben.
Doch auch in den Forschungsdiskursen seiner Disziplin geriet er rasch
zum "Außenseiter". In seinen Spätschriften zum Alten Testament (zwischen
1983 und 2001) verwarf er radikal das 100-jährige Konzept einer
historisch-kritischen Quellenscheidungstheorie. Statt aus den biblischen
Texten verschieden alte "Quellen" herauszudestillieren und diese
angeblichen Fragmente zum hermeneutischen Schlüssel zu überhöhen,
plädierte Rendtorff fortan, "kanonische" bzw. "holistische" Zugänge zu
den biblischen Quellen in ihrer "Endgestalt" anzubahnen. Weil der
Theologe diesen aus der angelsächsischen Forschung stammenden Ansatz
auch in Deutschland diskussionswürdig machte, wurde seine "Einführung in
das Alte Testament" von einigen deutschen Fach-"Kollegen" auf den Index
gesetzt.
"So bin ich auch hier am Ende eines langen wissenschaftlichen
Lebensweges, bei dem das ‚Dazugehören’ nie in Frage stand, für bestimmte
Fachkreise zum Außenseiter geworden. Aber ich muss erneut hinzufügen,
dass ich damit gut leben kann. So bleibt am Schluss Dankbarkeit."
Die Rezension erschien zuerst in:
DIGmagazin.
Zeitschrift der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (Juni, Nr. 2,
2007, S. 8f).
hagalil.com
02-07-07 |