Der 'virtuelle Jude':
Konstruktion des Jüdischen
Rezension von Karl Pfeifer
Dieser Sammelband umfasst eine Reihe von Beiträgen,
die anlässlich einer Konferenz Ende 2003 in Graz vorgestellt wurden.
"Die Idee zur Veranstaltung der Tagung beruhte auf zwei
unterschiedlichen Beobachtungen: Zum Ersten scheinen im Bereich der
jüdischen Studien in Zentraleuropa Konzepte aus den Postcolonial Studies
wie auch den Kulturwissenschaften nur sehr verhalten rezipiert zu
werden, wodurch Begriffe wie jene der Imagination, der Konstruktion etc.
weitgehend ausgeblendet bleiben. Und zum Zweiten gibt es in Europa, wie
an Graz beispielhaft dargestellt worden ist, eine Vielzahl von
Aktivitäten, die den Eindruck von jüdischem Leben vermitteln, allerdings
werden sie großteils von Nichtjuden gesetzt."
Die Vorgaben der Referenten wurden sehr allgemein
gehalten, sie alle tragen "aber dazu bei, essentialistische Sichtweisen
zu dekonstruieren". Ich habe aus dem Vorwort des Herausgebers Klaus Hödl
zitiert und weise gleich auf das Problem hin, dass leider auch in diesem
Buch eine Sprache für Initiierte benützt wird, die Nichtspezialisten
abschrecken kann.
Dirk Rupnow meint in "nationalsozialistische
Konservierung des Jüdischen und unsere Erinnerungskultur": "Eindeutige
Lehren können aus der Untersuchung nationalsozialistischer
Gedächtnispolitik genauso wenig gezogen werden, wie aus dem Holocaust
insgesamt."
Ingo Loose folgert in seinem Beitrag "Das Bild 'des
Juden' in der Historiographie zur NS-Wirtschaft im deutsch-polnischen
Vergleich": Juden nicht als Objekte der Geschichte, sondern als
handelnde Subjekte wahrzunehmen. "Eine solche Perspektive einzunehmen,
ist angesichts der Shoah zweifellos schwierig und sicherlich auch nicht
unproblematisch. Dennoch scheint der Versuch lohnenswert zu sein, und er
wäre auch ein weiterer Schritt zur Beantwortung der alles entscheidenden
Frage, warum die Emanzipation der Juden im deutschen Sprachraum
scheiterte."
Allgemein verständlich geschrieben ist der Beitrag von
Agnieszka Pufelska: "Das Feindbild 'Judäo-Kommune' als Kraftquell für
den polnischen Kampf gegen den Kommunismus / Zur Konstruktion des
Jüdischen im Nachkriegspolen". Schlussendlich wurde der Antisemitismus
"Basis der Verständigung zwischen der kommunistischen Partei und der
Bevölkerung". Interessant wäre auch ein diesbezüglicher Vergleich
zwischen Polen und Ungarn gewesen. In beiden Ländern kam es noch nach
1945 zu judenfeindlichen Pogromen.
Klaus Hödl stellt die Frage: "Der 'virtuelle Jude' – ein
essentialistisches Konzept?" Im wesentlichen haben wir mit dem Problem
zu tun, dass die österreichische Gesellschaft zur Zeit als sie noch zur
deutsch-österreichischen Volksgemeinschaft gehörte, Juden als nicht
dazugehörig betrachtete, dass der "jüdische Beitrag zur österreichischen
Kultur" damals von den meisten als unerwünscht und unsympathisch
betrachtet wurde. Erst nach dem das Buch über das fin de siècle in Wien
von Carl Schorske erschienen war, sah man die Möglichkeit aus dieser
Kultur (auch politisches) Kapital zu schlagen.
Einem Land, aus dessen Politik und Medien der
Antisemitismus auch nach 1945 nicht entschwand, in dessen Bevölkerung
noch immer einen antisemitischen Konsensus gab, stand es gut an, sich
mit der Einrichtung von jüdischen Museen, und des Vorzeigen von
'virtuellen Juden' den Anschein der Normalität zu geben. Tatsächlich ist
es herzerfrischend wahrzunehmen, wie man plötzlich eine Wiener jüdische
Kultur herbeiphantasiert mit Klezmermusik als ob die Mehrheit der Wiener
Juden Chassiden gewesen wären. In der Bibel wird die Frage gestellt,
Harazachta gam jaraschta, Du hast gemordet und auch geerbt. Das wurde
hier in der Zeit zwischen 1938 und 1945 gründlich bewerkstelligt.
Doch dank des 'virtuellen Juden' herrscht jetzt in
Österreich Normalität. Man liebt die toten Juden. Mit den wenigen
Lebenden, soweit sie sich nicht in diese künstliche Harmonie einfügen,
hat man Probleme.
Robin Ostow behandelt in seinem englischsprachigen
Aufsatz eben dieses Problem. Christian Schölzel setzt sich mit der
"Konstruktion 'des Juden' in der Rezeption Walter Rathenaus"
auseinander. "'Juden reden über Gefühle, und die anderen über Kunst' –
Konstruktionen jüdischer Identität in der Fassbinder-Debatte 1984/85"
heißt der Beitrag von Susanne Schönborn, mit dem sie Vielfältigkeit und
Vielschichtigkeit jüdischer Identität aufzeigt. Michael Nagel
beschäftigt sich in seinem ausgezeichneten Beitrag mit "Geschichtsbilder
in der deutsch-jüdischen Presse und Belletristik nach 1830". Hildegard
Frübis setzt sich mit dem Maler Max Liebermann und seiner Rezeption
auseinander. Stefan Krankenhagen analysiert die Kunst von Anna Adam und
geht auf "Humor als Rolle" ein.
"Die Dekonstruktion des 'virtuellen Juden' in
Vergangenheit und Gegenwart steht im Mittelpunkt der versammelten
Beiträge" und laut Klaus Hödl gibt es kein authentisches Judentum. Meine
Schlussfolgerung: Nichtjuden schaffen sich 'virtuelle Juden' und damit
Normalität.
hagalil.com
03-04-06 |