Baruch de Spinoza
Die EthikAus der Bibliothek der verbotenen
Bücher
Schon
immer haben Menschen darüber nachgedacht, wie sie ein natürliches
animalisches Wohlgefühl mit höheren geistigen Verhaltensregeln und
Lebensmaximen verbinden können und sollten. Das ist der Ursprung der Moral.
Vielleicht sind sie, wie uralte Mythen und Erzählungen der Weltreligionen
nahe legen, dadurch erst zu Menschen geworden. Der jüdisch-christliche
Schöpfungsbericht der Bibel stellt Adam und Eva vor dieses Problem, lässt
sie am göttlichen Verbot scheitern und aus dem Paradies des ungestörten
Glücks vertreiben.
In diese Problematik stellt Baruch (Benedikt) Spinoza, als Sohn jüdischer
Portugiesen 1632 in Amsterdam geboren, Mitte des 17.Jahrhunderts seine
Schrift, „Ethica ordine geometrico demonstrata“, „Ethik, nach geometrischer
Ordnung bewiesen“.
Er wollte auf originelle Weise Ordnung in die ethischen Fragen des Menschen
und der Menschheit bringen und geriet in Konflikt sowohl mit dem Judentum
als auch mit der Römischen Kirche. Gerade deshalb sind seine Erkenntnisse
auch heute wertvoll.
Nach der Übersetzung von Jacob Stern, überarbeitet und
aktualisiert von Dr. Michael Czelinski-Uesbeck
Herausgegeben und eingeleitet von Heinz-Joachim Fischer
400 S., geb. mit SU, 12,5 x 20 cm
Einleitung
Auf der Suche nach Spinozas Haus
Es ist schwierig, in Amsterdam das Haus des Philosophen Spinoza zu
finden, des Baruch oder Bento de Spinoza oder, latinisiert, Benedictus De
Spinoza, auch Baruch d’Espinosa oder Despinosa, ganz wie man will und er es
abwechselnd wollte, so wie es seiner portugiesisch-jüdischen Herkunft und
dem Brauch seiner holländischen Geburtsstadt im 17. Jahrhundert entsprach.
So genau nahm man es früher mit den Namen und ihrer Schreibweise nicht.
Schwierig mit dem „Spinoza-Huis". Niemand von den Literatur-Professoren,
holländischer und englischer Herkunft, die wir im Mai in den Räumen der
Universität bei einem lockeren Steh-Empfang mit Weingläsern in der Hand
fragen, weiß Bescheid.
Auch der Concierge des Luxushotels nebenan, der sonst alles
in Amsterdam kennt, vermag selbst nach längerem Suchen im Internet und
einigen Anrufen nicht mit einer Adresse zu dienen. Könne es denn nicht auch
das Anne-Frank-Huis sein, fragt er verbindlich, oder das von Rembrandt. Das
wüsste er sofort und genau. Eigentlich wollten die Touristen immer nur diese
beiden Haus-Sehenswürdigkeiten hier aufsuchen, sagt er. Dann blickt er etwas
misstrauisch und fügt hinzu: Vorgestern hätten zwei amerikanische Reporter
gefragt, ob Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch in den Niederlanden im
Mai 1985 wegen der Attentatsdrohungen und wütenden Protesten gegen das
damalige Oberhaupt der katholischen Kirche wirklich die kritischen
Amsterdamer ausgespart habe. – Hat er.
Weiter hätten die Journalisten wissen wollen, so der
Concierge, wo der holländische Filmregisseur Theo van Gogh im November 2004
wegen seiner heftigen Kritik am Islam von einem muslimischen Extremisten,
einem Marokkaner, ermordet worden sei. Und schließlich, ob die schöne Ayaan
Hirsi Ali aus Somalia, wieder im holländischen Parlament sei oder wegen der
Morddrohungen von fanatischen Muslimen weiter in den Vereinigten Staaten
lebe. Das müssten sie schon selbst herausfinden, habe er abgewehrt, sagt
Herr Willem. Er empfehle, wie gesagt, Anne Frank und Rembrandt, das heißt,
deren Häuser.
Die wollten wir eigentlich nicht. Wir wollten Spinozas Haus.
Oder kommen wir auch damit Spinoza näher? Sind wir vielleicht mit diesen
fünf so unterschiedlichen Personen, Anne Frank und Rembrandt, mit dem
holländischen Regisseur, der Somalierin und dem Papst nicht genau in dem
Spannungsfeld zwischen Religion und Gesellschaft, Glaube und Vernunft,
Freiheit und Verbot, das Spinozas Werk kennzeichnet?
Mit dem deutschen Mädchen, das, 1929 in Frankfurt am Main
geboren, 1933 mit der Familie vor den neuen Nazi-Machthabern in Deutschland
nach Holland emigriert, das mit seinem Tagebuch über die Ängste und Leiden
im Versteck eines Amsterdamer Hinterhofes während der deutschen
Besatzungszeit die Welt erschüttert, das als Jüdin noch im März 1945 im
Konzentrationslager umgebracht wird. Oder mit Rembrandt, dem Maler Harmensz
van Rijn (1606 bis 1669); eine Generation älter als Spinoza, einem der
größten der Kunstgeschichte, der einsam und arm starb? Mit dem Papst der
autoritären Kirchenführung, dem ermordeten Dokumentarfilmer und
Religionskritiker, mit der bedrohten Menschenrechtlerin?
Fünf Wegbereiter
Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Mit den fünf Gesuchten in
Amsterdam, zwei Frauen und drei Männern, aus nahen und fernen Zeiten, sind
wir mitten in Spinozas Lebensthema: der Frage nach dem »richtigen« Gott,
nach dem gelungenen, glücklichen Leben, zwischen Katastrophe und Kunst,
Philosophie und Theologie, zwischen verschiedenen Religionen und
Staatsformen, ruhiger Botschaft und entschlossenem Engagement.
Mit Anne Frank sind wir in jenem jüdischen Kulturkreis, aus
dem heraus Baruch Spinoza sich entwickelt hat, und zwar in doppelter
Hinsicht: Zuerst ganz auf dem fruchtbaren Boden einer alten, durch
Generationen weitergegebenen, von scharfem Verstand sezierten Religion, der
Traditionen und Heiligen Schriften des Jüdischen stehend, entfernt sich
Spinoza davon, weg von den unendlichen Streitereien um den richtigen Gott,
den Haarspaltereien um das rechte Leben. Er emanzipiert sich als Jude, wird
zur Strafe aus der Synagoge, der Gemeinschaft des Vertrauten, ausgestoßen
und von der Gesellschaft – nicht umgebracht wie Anne Frank von Gottlosen,
aber – verbannt aus seiner Geburtsstadt, misstrauisch verfolgt bei seinem
weiteren Denken und Tun.
Mit Rembrandt tauchen wir in Amsterdam ein in die Zeit des
17.Jahrhunderts, als die damalige Moderne in der holländischen Weltstadt an
der Amstel zusammenzufließen schien: Wissenschaft, Technik, Handel;
wechselnd zwischen Republik und Monarchie, demokratischen und oligarchischen
Formen; kapitalistisches Wirtschaften, Angebot-Nachfrage, Gewinn-Verlust,
ein neues stärkeres, selbstsicheres Lebensgefühl, ein erneuerter
christlicher Glaube in Freiheit. Das ist Spinozas Zeit, sein Wurzel-Ort. Mit
Rembrandt spüren wir darüber hinaus die Größe eines Genies, auch das
Geheimnis des Menschen in einer prophetischen Botschaft, hier verhüllt im
Künstlerischen, dort in der Tiefe der Gedanken, in der Höhe kühner,
schwindelerregender Ideen.
Die drei anderen Stichwörter, der Papst, die Bedrohte, der
Ermordete, werfen, kaum als Thema angeschnitten, gerade heute verrückte
Fragen auf: Was wäre, wenn Spinoza in Mekka, Kairo oder Istanbul gelebt und
gewirkt hätte? Wenn die Päpste die Einsichten eines Johannes Pauls II.
früher gehabt hätten? Was denkt ein Benedikt XVI. über Spinoza, ein Papst,
der über die Vernünftigkeit Gottes und der Religion dozierte und deshalb von
Muslimen angefeindet wurde?
Wäre der Islam mit einem muslimischen Spinoza aufgeklärter,
weniger fundamentalistisch, vernünftiger? Würde man heute Spinozas Werke
noch verbieten oder als atheistisch, antichristlich einstufen? Wäre dann
Theo van Gogh nicht von muslimischen Terroristen wegen eines polemischen
Dokumentarfilms umgebracht worden? Dürfte dann die Muslimin aus Somalia
unbedroht von religiösen Extremisten in Holland leben?
Dennoch! Es musste für mich in Amsterdam das Haus des Baruch
Spinoza sein! Obwohl ich auf Schwierigkeiten vorbereitet war. Ein Anruf bei
der Botschaft des Königreichs der Niederlanden in Berlin und das Gespräch
mit dem zuständigen Beamten hatten keinen zweckdienlichen Hinweis auf
Spinozas Haus in Amsterdam erbracht. Obwohl es sich doch um den
bedeutendsten Philosophen der Niederlanden, einen der wichtigsten der
europäischen Moderne handelte! Einen, den eine jede Stadt in der Welt gern
herzeigt: Seht, dieser Berühmte ist einer von uns!
Warum schwieg der Holländer?
Oder verweigerte der Diplomat die Antwort aus Feingefühl?
Weil Baruch de Spinoza ein Unbequemer war. Damals in der Mitte des 17.
Jahrhunderts, als der Westfälische Frieden von 1648 den furchtbaren
Dreißigjährigen Krieg in Deutschland beendete, mehr aus Erschöpfung der
Streitenden als aus Überzeugung; als bewaffnete Horden endlich ihr sinnlos
grausames Wüten einstellten, das durch die Berufung auf religiöse
Unterschiede noch erbitterter geworden war. Ein Friede, der einen
konfessionellen Gegensatz im Glauben an denselben christlichen Gott in
Europa bis heute festschrieb.
Weil Spinoza es sich mit fast allen verdarb. Er, der die von
der unbestechlichen Vernunft geleitete Einsicht und Verständigung suchte ,
bewiesen nach Lehrsätzen, so zwingend wie in der Geometrie. »Ordine
geometrico demonstrata«, wie er seinem Hauptwerk, der »Ethica – Ethik«, als
Untertitel gab, und der dennoch vor allem Ablehnung in seiner Heimat, dem
holländischen Gastland, fand.
Weil Baruch, am 24. November 1632 geboren, als junger Mann
von 24 Jahren nicht nur von der Synagoge mit dem Bann belegt und aus der
jüdischen Gemeinde ausgeschlossen, sondern auch aus seiner doch nicht so
liberalen Geburtsstadt Amsterdam verbannt wurde und in das etwa 45 Kilometer
entfernte Rijnsburg umziehen musste.
Weil Spinoza mit seinen Gedanken und Worten die braven
Bürger von Amsterdam vor den Kopf stieß, die orthodoxen Juden, die frommen
protestantischen Christen, die politischen Machthaber.
Weil sein zu Lebzeiten (1670) veröffentlichter wichtiger
»Theologischpolitischer Traktat« 1674 als »gotteslästerlich und
seelenverderbend« in Holland verboten wurde.
Weil er immer wieder weiterziehen musste, von Rijnsburg nach
Voorburg und von dort nach Den Haag, wo er an seiner lebenslangen Krankheit,
der Lungentuberkulose, mit nur 44 Jahren starb.
Weil Spinoza selbst im relativ freiheitlichen Holland bis zu
seinem Tod im Februar 1677 nicht wagte, sein Hauptwerk, »Die Ethik«, an der
er lange Jahre gearbeitet hatte, zu veröffentlichen. Weniger aus Angst vor
persönlicher Verfolgung – die war dem kranken Philosophen zunehmend
unwichtiger -, sondern aus der Sorge, er könne schwachen Geistern Ärgernis
geben und die Frommen in Verwirrung stürzen.
Weil deshalb erst nach seinem Tod, dann aber sehr schnell
noch im selben Jahr, seine Werke veröffentlicht werden konnten, zuerst in
der lateinischen Originalsprache als »Opera posthuma« bei Jan Rieuwertsz in
Amsterdam, wenig später in niederländischer Übersetzung als »Nagelatene
Schriften« bei demselben Verleger.
Weil schließlich das Verbot seiner Schriften durch die
katholische Kirche, die Eintragung in den »Index« der ketzerischen Bücher,
auf den staatlichen Bücherbann in Holland nur folgte. Da die Werke auf
Latein verfasst waren, ging übrigens die Aufnahme in den »Index librorum
prohibitorum « durch die zuständige römische Kongregation in den Jahren 1679
(»Tractatus theologicus-politicus«) und 1690 (»Opera posthuma«, alle
nachgelassenen Werke) zielstrebiger voran als gewöhnlich.
So erscheinen Juden, Protestanten und Katholiken gleich
unduldsam, in der Verdammung des Philosophen vereint – nicht sehr
schmeichelhaft für die Vertreter der Religion in Europa. Oder waren die
Zeiten eben so? Ehrgeizige Politiker, staatsfromme Bürger, liberale
Kaufleute, sie alle fürchteten Baruch Spinoza, weil seine Gedanken Macht
hatten. Waren die Menschen damals noch nicht reif dafür?
Oder schwieg der Botschaftsbeamte, weil, wie wir inzwischen
feststellen, es das Stadtviertel der Amsterdamer Juden gar nicht mehr gibt.
Nicht jene Gassen und Winkel, Straßen und Plätze, in denen Baruch aufwuchs,
und eben auch nicht das Haus der Familie Spinoza. Weil im Zweiten Weltkrieg
fast alles von diesem besonderen Kulturgebiet der niederländischen Weltstadt
zerstört wurde, dort, wo heute der Waterlooplein verläuft, Zwanenburgwal, an
der Amstel gelegen, oder das Familienhaus an der Houtgracht, nicht weit vom
Königlichen Schloss. Die moderne Stadtplanung ist über die greifbare
Erinnerung an einen der größten Philosophen Europas hinweggegangen.
Amsterdam, 1632
"kriege, kämpfe und stets die religion"
Aber wenn man das Geburts-Huis Spinozas in Amsterdam nicht mehr finden kann
und sich nicht begnügen will mit Spuren seiner nächsten Lebensstationen in
Rijnsburg, Voorburg und schließlich Den Haag, dann fängt die Suche nach
seinem eigentlichen »Haus«, dem Gebäude seiner Philosophie, seiner Lehren
und Weisheit, erst an, nämlich mit dem Geburtsjahr 1632 in Amsterdam:
Die »Niederlanden«, 17 Provinzen in der Reichs-Masse der
Habsburger Kaiser und Könige, befinden sich seit zwei Generationen in einem
dramatischen Kampf um Unabhängigkeit und Freiheit, seitdem (1568) der
spanische König Philipp II. diese Länder von Madrid aus fest in seinen
Machtbereich eingliedern will. Die »Allerkatholischste Majestät« operiert
dabei ohne Sinn für das Neue, das sich dort Bahn brechen will,
machtpolitisch, spanisch-national, sowie religiös, päpstlich-katholisch,
verbohrt. Die sieben nördlichen Provinzen dieser Niederlanden, an der Spitze
Holland mit Amsterdam, schließen sich daraufhin zusammen (1579) und
verteidigen ihre wachsende Selbständigkeit gegen Spanien, aus nationalen
Gründen und aus religiösen Gegensätzen als Calvinisten reformatorischen
Ursprung.
Kein Geringerer als Friedrich Schiller (1759 bis 1804) hat
in einer glänzenden historischen Schrift diese »Geschichte des Abfalls der
vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung« als einen
exemplarischen Kampf um Freiheit und Unabhängigkeit gegen nationale und
religiöse Bevormundung dargestellt und damit Auskunft über jenen Geist
gegeben, der zu Spinozas Zeiten in Amsterdam herrschte. Erst der
Westfälische Friede von 1648 – da war Baruch 16 Jahre alt – spricht den
Niederländern politische Freiheit und Unabhängigkeit zu.
Religiöse Gegensätze zwischen Katholiken und Protestanten,
Papst treuen und Reformierten (in der Nachfolge Luthers, Zwinglis und
Calvins) bestimmen zur selben Zeit auch den Dreißigjährigen Krieg in
Deutschland (von 1618 bis 1648) als europäische Auseinandersetzung. Auch
dessen Geschichte und innerste Beweggründe hat Schiller in seiner besten
Prosa ausführlich und lehrreich beschrieben. Als Historiker bemerkt der
deutsche Dichter schon in den ersten Zeilen: »Alle Weltbegebenheiten, welche
sich in diesem Zeitraum ereignen, schließen sich an die Glaubensverbesserung
an.«
Das ist genau Spinozas Lebensprogramm, das des Theologen und
Philosophen: Die Verbesserung des Glaubens, des jüdischen wie des
christlichen, der Theologie und der Philosophie, des Denkens und des
Verstandes, so der Titel einer Schrift von 1661, »Tractatus de intellectus
emendatione« (Traktat über die Verbesserung des Verstandes). Darum ging es:
Verbesserung der menschlichen Denkfähigkeiten, um die Bedingungen für ein
gelingendes Lebens zu verbessern und sich nicht in religiösen Streit zu
verbeißen.
Aber noch herrschte im Geburtsjahr 1632 Krieg. Der
evangelische König Gustav Adolf von Schweden erobert im Mai München, die
Hauptstadt des bayerischen Kurfürsten Maximilian, seines katholischen
Erzfeindes. Am 16. November besiegt Gustav Adolf in der Schlacht von Lützen
bei Leipzig das Heer des katholischen Kaisers Ferdinands II. unter
Wallenstein, wird dabei jedoch tödlich verwundet und fällt. Die Tochter des
europäischen Schutzherren der Protestanten, Kristina – 1632, mit knapp sechs
Jahren noch unmündig – wird später, 1654, als Königin abdanken, zum
Katholizismus konvertieren und ihr weiteres turbulentes Leben bis zum Tod
1689 von Rom aus führen. Als Königin lädt Christine ihren langjährigen
Briefpartner, den großen französischen Philosophen René Descartes, der
wiederum im freieren Holland Zufl ucht vor seinen Zensoren gesucht hatte,
1649 nach Stockholm ein, allerdings nur für wenige Monate, denn der Franzose
stirbt im Februar 1650 in dem unwirtlichen Klima. Der
heranwachsende Baruch Spinoza hört mit Interesse davon; so weit kann man es
als Philosoph also bringen. Mehr noch wecken Descartes’ »klare und genaue
Ideen« Baruchs Aufmerksamkeit und bescheren uns eine Zusammenfassung von
dessen »Prinzipien« aus Spinozas Feder (1663). Der Franzose gilt schon zu
seiner Zeit als bahnbrechender Denker und uns als Begründer der
neuzeitlichen Philosophie. Doch als Spinoza im Frühjahr 1673 im Namen des
Kurfürsten Karl Ludwig von der Pfalz ein Lehrstuhl der Philosophie an der
Universität Heidelberg angeboten wurde, lehnt Spinoza ebenso ab, als er im
selben Jahr Ludwig XIV., dem »allerchristlichsten « und scheinbar
allmächtigen König von Frankreich (geboren 1638, Regierungsantritt 1643, Tod
1715) gegen ein Jahrgeld ein Buch widmen
Einleitung 13
sollte. So weit wollte es der mittellose Baruch Spinoza gar nicht bringen.
Er mochte sich nicht binden und blieb lieber arm.
Die politischen Ereignisse und Entwicklungen seiner Zeit lassen Spinoza
nicht unbeteiligt. Zu den Parteienkämpfen in den Vereinigten Niederlanden,
dem Wechsel zwischen republikanischer Herrschaft (unter dem Ratspensionär
Johan de Witt) und dem königlichen Haus Oranien nimmt er Stellung,
theoretisch-abstrakt, zurückhaltend in seinen Traktaten, dem
»Theologisch-politischen« und dem unvollendeten »Politischen «; das
Wichtigste ist ihm die Freiheit, seine zu philosophieren, die allgemeine der
Bürger zum friedlichen Zusammenleben. Mit Sorge beobachtet er die neuen
außenpolitischen Gefährdungen der Generalstaaten: die Begehrlichkeiten des
französischen Königs, Ludwigs XIV. (geboren 1638, gestorben 1715); das
Ringen der Holländer – die um 1650 mit rund 16.000 Schiffen die größte
Handelsfl otte besitzen – mit England um die Seeherrschaft, mit Niederlagen
und erzwungenem Friedensschluss – aus Nieuw-Amsterdam wird 1664 New York –
sowie das Vorrücken der muslimischen Türken des Osmanischen Reiches gegen
Wien.
Der menschliche geist regt sich Aber noch anderes geschah in jenem Jahr
1632: In Amsterdam malt Rembrandt nicht noch ein weiteres frommes Bild,
sondern die »Anatomie des Dr. Tulp«, das revolutionäre Gemälde über eine
Leichenöffnung; ein revolutionäres Thema, die Verbesserung der medizinischen
Wissenschaft und der menschlichen Gesundheit betreffend. In der Universität
Leiden, 46 Kilometer von Amsterdam entfernt, wird eine Sternwarte mit
Teleskopen errichtet. Der italienische Mathematiker, Physiker und Astronom,
Galileo Galilei, veröffentlicht seinen »Dialog über die zwei wichtigsten
Weltsysteme, das Ptolemäische und das Kopernikanische«, mit der Bevorzugung
des letzteren, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, sondern die Erde
mit all ihren Menschen um die Sonne. Galilei hatte von dem 1608 in Holland
erfundenen – gerade für militärische Zwecke (auf See!) nutzbaren – Fernrohr
erfahren, schliff daraufhin selbst Linsen – damit sollte sich auch Spinoza
später einen Teil seines Lebensunterhalts verdienen – und beobachtete mit
diesem neuen Gerät den Himmel.
In England wird der Philosoph John Locke geboren (gestorben 1704). Er will
dem Verstand auf die Sprünge helfen mit dem beständigen Verweis auf
Erfahrungen, dem »Empirismus«; ähnlich wie sein Landsmann Thomas Hobbes
(1588 bis 1679) in dem berühmten »Leviathan« für das
Der menschliche geist regt sich 14
Zusammenleben in Gemeinschaft durch den Gesellschaftsvertrag. Beide
Engländer beeinfl ussen Spinoza, und alle drei sollten mit ihren Werken auf
dem »Index« der verbotenen Bücher landen, Hobbes schon 1649. In Nordamerika
gründet der englische Lord Baltimore die religiös-tolerante Kolonie
Maryland. Wem es in Europa zu unduldsam wurde, konnte nun ausweichen,
wenigstens theoretisch.
Die Gemeinde der Synagoge
Aber Baruch wächst in Amsterdam auf, in einer jüdischen Familie, in der
Gemeinde einer Synagoge, in der Talmud-Schule, umgeben von Heiligen
Schriften und dem Streit der gelehrten Ausleger. Bekannte beschreiben ihn
als »von kleiner Statur, schönen, wohlproportionierten, bleichen
Gesichtszügen, dunkler Haut, schwarzen Haaren, kleinen, lebhaften Augen,
stets höfl ich, von großem Charme«.
Seine Vorfahren hatten als Sephardim – als dem Westen Europas angehörende
Juden – Portugal verlassen müssen. Nach der Eroberung von Granada, der
letzten Machtbasis des Islam in Spanien, im Jahr 1492, wollten die neuen
christlichen Alleinherrscher auf der Iberischen Halbinsel, Isabella von
Kastilien und Ferdinand von Aragon, die »Katholischen Könige«, reinen Tisch
mit Andersgläubigen, Muslimen und Juden, machen. Als »Marranos« (Schweine)
sah man die Juden an, sie selbst nannten sich »Anussim«, die Gezwungenen.
Den Moriscos, den muslimischen Nachkommen der einstigen arabischen Eroberer,
erging es nicht besser in den Verfolgungen. Doch die Spanier schadeten sich
selbst, indem sie sich tüchtiger Leute, betriebsamer Händler und fl eißiger
Handwerker beraubten. Jahrzehnte später pro- fi tierte Amsterdam davon, von
der Familie de Spinoza.
Die jüdische »Diaspora«, die »Zerstreuung« der Juden unter den Völkern, nach
der Zerstörung Jerusalems im Jahr 79 nach Christus unter dem römischen
Feldherrn und späteren Kaiser Titus, die Unterdrückungsmaßnahmen im
Römischen Reich, das Jahrhunderte lange leidvolle Mitleben unter Fremden in
den Nationen Europas, denen sie sich nicht anpassen wollten oder konnten,
das Festhalten an den Heiligen Schriften der Bibel und das Leben nach
eigenartigen Vorschriften, die Haarspaltereien der gelehrten Rabbiner, die
Spannungen und Spaltungen in den Gemeinden – all das hat das Jüdische
geprägt. Die Untaten des Antisemitismus, des Misstrauens, der Feindschaft,
der Verfolgungen gegen Juden, gipfelnd in dem Völkermord des 20.
Jahrhunderts durch eine rassistisch- atheistische Ideologie, sind
unterschieden nach Tätern und Opfern und ketten doch alle aneinander.
Einfühlsame Biographen haben für die Familie Spinoza auf dem Weg von
Portugal nach Amsterdam Jahrzehnt für Jahrzehnt und für den jungen Baruch in
der aufstrebenden holländischen Metropole mit rund 130.000 Einwohnern seit
1632 Jahr für Jahr Genaues beschrieben. So etwa Theun de Vries oder Wolfgang
Bartuschat und andere früher, vor allem jedoch der italienische Experte
Filippo Mignini, der im Frühjahr 2007 eine glänzende Ausgabe der »Opere«,
der Gesamtwerke Spinozas, in italienischer Sprache vorgelegt hat und sein
Vorwort unter die Überschrift stellt »Un segno di contraddizione, Ein
Zeichen des Widerspruchs«. Das ist der Punkt. Baruch Spinoza begegnet uns
nicht als klagender, mit seinem und dem Geschick seiner Familie sowie seines
Volkes hadernder Jude, sondern als moderner Zweifl er, als Widersprecher,
der mit intellektueller Frühreife an den Grundlagen der damaligen
Selbstverständlichkeiten rüttelt, der religiösen und philosophischen. Schon
als Zwanzigjähriger beeindruckt er intellektuell und sammelt einen kleinen
Anhängerkreis um sich. Mit 24 Jahren – nach den Regeln der Zeit noch nicht
einmal volljährig; das wurde man mit 25 – muss Baruch für seine denkerische
Selbständigkeit schon die Konsequenzen tragen. Zuerst dringt ein
»fanatischer Jude«, so Mignini, mit einem Messer auf ihn ein. Dann, am 27.
Juli 1656, erfolgt der Bruch mit dem Volk, der Religion seiner Väter. Nicht
von ihm vollzogen, sondern ihm auferlegt.
Verfluchung und Ausschluss aus der jüdischen Gemeinschaft
Die offizielle Erklärung des Ausschlusses aus der jüdischen Gemeinschaft, in
der Synagoge im Rahmen einer feierlichen eindrucksvollen Zeremonie in
Abwesenheit von Spinoza verkündet, fi ndet sich noch in den Amsterdamer
Stadtarchiven in portugiesischer Übertragung. Darin heißt es, dass es einem
kalt den Rücken herunter läuft: »Auf Geheiß der Engel und nach Anordnung der
Heiligen exkommunizieren wir, verbannen, verfl uchen und verdammen wir
Baruch de Espinoza … Er sei verfl ucht des Tages und er sei verfl ucht des
Nachts, verfl ucht, wenn er ruht, verfl ucht, wenn er aufsteht, verfl ucht,
wenn er ausgeht, verfl ucht, wenn er heimkehrt! Der Herr wird ihn nicht
verschonen. Im Gegenteil, der Zorn des Herrn und seine Eifersucht wird über
diesen Menschen herabkommen. Hütet euch, dass niemand mündlich oder
schriftlich mit ihm verkehre, niemand ihm einen Gefallen erweise, niemand
unter einem Dach mit ihm wohne, niemand sich ihm nähere, niemand eine von
ihm verfasste Schrift lese!«
Das eine war die soziale, menschliche Ausgrenzung, die der junge Spinoza
vielleicht schon mehr und mehr durch die Auswahl seiner Freunde und Anhänger
vorweggenommen hatte. Das andere war jedoch, dass es für ihn diesen
zürnenden, eifersüchtigen, rächenden, strafenden Gott der jüdischen Bibel,
des Alten Testaments, nicht mehr gab, nach strenger Deduktion nicht mehr
geben konnte.
War es das, was die Juden so gegen einen Minderjährigen aufgebracht hatte?
Hatte es darin seinen Sinn, dass es von diesem Bento Spinoza in Briefen und
Zeitberichten aus Amsterdam nun hieß, er sei »zuerst Jude, dann Christ und
nun (fast) Atheist«? Weder Jude, noch Christ, noch überhaupt gläubig – das
war im 17. Jahrhundert entschieden zu wenig, ja gefährlich. Wie der junge
Spinoza an dem Schicksal von jüdischen Freigeistern, etwa dem Freitod des
Uriel da Costa (1640), erfahren hatte. Der Gott der Väter und der Gott des
Philosophen Im Juli 1656, als die Vorsteher der Synagoge die intellektuelle
Auswanderung des jungen Baruch aus der Religion seiner Vorfahren offi ziell
machten, hatte Baruch noch kein Werk veröffentlicht. Er hatte nur
nachgedacht und mit Freunden und Bekannten, im vertrauten Kreis
freigeistiger Kaufl eute, der »Kollegianten«, über seine revolutionären
Ideen gesprochen. Da beginnt er, sein Ideen-Haus zu bauen, langsam, alles
gründlich prüfend, wie er immer wieder hervorhebt, das Für und Wider ohne
Eigeninteresse hin und her erwägend und dann bei dem als sicher Erkannten
bleibend, darauf weiter bauend, Schicht um Schicht, »ordine geometrico«,
nach geometrischer Ordnung vorangehend, wie er der »Ethik« als Untertitel
beigibt. Was einmal stimmt, muss immer, für den Rest seines Ideen-Lebens
stimmen, so wie in der Geometrie, etwa bei der Summe der Dreiecks-Winkel,
ewige Gesetze gelten, von der Vernunft erkennbar.
So ist sein »Haus« vom jugendlichen Anfang an organisch gewachsen, ein in
sich stimmiges Gedankengebäude; darüber ist sich die Spinoza- Forschung
einig, auch wenn die »Ethica« und andere Werke erst nach seinem Tod (1677)
erscheinen – und wenige Monate später als »profan, atheistisch und
blasphemisch« verboten werden. Mit 20, 25 Jahren trägt Baruch Spinoza
bereits jene Ideen in sich, die er später weiterbildet und schließlich
schriftlich für alle Zeit festhält.
So wird seine beherrschende Erkenntnis – und die Meister der Synagoge und
der Kirchen verstehen ihn darin ganz richtig als »Zeichen des Widerspruchs«
–, dass der Gott seiner Väter, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, von
Moses und den Propheten, der Gott der Bibel,
Einleitung 17
des Alten und des Neuen Testaments, wie die Christen sagten, der Gott und
Vater des Jesus von Nazareth, der Gott und die Götter aller anderen
Religionen nicht sein Gott sein könne. Nicht der – wie es in der
philosophischen Tradition des europäischen Kulturkreises, von den Griechen
über die christlichen Kirchenväter der Antike und die Lehrer des
Mittelalters bis zu den Mystikern und Scholastikern der neueren Zeit hieß –
»über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann«. Zu kurios,
unberechenbar, eigensinnig und parteiisch führte sich dieser Jahwe auf, der
nach jüdischem Gebot noch nicht einmal beim Namen genannt werden durfte,
aber der doch von ihm, von Baruch, gedacht werden musste, mit seinem
Verstand – nicht kindlich geglaubt, weil das nach der Bibel so Herkommen
war.
Mit diesem Gott der Heiligen Schriften, der Juden und der Christen, kommt
Baruch Spinoza nicht zurecht. Zum einen, weil er nicht seiner großen
philosophischen Idee von Gott genügt, jener Idee, die er vor allem im ersten
Teil seiner »Ethik« entfaltet: höchst abstrakt, doch für jene, die ihm zu
folgen bereit und imstande sind, von ungeheurer Sprengkraft. Zum anderen,
weil er die Texte kritisch las, ihnen die Aura ehrfürchtiger Unantastbarkeit
nahm. Er ließ nicht mehr den Glanz göttlicher Offenbarung gelten und
verweigerte das Joch intellektueller Unterwerfung. Das war nicht Willkür,
einfach blasphemische Glaubensverweigerung, wie die frommen Kritiker der
Synagoge und die offi ziellen Vertreter der protestantischen Kirche in
Amsterdam ihm vorwarfen.
Die Heiligen Schriften – mit Verstand betrachtet
Es war moderne Bibelkritik, gegründet auf eine vertraute Kenntnis des
Hebräischen, eine der ersten in Europa, die sogleich als Synagogen- und
Kirchen-feindlich abgelehnt wurde. Sie wirkte wie bittere Medizin für den
Glauben, übel schmeckend, doch heilsam. Sie setzte sich durch die
Jahrhunderte gegen vielfache Widerstände nur langsam durch, in den
protestantischen Kirchen schneller als in der katholischen. Aber sie setzte
sich durch, weil im abendländischen Europa kein Kraut gewachsen war gegen
rationale Argumente, gegen wissenschaftliche Erkenntnisse. Der Islam
hingegen kennt keinen ähnlichen Prozess mit dem Koran; er ist Gottes Wort
aus dem Mund des Propheten. Schluss! Und wehe, es wagt jemand zu
widersprechen, dem Koran und den ihn auslegenden Autoritäten! Dann drohen
ihm Verdammung, Verfolgung und Tod. Das muslimische Wort Gottes hängt wie
ein drohendes Schwert über der Welt des 21. Jahrhunderts. Nicht nur in
Amsterdam.
Die Heiligen Schriften – mit Verstand betrachtet
Baruch widersprach dem »Wort Gottes«, dem vermeintlichen oder geglaubt
wirklichen. Im 17. Jahrhundert! Als gerade erst die Reformatoren, Luther
(1483 bis 1546), Zwingli (1484 bis 1531) und Calvin (1509 bis 1564), den
christlichen Glauben allein auf das Wort Gottes, die Heilige Schrift (»Sola
Scriptura«) gegründet und damit einen Aufschwung der Freiheit in Europa,
eine bürgerliche Revolution in den nunmehr protestantischen Gesellschaften
ausgelöst hatten, allen voran die Niederlande und Amsterdam.
Spinoza widersprach im 17. Jahrhundert! Als die römisch-katholische
Kirche durch eine Gegenreform mit vielerlei Mitteln die Autorität für Papst
und Bischöfe in der anderen Hälfte Europas zurückgewinnen wollte und im Fall
des Galileo Galilei den Wortsinn der Bibel gegen naturwissenschaftliche
Forschungen verteidigen zu müssen glaubte. Spinoza unterstellt das Wort
Gottes (in) der Bibel seiner Vernunft. Das ganze Programm dieser Bibelkritik
hat Spinoza im ersten, 15 Kapitel umfassenden Teil seines
»Theologisch-politischen Traktats« (Tractatus theologico-politicus)
dargelegt, der, lange vorbereitet, 1670 anonym in Amsterdam unter einem fi
ngierten (Hamburger) Verleger erscheint. Es ist, als ob er mit der Kritik an
der falschen Religion den Raum frei schlägt, auf dem dann sein Haus Gottes
errichtet wird, nach geometrischer Ordnung, aus der die Ideen seines
absoluten Gottes erwachsen. Der zweite, viel kürzere, nur fünf Kapitel
zählende politische Teil des Traktats gipfelt in einem Plädoyer für die
Gedankenfreiheit als der Grundlage eines gerechten, rechtmäßigen Staates,
und das im Zeitalter des beginnenden Absolutismus, ein Jahrhundert vor der
Aufklärung, lange vor der Französischen Revolution von 1789.
Die »Vorrede« zum Traktat ist eigentlich dessen Kurzfassung. Sie kann als
Ur-Manifest der europäischen Religions-, Kirchen- und Bibel-Kritik gelten –
weshalb sie in diesem Buch der »Ethik« vorangestellt ist. Schon in den
ersten Sätzen sagt Spinoza dem Aberglauben den Kampf an: »Wenn die Menschen
alle ihre Angelegenheiten nach bestimmtem Plan zu führen imstande wären oder
wenn das Glück sich ihnen jederzeit günstig erwiese, so stünden sie nicht im
Banne eines Aberglaubens. Weil sie aber oft in solche Verlegenheiten
geraten, dass sie sich gar keinen Rat wissen, und weil sie meistens bei
ihrem maßlosen Streben nach ungewissen Glücksgütern kläglich zwischen Furcht
und Hoffnung schwanken, ist ihr Sinn in der Regel sehr dazu geneigt, alles
Beliebige zu glauben.« Gegen diesen falschen unvernünftigen Glauben richtet
sich das Denk-Werk Spinozas. |