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Deutschtum, Judentum und "wahres Menschentum":
Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg

Rezension von Andrea Übelhack

"Und auch diejenigen unserer Glaubensgenossen, welche durch jene Rassentheorien oder durch die antisemitischen Strömungen verwirrt, selbst an ihrem Deutschtum zu zweifeln begonnen haben, auch sie werden in diesen Tagen klar empfunden haben, wohin die gehören. Auch sie werden gefühlt haben, wie innig sie mit dem deutschen Volke mit deutscher Kultur und unserer deutschen Heimat verwachsen sind."

Patriotismus und vaterländische Pflicht sprechen aus diesem Leitartikel der K.C.-Blätter, einer Monatsschrift der liberalen Studentenvereine. In den meisten historischen Darstellung werden die deutschen Juden in diesem Sinne als begeisterte Kriegsanhänger geschildert. Das "Augusterlebnis" habe auch bei ihnen eine euphorische Begeisterung für den Weltkrieg ausgelöst, nationalistische Begeisterung und Scharen von Krigesfreiwilligen gehörten fraglos auch zur deutsch-jüdischen Geschichte.

Daß eine derart vereinfachende Darstellung für das deutsche Judentum nicht zutreffend sein kann, zeigt Ulrich Sieg in seiner preisgekrönten Arbeit "Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg". Sieg ist Privatdozent an der Universität Marburg und erhielt für seine Untersuchung den Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands für hervorragende Leistungen des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Obwohl in den letzten Jahren viele Arbeiten zur jüdischen Kulturgeschichte erschienen, wurde die Zeit des Ersten Weltkrieges bisher noch fast nicht bearbeitet. Wenn, dann fanden Juden als Objekte staatlicher Politik Eingang in die Darstellung, wie es beispielsweise bei Egmont Zechlin der Fall ist. Zu recht wundert sich Ulrich Sieg darüber, weshalb es kein Interesse dafür gibt, ob der "Großer Krieg" auch für das jüdische Leben eine wichtige Schlüsselbedeutung besitzt.

Ulrich Siegs Studie, die am Schnittpunkt von Politik-, Mentalitäts- und Ideengeschichte angesiedelt ist, setzt erstmals einen bewußten Fokus auf deutsch-jüdische Kultur im Ersten Weltkrieg. Die Ergebnisse zeigen einen regen Austausch mit intellektuellen nichtjüdischen Zeitströmungen, von einer Ghettoexistenz des deutschen Judentums und seinen Denkern kann also nicht gesprochen werden.

Die deutsch-jüdische Kultur vor 1914 zeigt sowohl die Erfolge der Akkulturation als auch deren Grenzen. Auch wenn das Kaiserreich ein gewisses Maß an kultureller Vielfalt und Entfaltungsmöglichkeiten für die jüdische Minderheit ermöglichte, darf nicht übersehen werden, wie sehr das Kulturleben durch eine Definition im preußisch-protestantischen Sinne beherrscht wurde. Die Schwierigkeiten deutscher Juden zeigen sich vor allem in ihrer Teilnahme an der "hohen Kultur": "je erfolgreicher man protestantische Ideen und Werte adaptiert hatte, um so ungewisser war die Substanz des Judentums geworden.". Die Suche nach einem neuen jüdischen Selbstverständnis brachte sowohl den Zionismus, den Centralverein als auch die "Jüdische Renaissance" hervor. In allem ist der bürgerliche Zeitgeschmack deutlich zu erkennen.

Den Rahmen für Siegs Darstellung der Intellektuellen Debatten und Neuentwürfe, bildet der Erste Weltkrieg selbst und das jüdische "Kriegserlebnis". Seine Auswertung privater Quellen, wie Feldpostbriefe, Memoiren und Tagebücher, ergibt zunächst ein wesentlich differenzierteres Bild des "Augusterlebnisses". Deutsche Juden nahmen die unterschiedlichsten Haltungen zum Krieg ein, offene Kritik oder einfach Pflichterfüllung, aber auf jeden Fall Ängste und Zweifel fanden bisher nur unzureichend Erwähnung. Während in der allgemeinen Geschichtsschreibung Lokal- und Regionalstudien bereits am Mythos des "Augusterlebnisses" gekratzt haben und dabei ein starkes Gefälle zwischen Stadt und Land herausarbeiten konnten, blieb die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung davon bisher wenig beeindruckt und hält das Bild der allgemeinen und umfassenden Kriegsbegeisterung weiter aufrecht. Auch hier wäre zu fragen, ob es beispielsweise ein Stadt-Land-Gefälle gibt.

Unter den jüdischen Intellektuellen herrschte tatsächlich größtenteils euphorische Stimmung. Martin Buber postulierte beispielsweise den Mut der Makkabäer als eigentlich jüdische Eigenschaft. Für die meisten war es selbstverständlich, das Vaterland zu verteidigen. Die deutschen Juden wurden in ihrer Welle der Begeisterung für den Krieg jedoch von einem ständigen Loyalitätsdruck begleitet. Gerade das Judentum als exponierte Minderheit wurde von der Öffentlichkeit besonders unter die Lupe genommen. Der Burgfrieden hatte für die deutschen Juden daher eine besondere Bedeutung, er wurde vor allem als Chance wahrgenommen, nun auch in die Offiziersränge aufsteigen zu können. Vor allem in Memoiren zeige sich, wie sehr die Burgfriedensrede Wilhelms II. vom 4 August 1914 im Gedächtnis verankert blieb und beflügelte, so Ulrich Sieg.

Der Patriotismus stand jedoch bald unter weniger idealen Umständen, es wurde immer schwieriger gleichzeitig Patriot und Jude zu sein und die xenophobe Stimmung in der Öffentlichkeit zu ignorieren. Für die deutschen Juden nahm der Loyalitätsdruck weiter zu. Den größten Rückschlag kam 1916 mit der sog. "Judenzählung", die im Oktober 1916 durch das Kriegsministerium eingeleitet wurde und die jüdische Beteiligung am Krieg dokumentieren sollte. "Die Kluft zwischen Juden und Christen, die überbrückt gewesen war, tut sich von neuem auf. Der Jude fühlt sich als Gezeichneter", kommentierte der Feldrabbiner  Georg Salzberger. Zu Kriegsende herrschte unter den jüdischen Soldaten vor allem Freude, unter den jüdischen  Intellektuellen dagegen eine pessimistische Zukunftsfurcht, die von großer Skepsis in den Anfangsjahren der Weimarer Republik gefolgt wurde.

In der Frage nach einem spezifisch jüdischem "Kriegserlebnis" ist schon alleine der Begriff schwierig, da er die unterschiedlichsten Erfahrungen subsumieren möchte. Anders als in der bisherigen Historiographie sollten Juden aber nicht als Objekte, sondern als aktiv Handelnde wahrgenommen werden. Ulrich Sieg konzentriert sich auf einige wenige Aspekte der Kriegserfahrung, um so einen Eindruck davon zu vermitteln, wie jüdische Intellektuelle den Ersten Weltkrieg erlebten.

Der Kriegsalltag jüdischer Soldaten unterschied sich erheblich von dem der nichtjüdischen Soldaten. Die Einhaltung der Speisegebote und Feiertage stieß nicht selten auf Unverständnis bei Vorgesetzten und Kameraden. Ca. dreißig Feldrabbiner, darunter auch Leo Baeck, waren an den Fronten im Einsatz und standen den jüdischen Militärangehörigen bei. Feldpostbriefe und Tagebücher zeigen den ständigen Versuch, einwandfreies Verhalten an den Tag zu legen, niemanden zu brüskieren, allgemein keine Fehler zu begehen. Aufgrund ihrer exponierten Stellung standen die jüdischen Soldaten unter ständiger Beobachtung.

Mit Ausbruch des Weltkrieges wurden innerhalb des Judentums große weltanschauliche Debatten begonnen, die bisher noch nicht zusammenfassend untersucht wurden. Dies verwundert allein aufgrund der Tatsache, daß alle wichtigen Denker des deutschen Judentums dieser Zeit darin verwickelt waren: "Martin Buber, Hermann Cohen, Gustav Landauer oder Stefan Zweig nahmen aktiv an den miteinander verzahnten öffentlichen Auseinandersetzungen teil, um die politischen und kulturellen Schlüsselbegriffe in ihrem Sinn zu definieren." Als "Stichwortgeber" fungierten dabei häufig nichtjüdische Intellektuellen wie Werner Sombart, Ernst Troeltsch oder Houston Stewart Chamberlain. Gleichzeitig wird oft einem "innerjüdischen Burgfrieden" für die Jahre des Ersten Weltkrieges ausgegangen, was Ulrich Sieg entschieden ablehnt. Es habe zwar gemeinsame Initiative gegeben, die aber ausschließlich auf praktische Lösungen ausgerichtet waren.

Ulrich Sieg stellt neben den Diskussionen um die Radikalisierung des Antisemitismus, die von den meisten jüdischen Intellektuellen nicht erkannt wurde, die Debatten um das Ostjudentum dar. Damit untersucht er die Argumentationen der Kulturzionisten. Während das "Leiden der Moderne", der Krieg, der "heilen Vergangenheit", verkörpert durch das scheinbar ursprüngliche Ostjudentum, gegenübergestellt und auf die belebende Wirkung der osteuropäischen Tradition gesetzt wurde, stilisierte man die Ostjuden zum "Fremden" in der deutsch-jüdischen Umgebung.

Von besonderer Bedeutung ist die Debatte um "Deutschtum und Judentum". Bei der Frage nach einer möglichen harmonischen Verbindung zwischen beidem stellt sich vor allem das Problem der Definition beider Begriffe, die auch die ungewöhnliche Härte der Auseinandersetzung erklären kann. Der Centralverein sah die Symbiose der scheinbaren Gegensätze als Lösung in der modernen Welt. Juden seien die idealen Interpreten deutscher Kultur. Erst die Verbindung von Deutschtum und Judentum ermögliche "wahres Menschentum", wie der Rechtsanwalt und Politiker Eugen Fuchs, eines der einflußreichsten Mitglieder des CV, betonte. Ulrich Sieg zeichnet die Debatte an den grundlegenden Positionen im Streit zwischen Hermann Cohen und Martin Buber nach. Ihre kulturellen Neuentwürfe zeigen "jene inneren Brüchigkeit und inhaltliche Komplexität, die sie zum Inbegriff der Moderne werden" ließen.

Vor allem die Lektüre dieses Kapitels sowie der Darstellung kultureller Neuentwürfe lassen Johannes Frieds Laudatio auf dem 43. Deutschen Historikertag 2000 verständlich werden: "Herrn Sieg ist es gelungen, die oft unüberwindlich erscheinende Distanz, die Geschichtsschreibung und Philosophie voneinander zu trennen pflegt, zu überwinden... Daß diese Darstellung darüber hinaus außerordentlich gut lesbar, geradezu ein Lesevergnügen, ist, stellt nicht ihr geringstes Verdienst dar."

Daneben stellt meines Erachtens Ulrich Siegs Thematisierung methodischer Probleme eine erwähnenswerte Besonderheit dar. Der Leser wird vor allem für die Begriffsdefinition der "jüdischen Kultur" sensibilisiert. Während einerseits die zahlreichen Verbindungen zur nichtjüdischen Gesellschaft im Kulturbereich berücksichtigt werden müssen, sollten andererseits Bewegungen wie die "Jüdische Renaissance nicht überbetont werden, da sie zahlenmäßig den wesentlich kleinere Teil des deutschen Judentums umfassten.

Ulrich Sieg
Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg
Kriegserfahrungen, weltanschauliche
Debatten und kulturelle Neuentwürfe

Akademie Verlag Berlin 2001
Euro 44,80

haGalil onLine 12-02-2002

 










 

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