Tobias Winstel:
Verhandelte Gerechtigkeit
Rückerstattung und Entschädigung für jüdische NS-Opfer in Bayern und
Westdeutschland
Oldenbourg Verlag 2006
Studien zur Zeitgeschichte, Bd. 72
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Leseprobe - Verhandelte Gerechtigkeit:
Wiedergutmachung und Remigration
Von Tobias Winstel
Für die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland brauchten
die jüdischen Verfolgten nicht nach Gründen zu suchen - sie waren
evident; Emigration und Exil waren ja zwangsweise erfolgt. Völlig anders
verhielt es sich bei der Frage nach der Rückkehr in das frühere
Heimatland: Diese Entscheidung war (im Prinzip) eine freiwillige, und es
mussten gute Begründungen, Anlässe, mitunter sogar Entschuldigungen
dafür gefunden werden, zur "verfluchten Erde" zurückzukehren.(93)
Es war die Zeit, als der Jüdische Weltkongress bei seiner ersten Tagung
nach dem Krieg 1948 in einer Resolution die Juden in aller Welt
ermahnte, sich "nie wieder auf dem blutgetränkten deutschen Boden
anzusiedeln".(94) Im Unterschied zu politisch motivierten Emigranten,
die in ihrer Selbstwahrnehmung eher auf Zeit Verbannte, Exilierte waren,
empfanden Juden ihre Flucht in der Regel als endgültige
Auswanderung.(95) Dieser Umstand wirkte sich stark auf den Grad der
prinzipiellen Remigrationsbereitschaft der jeweiligen Gruppe aus und
erklärt, warum die Diskussion über die Rückkehr nach Deutschland unter
politischen Emigranten wesentlich konkreter und "positiver" geführt
wurde als unter jüdischen.(96)
Über den tatsächlichen Umfang der Remigration sind nach wie vor kaum
verlässliche Aussagen zu treffen;(97) dennoch steht fest, dass auch eine
größere Zahl jüdischer NS-Opfer im Lauf der Zeit wieder in ihre alte
Heimat zurückkehrte.(98)
Es wird häufig übersehen, dass schon unmittelbar nach Kriegsende
zunächst nicht die politisch Exilierten, sondern emigrierte deutsche
Juden, die insbesondere in der amerikanischen Besatzungsarmee Dienst
taten, nach Deutschland kamen. Zwar hatten die meisten von ihnen nicht
vor, im Land ihrer Verfolgung auf Dauer zu bleiben. Doch einige fanden
gerade im Prozess der Aufarbeitung ihrer NS-Verfolgung, etwa in der
Gerichtsbarkeit, eine Aufgabe, die sie für längere Zeit und nicht selten
für immer an Deutschland band. Auf die zahlreichen, in der
Wiedergutmachung tätigen deutschen jüdischen Juristen wird später noch
genauer eingegangen. Zudem kamen in den 1950er Jahren jüdische
Auswanderer nach Deutschland, viele davon auch nach Bayern, deren
Remigrationsmotive häufig finanzieller Art waren. Nicht zuletzt machte
es auch die oben erwähnte symbolische Dimension der Wiedergutmachung
manchen Überlebenden des Holocaust überhaupt erst möglich, sich in
Deutschland (wieder) niederzulassen.(99)
Der jüdische Wiedergutmachungs-Anwalt
Edward Kossoy
meint, es sei nicht zu unterschätzen, "dass durch die Wiedergutmachung bei
vielen ehemaligen Verfolgten, die ja über die ganze Welt verstreut
lebten, das Verhältnis zu Deutschland, seinen Menschen und seiner Kultur
wieder besser wurde".(100) Zahlreiche deutsche jüdische Emigranten, so
seine Erfahrung der 1950er und 1960er Jahre, kehrten "wegen der
Wiedergutmachung nach Deutschland zurück".
Für viele stellte die Anmeldung von Wiedergutmachungsansprüchen den
ersten Kontakt mit Deutschland, genauer gesagt mit der Bundesrepublik,
seit ihrer Flucht dar. Entschädigungs- und
Rückerstattungsangelegenheiten konnten zwar auch vom Ausland aus
geregelt -werden — freilich nur, wenn man westlich des Eisernen Vorhangs
lebte. Doch viele ehemalige NS-Verfolgte taten ihren ersten Schritt auf
deutschen Boden wegen und dank ihrer Wiedergutmachungsangelegenheiten.
So erinnert sich die in Nürnberg geborene Malka Schmuckler: "Die
Beziehung zu Deutschland kam zum ersten Mal wieder ein bisschen in mein
Leben, als jeder von uns fünftausend Mark bekam dafür, dass wir unsere
Schulbildung unterbrechen mussten, sowohl mein Mann als auch ich. Es war
ja nicht so sehr viel Geld, aber für junge Leute doch eine Summe, und da
hat mein Mann gesagt: 'Dann wollen wir uns erst einmal Europa
angucken!'"(101)
Die beiden aus Israel kommenden Juden besuchten also Europa, zunächst
aber nicht Deutschland. Zu diesem Schritt waren sie erst zwei Jahre
später bereit, und wieder spielten Entschädigungsansprüche eine Rolle.
Malka Schmucklers Schwiegervater, der sich um seine Wiedergutmachung
persönlich in Deutschland hätte kümmern müssen, meinte: "Also, wenn ihr
da hinfahrt, dann unterstütze ich euch, dass ihr da bleiben könnt mit
der Familie, und ihr kümmert euch um meine Wiedergutmachung!" Dies
führte zur ersten Wiederbegegnung mit Deutschland für die beiden; erst
1967 jedoch ließen sie sich dort wieder ganz nieder, wo die Familie bis
heute lebt.
Dieses Zögern der jüdischen Remigranten, diese Rückkehr auf Raten war
durchaus typisch. Der Großteil von ihnen plante nicht, wieder in
Deutschland ansässig zu werden. Unterstützend mag vor allem in den
ersten Jahren nach dem Krieg gewirkt haben, dass Philipp Auerbach die
Rückkehrer nicht nur bei der Verfolgung ihrer Ansprüche unterstützte;
vielmehr half er gerade auch mittellosen und bedürftigen Berechtigten
mit kleinen und mittleren Beträgen, damit sie die Reise und ihren
Unterhalt in München für diese Zeit finanzieren konnten.(102)
Häufig ging ein erster besuchsweiser Aufenthalt in der alten Heimat mit
der Klärung der Restitutionsfragen einher, insbesondere wenn eine
Rückerstattung in natura angestrebt wurde. Aus verschiedenen Gründen
blieben die Berechtigten mit ihren Familien dann manchmal in Bayern
hängen. Oft hinderte eine Krankheit die jüdischen Antragsteller,
sogleich nach Abwicklung ihrer Wiedergutmachungsangelegenheit wieder in
ihre neue Heimat Israel, USA etc. zurückzugehen; diese meist plötzlich
auftretenden Krankheiten während des Aufenthalts mögen mitunter auch
psychosomatisch bedingt gewesen sein und den Berechtigten mehr oder
minder unterbewusst einen Vorwand geliefert haben, in Deutschland zu
bleiben.(103)
Andere wiederum fanden in den wieder entstehenden jüdischen Gemeinden
eine Aufgabe und ließen sich von dem Gefühl binden, für den Wiederaufbau
jüdischen Lebens gebraucht zu werden. Die Rückerstattungsakten in Bayern
berichten von zahlreichen Fällen wie dem David Schusters, des
langjährigen Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Würzburg, dessen Vater
Mitte der 1950er Jahre nach Franken zurückkehrte, um sich um den
verlorenen Grundbesitz zu kümmern. Für ihn war es "ein Prinzip, dass
niemand derjenigen, die sich unseren Besitz mit Gewalt angeeignet
hatten, in diesem Besitz blieb".(104) Ganz offensichtlich fiel wie im
Falle Schuster bei vielen die immaterielle, symbolische Wirkung der
Wiedergutmachung besonders ins Gewicht.
Die Rückkehr in das frühere Lebensumfeld war somit an die - zumindest
teilweise - Wiederherstellung der verloren gegangenen vormaligen
Lebenssituation geknüpft; und das beschränkte sich nicht nur auf die
Rückerstattung, etwa von Grundstücken, Häusern oder Geschäften, sondern
galt auch für den Bereich der Entschädigung.
Andere jüdische NS-Verfolgte hatten eher äußere Gründe, wegen
Entschädigungs- oder Rückerstattungsleistungen zumindest zeit- oder
"probeweise" einen Schritt auf deutschen Boden zu tun. Wirtschaftliche
Motive zur Remigration wurden und werden zwar von den Betroffenen
zumeist nur ungern zugegeben.(105) Aber natürlich versuchten die
jüdischen Remigranten auch finanziell an ihr Vorkriegsleben wieder
anzuknüpfen.(106) Denn es war ja keineswegs so, dass sich die
emigrierten Juden nach ihrer Emigration ohne weiteres und rasch eine
sichere wirtschaftliche Existenz aufzubauen vermochten. Häufig konnten
sie auf ihrer Flucht vor den NS-Verfolgern nur ihr Leben retten,
Eigentum und Wertgegenstände hatten sie zumeist zurücklassen müssen; und
auch nach dem Krieg war es nur eine relativ kleine Minderheit, die sich
schon bald wieder selbst helfen konnte. Gerade Juden, die in Deutschland
freie Berufe ausgeübt hatten, taten sich in ihren Auswanderungsländern
oftmals sehr schwer, beruflich wieder Fuß zu fassen und nutzten die
materiellen Vorteile der Wiedergutmachungsleistungen dazu, von neuem
eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen.(107)
War die Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland bzw. aus
Europa gelungen, waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche
Fortsetzung des Berufswegs in der Regel ungünstig. Ein Neuanfang konnte
am fortgeschrittenen Alter, an der mangelnden Einbindung in die so
wichtigen sozialen und professionellen Netzwerke, an sprachlichen,
rechtlichen und bürokratischen Hürden und dem Verlust finanzieller
Mittel scheitern. Zudem war die wirtschaftliche Situation in Palästina
bzw. Israel, wohin viele emigrierten, in der Nachkriegszeit
bekanntermaßen sehr schlecht: Von der Staatsgründung 1948 bis zum Beginn
der 1950er Jahre litt die ökonomische Entwicklung unter dem
Unabhängigkeitskrieg von 1948/49 und der Masseneinwanderung, die bis
etwa 1951 andauerte. Hohe Inflation und Arbeitslosigkeit waren die
Folge, auf die mit Rationierungen und Sparmaßnahmen von Seiten des
Staates reagiert wurde.(108)
Ökonomische Erwägungen, insbesondere die Aussicht auf bessere
berufliche Chancen gaben daher in vielen Fällen den Anstoß zur Rückkehr
nach Deutschland, aber auch das Interesse an sozialen und finanziellen
Hilfen wie zum Beispiel Renten, Kranken- und Sozialhilfe sowie
Wiedergutmachungsleistungen.(109) Allerdings galt das weniger für junge
als für ältere Leute, die sich mit der sozialen und beruflichen
Integration in den Auswanderungsländern schwer taten.
Entschädigungsrenten wurden in den Emigrationsländern zwar ebenfalls
ausgezahlt und halfen auch dort ehemals deutschen jüdischen Familien.
Doch zum einen waren etwa in Israel die Steuern für
Entschädigungsleistungen sehr hoch, während sie in Deutschland
steuerfrei zur Auszahlung kamen.(110) Zum anderen kamen gerade in der
unmittelbaren Nachkriegszeit, als es noch keine bundeseinheitliche
Wiedergutmachungsregelung gab und Entschädigungsansprüche zwar
festgestellt, aber noch nicht ausbezahlt wurden, ausgewanderte Juden
nach Deutschland, um Soforthilfeleistungen in Anspruch zu nehmen. Gerade
Letzteres spielte für remigrierte Familien nicht selten eine wichtige
Rolle bei der Entscheidung, sich in Deutschland wieder anzusiedeln.
Später, mit der Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes im Jahre
1956, kam dann Unterstützung für remigrationswillige Juden ganz explizit
zur Geltung. Dieses Gesetz sah eine "Rückwanderersoforthilfe" von 6.000
DM für Remigranten vor, was zu einem erheblichen Anstieg der
Remigrantenzahlen führte. In den Wiedergutmachungsakten finden sich
immer wieder Fälle, in denen ehemalige Verfolgte oder deren
Hinterbliebene diese Regelung zum Anlass nahmen, nach Deutschland zu
kommen.(111)
Ferner wurden Rückwanderer auch bei der Vergabe von Vorschüssen
besonders berücksichtigt, die mit Blick auf die festzustellenden
Wiedergutmachungsansprüche ausgezahlt wurden.(112) Zudem bewegten
medizinische Heilverfahren, die auf die später zu zahlende
Wiedergutmachung angerechnet wurden, manchen älteren und kranken
jüdischen Emigranten zur gänzlichen Rückkehr nach Deutschland.(113) Im
Übrigen beschleunigte ein persönliches Erscheinen auf den Ämtern in
aller Regel erheblich das Verfahren. Wo Antragsteller sonst lange nichts
von den Behörden zu hören bekamen, konnte ein Besuch in München die
Vorgänge erheblich abkürzen.(114)
Auch wenn die meisten mit dem Vorhaben nach Deutschland kamen, nur zur
Erledigung ihrer Wiedergutmachungsangelegenheiten und für kurze Zeit
ihre alte Heimat zu besuchen, ließen sich etliche - einmal in
Deutschland angekommen - wieder hier nieder.(115)
Alle bis hierher genannten Faktoren trafen nur auf deutsche bzw.
bayerische Juden zu; denn nur wer vor oder während der Verfolgung in
Deutschland gelebt hatte und geflohen war, konnte im engeren Sinne
"zurückkehren". Doch fragt man nicht nur nach Remigration im engeren
Sinne, sondern öffnet den Begriff in Richtung "Migration", so geraten in
diesem Kontext auch noch andere jüdische NS-Opfer in den Blick, die über
die Wiedergutmachung einen (neuen) Bezug zu Deutschland gewannen. Zu
denken ist dabei in erster Linie an die Displaced Persons, genauer
gesagt die bereits in ihre Herkunftsländer repatriierten oder in andere
Aufnahmeländer (v.a. Israel) ausgesiedelten. Von ihnen versuchten
einige, möglichst schnell wieder nach Deutschland zurückzukehren. Dort
konnten sie dann Wiedergutmachungsleistungen beantragen, durch die
immerhin eine gewisse wirtschaftliche Grundsicherung gewährleistet war.
Anfang der 1950er Jahre nahm man dieses Phänomen der so genannten
illegals, also von DPs, die bereits die Lager verlassen hatten und nach
Deutschland und dort vor allem in das Lager Föhrenwald in Bayern
zurückkehrten, erstaunt zur Kenntnis. Die Gründe dieser Gruppe, die
immerhin rund 3.500 Personen umfasste, freiwillig den Weg zurück in die
DP-Lager zu nehmen, waren verschieden. Die meisten schreckten vor
wirtschaftlicher Not und Antisemitismus in ihren osteuropäischen
Heimatstaaten zurück; andere kamen beispielsweise mit den schwierigen
Bedingungen in ihrer neuen Heimat Israel ebenso wenig zurecht wie die
deutschen Auswanderer; manche hatten gesundheitliche Probleme aufgrund
der Verfolgung, die sie in Deutschland besser behandelt wussten. Wieder
andere sahen Deutschland als Brücke in ihr erwünschtes
Auswanderungsland, die USA.(116)
Sowohl jüdische Migranten aus Osteuropa als auch deutsche bzw.
"einheimische" bayerische Juden wurden bei der Durchsetzung ihrer
Ansprüche von einer Reihe jüdischer Rechtsanwälte unterstützt. Nun
scheint dieser Umstand auf den ersten Blick wenig verwunderlich, da
gerade jüdische Anwälte mit der Verfolgungsgeschichte ihrer Mandanten
oftmals aus eigener Erfahrung vertraut waren und auch persönliche
Beweggründe hatten, sich gerade auf diesem Rechtsgebiet zu betätigen.
Wenn dies auch eine Rolle gespielt haben mag, so ist doch
erklärungsbedürftig, warum gerade so viele jüdische Rechtsanwälte
ihrerseits nach Deutschland remigrierten und zahlreiche Entschädigungs-
und Rückerstattungsfälle - übrigens nicht nur im Auftrag jüdischer
Mandanten - vertraten. Diese Anwälte nahmen nicht nur zahlenmäßig eine
wichtige Rolle im Prozess der Wiedergutmachung in der Bundesrepublik
nach 1945 ein, sie hatten auch großen Anteil an der Weiterentwicklung
der Gesetze und Durchführungsregelungen.
Beispielsweise wirkten allein in München mit Siegfried Neuland, Edward
Kossoy und Uri Siegel drei der wichtigsten Vertreter dieser
Rechtsmaterie (117); nicht zu vergessen sind auch die vielen
deutsch-jüdischen Juristen, die im Auftrag jüdischer Organisationen nach
Deutschland kamen, um ehemalige NS-Verfolgte in Entschädigungs- und
Rückerstattungsangelegenheiten zu vertreten.(118) Schließlich wurde mit
dem Berliner Juden Walter Schwarz ein Remigrant nicht nur einer der
bedeutendsten Wiedergutmachungsanwälte, sondern auch der Anwalt der
bundesdeutschen Wiedergutmachung im übertragenen Sinne.
Zunächst ist zu fragen, was nun gerade jüdische Juristen dazu bewog, in
das Land zurückzukehren, in dem noch wenige Jahre zuvor das Recht zur
Handhabe für Unrecht geworden war. Ein wichtiger Grund ist oben schon
angeklungen, nämlich die Wiederkehr von Vertrauen in deutsches Recht und
Gesetz. Was bei etlichen Remigranten zu beobachten ist, galt für die
Anwälte in höherem Maße: dass sie die Wiedergutmachung auch als ein
Symbol für die Wiederherstellung des Rechts sahen. Nicht zuletzt diese
Seite der Wiedergutmachung machte es manchen jüdischen Anwälten erst
möglich, sich in Deutschland wieder niederzulassen.
Hinzu kam, dass viele jüdische Juristen vergleichsweise früh aus
Deutschland emigriert waren und daher die Verfolgung nicht mehr als so
unmittelbare physische Erfahrung erlebt hatten wie viele ihrer späteren
Mandanten. Das heißt, für sie war der deutsche Rechtsstaat durch den
Nationalsozialismus zwar unterbrochen, aber nicht dauerhaft zerbrochen.
Das erleichterte manchem die Rückkehr in seine alte Tätigkeit an
vertrauter Stätte.
Zudem erhofften sich ausgewanderte jüdische Juristen in Deutschland
bessere berufliche Möglichkeiten; denn viele von ihnen, die ihre
Ausbildung in Deutschland absolviert hatten, fühlten sich im
angelsächsischen Rechtssystem im Grunde deplatziert.(119) Ihre deutschen
Rechtskenntnisse nützten ihnen dort nichts bzw. sie mussten erst neue
Examina ablegen, ehe sie eine Zulassung erhielten. Während es vielen
also in ihren Emigrationsländern schwer fiel, beruflich Erfolg zu haben,
hatten sie innerhalb der bundesdeutschen Wiedergutmachung in der Regel
kaum Probleme damit, Mandanten zu finden, insbesondere in Bundesländern
mit vielen Displaced Persons wie Bayern. Dagegen gab es gerade für
Anwälte in Israel -wenige zahlungsfähige Mandanten, in Deutschland war
ein gewisser finanzieller Gewinn durch die - an sich unzulässige, aber
von allen praktizierte - erfolgsabhängige Honorierung gesichert. Dem
neuen Rechtsgebiet der Wiedergutmachung wandten sich aufgrund seiner
Komplexität, Kompliziertheit und vor allem scheinbaren Kurzlebigkeit
zunächst wenige Juristen in Deutschland zu; so sahen gerade jüdische
Juristen in der Rückerstattung und der Entschädigung eine Nische, in der
sie ihre Chance bekamen.
Ein gutes Beispiel dafür ist der schon häufiger erwähnte Walter
Schwarz. Er hatte als Anwalt in Haifa Schwierigkeiten, wirklich Fuß zu
fassen, in Deutschland avancierte er zu einem der führenden Köpfe der
Wiedergutmachung. Schwarz selbst berichtet in seiner Autobiographie, wie
schwer es für ihn als "späten" Juristen war, in Israel Aufträge zu
bekommen. Erst nachdem er sich als Wiedergutmachungsanwalt in
Deutschland niedergelassen hatte, so meinte er, "wusste ich: niemals
mehr würde ich mich um ein Mandat reißen müssen".(120) Seine Erfahrungen
innerhalb der Wiedergutmachung halfen ihm dabei, den schwierigen Spagat
zu bewältigen: Denn einerseits sah er sich als "Testamentsvollstrecker
des jüdischen Volkes", andererseits konnte und wollte er seine innere
Bindung zu Deutschland nicht lösen. Bei seinem Engagement für
Entschädigung und Rückerstattung erlebte er Verständnis,
Kompromissbereitschaft und Entgegenkommen, sodass er sich "nicht in
Feindesland" wähnte.
Die rein quantitativ gemessene Erfolgsquote bei
Wiedergutmachungsanträgen interessierte ihn dabei nur sekundär. Ihm war
wichtiger, auf einen Staat und eine Gesellschaft zu stoßen, die sich
diesem schwierigen Problem überhaupt öffneten. Natürlich sah auch und
gerade Schwarz als einer der besten Kenner der Materie die zahlreichen
Schwachstellen der Wiedergutmachung; und er machte mit seiner
außergewöhnlichen stilistischen Begabung auf jede Ungerechtigkeit, jede
Ungereimtheit, jeden Skandal, den er entdeckte, aufmerksam.(121) Doch
gleichzeitig identifizierte er sich so sehr mit der deutschen
Wiedergutmachung, dass seine Bilanz der bundesdeutschen Wiedergutmachung
äußerst positiv ausfiel: "Die Wiedergutmachung", so seine feste
Überzeugung, "dieses zu Unrecht verdrängte Stück deutscher
Zeitgeschichte, wird später einmal historischen Glanz erhalten."(122)
Allerdings, und das wusste Schwarz natürlich auch, vermochten weder
Rückkehr noch Wiedergutmachungsleistungen die traumatischen Eindrücke
von Verfolgung, Vertreibung und Flucht wirklich rückgängig zu machen;
die Rückkehr erfolgte daher bei vielen nur "unter Vorbehalt".(123) Zudem
sollte nicht übersehen werden, dass sich in manchen Fällen die
Durchführungspraxis sowie die Abwehrhaltung der Bevölkerung gegen die
Wiedergutmachung auch hemmend in Bezug auf eine Rückkehr nach
Deutschland auswirkte. Viele Remigranten blieben fremd in ihrer Heimat,
auch nachdem sie zurückgekehrt waren. Gerade die jüdischen ehemals
Verfolgten stießen als "anstößige Zeugen dessen, was geschehen war"
mitunter auf offene Abwehr in der Bevölkerung.(124)
Überdies standen sie in den Augen der ehemaligen "Volksgenossen" -
gleichgültig, ob sie in der Entnazifizierung oder für die
Wiedergutmachung tätig waren - auf Seiten der Besatzer. Die Rückkehr aus
Exil und Emigration wurde in der Nachkriegszeit als Tabu, beinahe als
öffentliches Ärgernis behandelt.(125)
Trotz aller dieser Vorbehalte und Einwände kehrte eine größere Zahl
jüdischer NS-Opfer nach Bayern bzw. Deutschland zurück. Für die
Entscheidung, nach 1945 zurückzukommen und womöglich sogar zu bleiben,
gab es ganz unterschiedliche Gründe. Natürlich trugen auch
Sentimentalitäten zum Wunsch nach Remigration bei - obwohl es unter
Juden verpönt war, von "Heimweh" nach Deutschland zu sprechen.(126) Die
Wiedergutmachung spielte dabei eine nicht unbedeutende Rolle: Sie konnte
Anlass, Bedingung, Ursache oder auch schlicht Vorwand sein für die
Rückkehr in ein Land, das noch wenige Jahre zuvor die Vernichtung jeder
Form von jüdischer Existenz zum politischen Kernprogramm hatte. Hendrik
van Dam, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland,
meinte rückblickend sogar, die Wiedergutmachung sei "ein erheblicher
Faktor" für die Remigrationsbewegung der Juden nach Deutschland
gewesen.(127)
Zurück
Anmerkungen:
(93) Vgl. u.a. Richarz, Juden, S. 14.
(94) Zit. nach Brenner, Epilog, S. 35.
(95) Walter, Bemerkungen, S. 172.
(96) Lehmann, Rückkehr, S.44. Zur neuesten Literatur bzgl.
Emigration/Remigration vgl. Stöver, Emigration, S. 619-621.
(97) Es existiert keine amtliche Statistik darüber, wie viele Remigranten
nach 1945 nach Deutschland kamen, man schätzt jedoch, dass etwa 35.000
bis 40.000 deutschsprachige politische Emigranten nach Deutschland
zurückkehrten, dagegen nur etwa 10.000 jüdische Flüchtlinge: Vgl.
Lehmann, Rückkehr, S. 62f.
(98) Abzulesen ist das beispielsweise daran, dass in den Jahren der großen
bundeseinheitlichen gesetzlichen Wiedergutmachungsregelungen (1953,
1956, 1957) die Anmeldungen nach Grundgesetz Art. 116/2
(Wiedereinbürgerung) besonders hoch waren; vgl. Statistik bei Lehmann,
Wiedereinbürgerung, S. 100f.
(99) Vgl. Winstel, Remigration.
(100) Winstel, Wiedergutmachungs-Anwalt, Abs. 13.
(101) Hier und im Folgenden zit. nach Jürgens, Emigration, S. 110; vgl.
auch Schmuckler, Gast, S. 117ff.
(102) Vgl. z.B. im oben genannten Fall Hannah Schäler bewilligte er 400 DM
(Aktennotiz Generalanwalt an Amtskasse vom 17.8.1949, BayHStA, E
78.070). Diese Beträge wurden dann später, sofern
Entschädigungsansprüche festgestellt wurden, mit diesen verrechnet.
(103) In den Einzelfallakten der Wiedergutmachungsämter finden sich
mehrere derartige Fälle.
(104) Zit. nach Brenner, Holocaust, S. 174.
(105) Kliner-Fruck, Überleben, S. 184.
(106) Webster, Jüdische Rückkehrer, S.61.
(107) Hier und im Folgenden vgl. Münzel, Kontinuität.
(108) Erst ab Mitte der 1950er Jahre herrschte wirtschaftliches Wachstum,
u.a. dank der deutschen Wiedergutmachungsleistungen aus dem Luxemburger
Abkommen. Vgl. dazu u.a. Ginor, Impact.
(109) Lehmann, Rückkehr, S. 56f.
(110) Vgl. z.B. § 14/8 oder § 17/3 des BErgG.
(111) van Dam, Juden, S. 907f. Das galt nicht nur für Bayern, sondern auch
für andere Bundesländer, insbesondere die Großstädte. Vgl. dazu auch das
laufende Projekt von Matthias Langrock (Universität Bochum) zur
Wiedergutmachung in Köln.
(112) §24, Abs. 4 und 9 der Dienstanweisung des BayMF zur Durchführung des
BEG vom 14.11.1956, BayMF, O1470-25/1.
(113) Kliner-Fruck, Überleben, S. 168.
(114) Vgl. etwa den Rückerstattungsfall der Familie W. in: OFD/N,
Verzeichnete RE-Fälle München/2403.
(115) Dabei konnten auch ganz praktische Hilfen wie etwa in der wichtigen
Wohnraumfrage zur Rückkehr bzw. zum Bleiben beitragen. In
Nordrhein-Westfalen etwa gab es in den 1950er Jahren eigene
Wohnungsbauprogramme für NS-Verfolgte und - analog zu den Vertriebenen-
und Flüchtlingsprogrammen — Hilfen bei der Wohnungssuche für jüdische
Remigranten: Vgl. Wagner, Sozialstaat, S. 191-194. Für Bayern sind
solche Programme, die über konkrete Hilfsmaßnahmen im Rahmen der
Wiedergutmachung hinausgingen, jedoch nicht bekannt.
(116) Webster, American Relief, S. 306.
(117) Wobei alle drei unterschiedliche Wege hinter sich hatten: Neuland
hatte es geschafft, die Verfolgung in München zu überstehen; Kossoy war
aus Polen nach Palästina geflüchtet und erst Anfang der 1950er Jahre
gekommen, während Siegel - Spross einer bekannten jüdischen Münchener
Juristenfamilie - als klassischer Remigrant zu gelten hat. Zu Edward
Kossoy vgl. Winstel, Wiedergutmachungs-Anwalt, zu Uri Siegel vgl.
Winstel, Remigration.
(118) Etwa die zahlreichen deutsch-jüdischen Anwälte der URO oder der
JRSO. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang etwa Fritz Goldschmidt,
Kurt May oder Ernst Katzenstein; vgl. dazu Hockerts, Anwälte sowie
Lissner, Rückkehr, S. 86.
(119) Lissner, Rückkehr, S.75.
(120) Hier und im Folgenden Schwarz, Frucht, S. 129.
(121) Zusammengefasst in Schwarz, Wind.
(122) Schwarz, Frucht, S. 155; übrigens steht Walter Schwarz mit seiner
Beurteilung unter den jüdischen Wiedergutmachungsanwälten nicht alleine
da. Auch Kempner beispielweise urteilte ähnlich positiv; Kempner,
Ankläger, S. 3H0.
(123) Krauss, Heimkehr, S.7f.
(124) Schlör, Exil, S. 156; vgl. auch Webster, Jüdische Rückkehrer, S.
62-74.
(125) Papcke, Exil, S. lOf.
(126) Ebenda, S. 53.
(127) van Dun, Juden, S. 908.
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29-11-06 |