Kerstin Muth:
Versteckte Kinder
Trauma und Überleben der "Hidden Children" im Nationalsozialismus
Psychosozial-Verlag Gießen 2004
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Versteckte Kinder:
Trauma und Überleben der "Hidden Children" im
Nationalsozialismus
Von Roland Kaufhold
Es hat mehrerer Jahrzehnte bedurft, bis das Schicksal der "Versteckten
Kinder" hierzulande in der Öffentlichkeit angemessene Beachtung gefunden
hat. Mit diesem auch im englischsprachigen Raum geprägten Fachbegriff sind
die jüdischen Kinder gemeint, die den Nationalsozialismus im Untergrund,
getrennt von ihren Eltern, überlebt haben – in Klöstern, in Waisenhäusern,
auf Bauernhöfen, in Gastfamilien.
In exemplarischer Weise systematisch wissenschaftlich aufgearbeitet
worden ist deren Schicksal, bezogen auf die Niederlande, von dem
niederländischen Psychoanalytiker und Schriftsteller
Hans Keilson
in seiner Studie "Sequentielle Traumatisierung von Kindern" (1979/2007). Nun
hat die frühere Lehrerin Kerstin Muth einen gut lesbaren, knapp gehaltenen
Band vorgelegt, in welchem sie einige dieser traumatisch belasteten
Biographien nachzeichnet. Grundlage hierfür bilden neun im Buch dargebotene
Interviews, welche Muth in einer Mischung aus Zitaten und narrativen
Begleittexten einfühlsam nacherzählt.
Der größere Teil ihrer in den 1930er Jahren in Deutschland oder Polen
geborenen Gesprächspartner lebt heute in Israel; einige von ihnen jedoch
haben nach einigen Jahren das seinerzeit noch im Aufbau befindliche Israel
wieder verlassen und sind nach Deutschland zurückgekehrt. Ihre jüdische
Identität blieb jedoch weiterhin biographisch bestimmend für sie.
Einführend beschreibt Muth ihre großen Schwierigkeiten, überhaupt Kontakt
zu Überlebenden der Shoah herzustellen. Es war nicht einfach, sie zum
Erzählen von ihren traumatischen Kindheitserfahrungen zu ermutigen. Bis zu
diesem Zeitpunkt war es den meisten von ihnen nicht möglich gewesen, über
ihre traumatischen Erlebnisse zu erzählen - auch viele Jahrzehnten nach der
Shoah. Selbst ihren Lebenspartnern hatten einige der Überlebenden nichts von
ihren grausamen Erfahrungen erzählt. Die gesamte seelische Energie wurde für
den Neuanfang benötigt, für das Akzeptieren der grausamen Tatsache, dass
viele ihrer Verwandten von den Deutschen ermordet worden sind. Vielfach
wollten sie auch ihre eigenen Kinder vor ihren zerstörerischen
Lebenserfahrungen schützen.
Exemplarisch hierfür sei Janina zitiert, heute eine überzeugte Israelin,
die dennoch den Kontakt zu ihrem Heimatland Polen nicht hat abbrechen
lassen: "Es war keine Zeit. Am Flughafen habe ich gearbeitet, dann kochen,
putzen, waschen und die Kinder. Aber mein Mann wusste, dass ich im Kloster,
dass ich bei einer polnischen Familie war, das wusste er, aber keine
Details. Wir waren sechs Mädchen, sechs jüdische Mädchen in diesem Kloster,
vier wohnen jetzt in Israel, eine ist in Polen geblieben, Christin. Eine ist
in den United States. Also, mit diesen drei bin ich in Kontakt, ja, wir
treffen uns. Wir haben manchmal darüber gesprochen, aber sonst kaum." (S.
117)
Auch war die Bereitschaft ihrer Mitwelt, solche traumatischen, mit der
eigenen "Schuld" verknüpften Erinnerungen auch nur zur Kenntnis zu nehmen,
zumindest bis in die 1960er und 1970er Jahre kaum vorhanden (s. Greif,
2003).
Einigen ihrer Gesprächspartner gelang es, schrittweise wieder eine
erinnernde und erzählende Konfrontation mit ihren zerstörerischen
Erfahrungen zuzulassen - so beispielsweise Marie-Emanuelle, die 1958 Israel
wieder verlassen und nach Deutschland zurückgekehrt war. Es gelang ihr im
Alter, einen "helfenden" Beruf zu finden und das Schweigen zu brechen: Hatte
sie mit ihren eigenen Kindern kaum über ihre Verfolgungserlebnisse
gesprochen, so gelang ihr dies nun, in angemessener Weise ihren Enkeln von
ihren erlebten Traumata zu berichten. Sie betont: "Es war das Heilendste,
was ich überhaupt je erlebt habe." (S. 84)
Abgerundet wird Muths Buch durch knapp gehaltene Übersichtskapitel über
die pädagogischen Kategorien Mut, Verantwortung, Helfer und Zufälle sowie
über das Schicksal der Juden zwischen 1939 - 1945, in mehreren europäischen
Ländern. Muths Studie regt zu vertiefender Auseinandersetzung über diesen
schwierigen, verleugneten Anteil der deutschen Geschichte an.
Literatur:
Greif, Gideon (2003): Stufen der Auseinandersetzung im Verständnis und
Bewusstsein der Shoah in der israelischen Gesellschaft, 1945 - 2002,
psychosozial, 26. Jg., Nr. 93 (Heft III/2003), S. 91-105.
Diese Rezension ist zuvor in der Zeitschrift psychosozial Heft 3/2006
(Nr. 105), S. 137f. publiziert worden. Wir danken dem Psychosozial-Verlag,
Gießen sowie seinem Inhaber, Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth für die freundliche
Abdruckgenehmigung.
hagalil.com
21-02-08 |