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Danzig Baldaev:
Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia
Steidl Verlag Göttingen 2005
Euro 20,00

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Sowjetische "Gesellschaftsfeinde" im Gulag:
Antisemitische und antikommunistische Tätowierungen

Von Christian Saehrendt

Tätowierungen sind in den letzten Jahren zur weit verbreiteten Mode geworden – sie zeichnen inzwischen nicht mehr den gesellschaftlichen Außenseiter, sondern den Zeitgenossen aus, der sich am ästhetischen mainstream orientiert. Man kann tätowiert sein wie ein Seeräuber oder Samurai, und trotzdem seinem Beruf als Bankangestellter oder Polizist nachgehen – sofern die Gesichtsfläche von Verzierungen freibleibt.

Tätowierungen und (Schmuck)-Narben künden in ihrer ursprünglichen Funktion in primitiven Gesellschaften und sozialen Randgruppen von ertragenen Schmerzen, von Kämpfen, Abenteuern und allerlei bestandenen Bewährungsproben. Für den zeitgenössischen Kunden der Tätowierungsstudios ergibt sich hingegen die Möglichkeit, mit den Tätowierungen "ungelebte Geschichte" einzukaufen, eine abenteuerliche Biographie zu simulieren, indem er rätselhafte und exotische Zeichen in seinen Körper einschreiben läßt.

Der russische Gefängniswächter und Hobbyethnologe Danzig Baldaev führt die Kunst der Tätowierung in seiner nun auf Deutsch vorliegenden Russian Criminal Tattoo Encyclopaedia wieder in ihren Ursprungszusammenhang zurück: Er versteht sie als Geheimsprache und Erkennungszeichen gesellschaftlicher Außenseiter. Über 30 Jahre lang hat er die Gefängnisse, Justizkrankenhäuser und Lagerzonen der Sowjetunion und späteren Russischen Förderation besucht und auffällige Tätowierungen von Häftlingen abgezeichnet oder fotographiert.

Das ethnologische Interesse hatte er von seinem Vater geerbt, der ein bekannter Spezialist für die burjatisch-mongolische Volkskultur gewesen war und in der 1930er Jahren vom NKDW verfolgt wurde. Danzig Baldaev wurde damals in ein Kinderheim für minderjährige "Volksfeinde" eingewiesen. Später eröffnete man ihm eine Karriere als Gefängniswärter, damit er sich "bewähren" konnte. Offenbar entwickelte er zunächst ein hobbymäßiges Interesse für die Tattoos der Häftlinge, bevor seine Aufzeichnungen beim KGB denunziert wurden. Bei den anschließenden Verhören erkannte der KGB jedoch die Nützlichkeit Baldaevs für die Entzifferung dieser Häftlingsgeheimsprache, so daß er seine Enzyklopädie nunmehr im Auftrag des Geheimdienstes fortsetzen konnte.

Baldaev entging einer erneuten Verfolgung, indem er seine höchst verdächtige Expertise in den Dienst des sowjetischen Verfolgungsapparates stellte. Im Vorwort der deutschen Ausgabe rühmt er sich, er hätte über 300 Verbrecher durch seine Arbeit überführen können. Mit entsprechenden Vollmachten und Reisefreiheit in die Straflagerzonen der Sowjetunion ausgestattet, konnte er zahlreiche Lager und Gefängnisse aufsuchen. Sein Untersuchungszeitraum reicht von Kriegsgefangenenlagern der frühen 1950er Jahre bis zu den russischen Gefängnissen der 1990er.

Die Straflagerinsassen, die Gesellschaft der Kriminellen, die sich selbst bis heute als "rechtmäßige Diebe" oder "Autoritäten" bezeichnen, erschienen in den Augen der sowjetischen Verfolgungsbehörden als feindlichen Klasse, der von Tattoos übersäte Häftlingskörper als fremdartiger linguistischer Gegenstand, der Informationen über Biographie, Taten und soziale Verbindungen des Delinquenten verschlüsselte. Tatsächlich verbargen sich diese Informationen hinter den Allerweltssymbolen wie Herzen, nackte Frauen, Katzenköpfe oder Spielkarten.

Die Ordnung im Lager, in der "kleinen Zone" reproduzierte die Hierarchien der sowjetischen Gesellschaft, der "großen Zone". An der Spitze standen kriminelle Bandenchefs mit ihrem Gefolge, dann kamen Anführer von Jugendbanden, "Gesellschaftsfeinde" (Dissidenten, Anarchisten, Faschisten), "Randalierer" (Hooligans, Trunkenbolde), am Rande standen "Struppige Diebe" (Vergewaltiger) oder als "Müll" bezeichnete Homosexuelle und andere Außenseiter. Jede dieser Klassen besaß ihre Kennzeichen. Hohe und mittlere Ränge wurden oft durch auftätowierte Uniformteile dargestellt: Den Körper zierten Schulterstücke, Epauletten und Orden, oftmals in provokanter Weise der deutschen Wehrmacht entlehnt. Wer des unrechtmäßigen Führens von Tätowierungen überführt wurde, mußte diese mit Schleifpapier und Glasscherben selbst entfernen. Manchmal wurden mit den "gefälschten" Fingertattoos ganze Finger amputiert, wie viele Fotos in Baldaevs Sammlung zeigen. Vergewaltigern, Kindsmörderinnen und Informanten wurden Schandtattoos zwangsweise beigebracht, die diese teilweise später übertätowieren ließen.

Auffällig viele politische oder historische Motive finden sich in Baldaevs Enzyklopädie: Pronationalsozialistische Embleme und deutsche Schriftzüge fand der Autor bei deutschen Kriegsgefangenen, bei Esten und Litauern, in den Ural-Straflagern der 1950er Jahre. Das bei Kriminellen weit verbreitete Hakenkreuz scheint ein beliebtes Zeichen für eine konsequente antisowjetische Einstellung renitenter "Gesellschaftsfeinde" gewesen zu sein.

Russischer Nationalismus und Rechtsextremismus äußerte sich in antiislamischen, vor allem aber antisemitischen Motiven: Immer wieder wird der Marxismus als "jüdisches Produkt" dargestellt, Hitler als Märtyrer im Kampf gegen Juden und Kommunisten verehrt. Die Säulenheiligen des Marxismus und sowjetischen Führer sind häufig Gegenstand obszöner Darstellungen. Davidstern, Hammer und Sichel finden als Insignien des Teufels Verwendung. Vereinzelt fand Baldaev auch Beispiele für die stolze Selbstbehauptung der angegriffenen Minderheiten, wenn etwa ein Tattoo verkündet: "Wir werden die russischen und deutschen Antisemiten in ängstliche Schafe verwandeln!".

Über die Rolle des KGB im Hintergrund von Baldaevs Sammlung hätte man gerne mehr erfahren. Wie unabhängig war er bei seiner Tätigkeit – oder war es reine polizeiliche Ermittlungsarbeit? Auch bleiben die Auswahlkriterien für die Publikation schleierhaft. Hat er nur die "schönsten", die spektakulärsten oder politisch relevanten (im Sinne eines "antisowjetischen" Straftatbestandes) ausgewählt? Auch die biographischen Informationen zu den Trägern einzelner Motive sind leider teilweise sehr spärlich – manchmal erfährt man nur, in welchem Bezirkskrankenhaus der Leichnam des Trägers anfiel.

Einige Tattoos sind derart bizarr, daß ihnen noch eine Karriere als Plakat- oder T-Shirt-Motiv bevorstehen könnte. Vielleicht tauchen sie auch bald im Angebot trendsetzender Tattoostudios auf. Baldaevs Sammlung bietet einen ganzen Kosmos absurder, pornographisch-satirischer und agitatorischer Zeichnungen. Die von ihm fotographisch portraitierten Häftlinge posieren in einer Mischung aus Ganovenstolz und Elendsgestalt.

Mit seiner Bildergalerie liefert der Autor einen eindrucksvollen Beitrag zur Kulturgeschichte der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft. Seine außergewöhnliche Motivsammlung belegt zudem in schonungsloser Weise die Virulenz und Langlebigkeit des Antisemitismus in der russischen Unterschicht.

Christian Saehrendt ist Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte der Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl Prof. Dr. Winkler, mit dem Schwerpunkt: Kunstgeschichte im sozialen und politischen Kontext. Seit 2000 arbeitet er in Kooperation mit Universitäten und Forschungseinrichtungen an Forschungsprojekten über politische Denkmäler, internationale Kulturbeziehungen und die Künstlergruppe 'Brücke'. Aktuelles Forschungsprojekt: Kunstausstellungen als Mittel auswärtiger Kulturpolitik in der DDR und der Bundesrepublik. 1995-2000 Künstlerische Arbeit im Rahmen der Gruppe "Neue Anständigkeit" in Berlin.

hagalil.com 29-03-06











 

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