Sowjetische "Gesellschaftsfeinde" im Gulag:
Antisemitische und antikommunistische Tätowierungen
Von Christian Saehrendt
Tätowierungen sind in den letzten Jahren zur weit
verbreiteten Mode geworden – sie zeichnen inzwischen nicht mehr den
gesellschaftlichen Außenseiter, sondern den Zeitgenossen aus, der sich am
ästhetischen mainstream orientiert. Man kann tätowiert sein wie ein
Seeräuber oder Samurai, und trotzdem seinem Beruf als Bankangestellter oder
Polizist nachgehen – sofern die Gesichtsfläche von Verzierungen freibleibt.
Tätowierungen und (Schmuck)-Narben künden in ihrer
ursprünglichen Funktion in primitiven Gesellschaften und sozialen
Randgruppen von ertragenen Schmerzen, von Kämpfen, Abenteuern und allerlei
bestandenen Bewährungsproben. Für den zeitgenössischen Kunden der
Tätowierungsstudios ergibt sich hingegen die Möglichkeit, mit den
Tätowierungen "ungelebte Geschichte" einzukaufen, eine abenteuerliche
Biographie zu simulieren, indem er rätselhafte und exotische Zeichen in
seinen Körper einschreiben läßt.
Der russische Gefängniswächter und Hobbyethnologe Danzig
Baldaev führt die Kunst der Tätowierung in seiner nun auf Deutsch
vorliegenden Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia wieder in ihren
Ursprungszusammenhang zurück: Er versteht sie als Geheimsprache und
Erkennungszeichen gesellschaftlicher Außenseiter. Über 30 Jahre lang hat er
die Gefängnisse, Justizkrankenhäuser und Lagerzonen der Sowjetunion und
späteren Russischen Förderation besucht und auffällige Tätowierungen von
Häftlingen abgezeichnet oder fotographiert.
Das ethnologische Interesse hatte er von seinem Vater
geerbt, der ein bekannter Spezialist für die burjatisch-mongolische
Volkskultur gewesen war und in der 1930er Jahren vom NKDW verfolgt wurde.
Danzig Baldaev wurde damals in ein Kinderheim für minderjährige
"Volksfeinde" eingewiesen. Später eröffnete man ihm eine Karriere als
Gefängniswärter, damit er sich "bewähren" konnte. Offenbar entwickelte er
zunächst ein hobbymäßiges Interesse für die Tattoos der Häftlinge, bevor
seine Aufzeichnungen beim KGB denunziert wurden. Bei den anschließenden
Verhören erkannte der KGB jedoch die Nützlichkeit Baldaevs für die
Entzifferung dieser Häftlingsgeheimsprache, so daß er seine Enzyklopädie
nunmehr im Auftrag des Geheimdienstes fortsetzen konnte.
Baldaev entging einer erneuten Verfolgung, indem er seine
höchst verdächtige Expertise in den Dienst des sowjetischen
Verfolgungsapparates stellte. Im Vorwort der deutschen Ausgabe rühmt er
sich, er hätte über 300 Verbrecher durch seine Arbeit überführen können. Mit
entsprechenden Vollmachten und Reisefreiheit in die Straflagerzonen der
Sowjetunion ausgestattet, konnte er zahlreiche Lager und Gefängnisse
aufsuchen. Sein Untersuchungszeitraum reicht von Kriegsgefangenenlagern der
frühen 1950er Jahre bis zu den russischen Gefängnissen der 1990er.
Die Straflagerinsassen, die Gesellschaft der Kriminellen,
die sich selbst bis heute als "rechtmäßige Diebe" oder "Autoritäten"
bezeichnen, erschienen in den Augen der sowjetischen Verfolgungsbehörden als
feindlichen Klasse, der von Tattoos übersäte Häftlingskörper als
fremdartiger linguistischer Gegenstand, der Informationen über Biographie,
Taten und soziale Verbindungen des Delinquenten verschlüsselte. Tatsächlich
verbargen sich diese Informationen hinter den Allerweltssymbolen wie Herzen,
nackte Frauen, Katzenköpfe oder Spielkarten.
Die Ordnung im Lager, in der "kleinen Zone" reproduzierte
die Hierarchien der sowjetischen Gesellschaft, der "großen Zone". An der
Spitze standen kriminelle Bandenchefs mit ihrem Gefolge, dann kamen Anführer
von Jugendbanden, "Gesellschaftsfeinde" (Dissidenten, Anarchisten,
Faschisten), "Randalierer" (Hooligans, Trunkenbolde), am Rande standen
"Struppige Diebe" (Vergewaltiger) oder als "Müll" bezeichnete Homosexuelle
und andere Außenseiter. Jede dieser Klassen besaß ihre Kennzeichen. Hohe und
mittlere Ränge wurden oft durch auftätowierte Uniformteile dargestellt: Den
Körper zierten Schulterstücke, Epauletten und Orden, oftmals in provokanter
Weise der deutschen Wehrmacht entlehnt. Wer des unrechtmäßigen Führens von
Tätowierungen überführt wurde, mußte diese mit Schleifpapier und
Glasscherben selbst entfernen. Manchmal wurden mit den "gefälschten"
Fingertattoos ganze Finger amputiert, wie viele Fotos in Baldaevs Sammlung
zeigen. Vergewaltigern, Kindsmörderinnen und Informanten wurden
Schandtattoos zwangsweise beigebracht, die diese teilweise später
übertätowieren ließen.
Auffällig viele politische oder historische Motive finden
sich in Baldaevs Enzyklopädie: Pronationalsozialistische Embleme und
deutsche Schriftzüge fand der Autor bei deutschen Kriegsgefangenen, bei
Esten und Litauern, in den Ural-Straflagern der 1950er Jahre. Das bei
Kriminellen weit verbreitete Hakenkreuz scheint ein beliebtes Zeichen für
eine konsequente antisowjetische Einstellung renitenter
"Gesellschaftsfeinde" gewesen zu sein.
Russischer Nationalismus und Rechtsextremismus äußerte
sich in antiislamischen, vor allem aber antisemitischen Motiven: Immer
wieder wird der Marxismus als "jüdisches Produkt" dargestellt, Hitler als
Märtyrer im Kampf gegen Juden und Kommunisten verehrt. Die Säulenheiligen
des Marxismus und sowjetischen Führer sind häufig Gegenstand obszöner
Darstellungen. Davidstern, Hammer und Sichel finden als Insignien des
Teufels Verwendung. Vereinzelt fand Baldaev auch Beispiele für die stolze
Selbstbehauptung der angegriffenen Minderheiten, wenn etwa ein Tattoo
verkündet: "Wir werden die russischen und deutschen Antisemiten in
ängstliche Schafe verwandeln!".
Über die Rolle des KGB im Hintergrund von Baldaevs
Sammlung hätte man gerne mehr erfahren. Wie unabhängig war er bei seiner
Tätigkeit – oder war es reine polizeiliche Ermittlungsarbeit? Auch bleiben
die Auswahlkriterien für die Publikation schleierhaft. Hat er nur die
"schönsten", die spektakulärsten oder politisch relevanten (im Sinne eines
"antisowjetischen" Straftatbestandes) ausgewählt? Auch die biographischen
Informationen zu den Trägern einzelner Motive sind leider teilweise sehr
spärlich – manchmal erfährt man nur, in welchem Bezirkskrankenhaus der
Leichnam des Trägers anfiel.
Einige Tattoos sind derart bizarr, daß ihnen noch eine
Karriere als Plakat- oder T-Shirt-Motiv bevorstehen könnte. Vielleicht
tauchen sie auch bald im Angebot trendsetzender Tattoostudios auf. Baldaevs
Sammlung bietet einen ganzen Kosmos absurder, pornographisch-satirischer und
agitatorischer Zeichnungen. Die von ihm fotographisch portraitierten
Häftlinge posieren in einer Mischung aus Ganovenstolz und Elendsgestalt.
Mit seiner Bildergalerie liefert der Autor einen
eindrucksvollen Beitrag zur Kulturgeschichte der sowjetischen und
postsowjetischen Gesellschaft. Seine außergewöhnliche Motivsammlung belegt
zudem in schonungsloser Weise die Virulenz und Langlebigkeit des
Antisemitismus in der russischen Unterschicht.
Christian Saehrendt ist
Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Humboldt-Universität zu
Berlin, Lehrstuhl Prof. Dr. Winkler, mit dem Schwerpunkt:
Kunstgeschichte im sozialen und politischen Kontext. Seit 2000 arbeitet
er in Kooperation mit Universitäten und Forschungseinrichtungen an
Forschungsprojekten über politische Denkmäler, internationale
Kulturbeziehungen und die Künstlergruppe 'Brücke'. Aktuelles
Forschungsprojekt: Kunstausstellungen als Mittel auswärtiger
Kulturpolitik in der DDR und der Bundesrepublik. 1995-2000 Künstlerische
Arbeit im Rahmen der Gruppe "Neue
Anständigkeit" in Berlin.
hagalil.com
29-03-06 |