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Vorwort

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Vorwort Vorwort

«Jerusalem», schrieb Herman Melville 1860 nach einem Besuch in

der Stadt, «wird von einem Heer von Toten belagert.» Siebenunddreißigmal

soll die Stadt zwischen ihrer Gründung und der Einnahme

ihres uralten Herzstücks durch die Israelis im Jahr 1967 belagert

worden sein. Als Arthur Koestler während des Kriegs von 1948 dort

war, trieb ihn das «internationale Gezanke, Gefeilsche und Vermitteln

» zur Verzweiflung. «Keine andere Stadt hat über die Jahrhunderte

hin derart stete Wellen des Tötens, Vergewaltigens und unheiligen

Elends verursacht wie diese Heilige Stadt», schrieb er damals.1 In

grauenerregender Zahl sind Jerusalemer Bürger seit diesen melancholischen

Äußerungen Melvilles und Koestlers Gewalttaten zum Opfer

gefallen. Besonders die Zeit seit 1967 war eine einzige Abfolge terroristischer

Bombenanschläge, Unruhen, Rebellionen und Unterdrückungsmaßnahmen.

In der Gewalt schlägt sich der Mangel an einer auf Konsens angelegten

Politik nieder. «Die auf ewig vereinigte Hauptstadt» des Staates

Israel ist die am tiefsten gespaltene Hauptstadt in der ganzen

Welt. Ihre arabischen und jüdischen Einwohner wohnen in unterschiedlichen

Bezirken, sprechen unterschiedliche Sprachen, besuchen

unterschiedliche Schulen, lesen unterschiedliche Zeitungen, sehen

unterschiedliche Fernsehprogramme, feiern unterschiedliche

Feiertage, hängen an unterschiedlichen Fußballvereinen – leben

kurzum in nahezu jeder Hinsicht unterschiedliche Leben. Siebzig

Prozent der Israelis gaben vor ein paar Jahren in einer Meinungsumfrage

zu, noch nie eines der arabischen Gebiete Jerusalems außerhalb

der Altstadt betreten zu haben. Araber kommen in die jüdischen

Viertel nur, um die ihnen innerhalb der israelischen Wirtschaft

zugewiesenen Rollen zu erfüllen, als Bauarbeiter, Kellner oder sonstige

Arbeiter, obwohl sie nach und nach aus derlei Jobs durch eine

Reservearmee nicht-jüdischer Arbeitsimmigranten hinausgedrängt

werden: von Russen, Filipinos, Türken, Rumänen, Ghanaern und

anderen, die in den Augen ihrer Arbeitgeber ein geringeres Sicher-

heitsrisiko darstellen. In Jerusalem gibt es zwischen Arabern und Juden

viel weniger sozialen Austausch als zwischen Schwarzen und

Weißen in Johannesburg. Heiraten über die Trennungslinie hinweg

sind rechtlich kompliziert und gesellschaftlich tabu. Vor allem aber

leben Araber und Juden mental in verschiedenen Welten, vergiftet

von fundamental unterschiedlichen ideologischen Axiomen, infiziert

von abgrundtiefem kollektivem Verdacht gegeneinander und beherrscht

von einer gegenseitigen Angst, die wiederholt in hasserfüllter

Aggression explodiert ist.

In ihrer heutigen Form enthält die Jerusalemfrage zwei separate

Elemente: die Souveränität über die Stadt und den Status der Heiligen

Stätten. Um Ersteres streiten zwei nationale Gruppen, um das andere

drei Religionen. Freilich erfasst eine solche zu Analysezwecken vorgenommene

Unterscheidung nicht ganz die wirklichen Verhältnisse.

Die Fragen der Souveränität und Heiligen Stätten, von Nationalismus

und Religion, sind in Jerusalem mehr als irgendwo sonst auf der

Welt unentwirrbar ineinander verknotet. Wäre es anders, so hätten

sich die Dinge vermutlich längst geklärt und erledigt.

Die Auseinandersetzung um die heilige Stadt ist ein Mikrokosmos

größerer, globaler Konflikte und birgt selbst wiederum eine, wie es

scheint, endlose Reihe von immer kleiner werdenden Zänkereien. Jerusalem

liegt am Kreuzungspunkt des historischen Antagonismus

zwischen den Ost- und Westkirchen. Innerhalb der orthodoxen Kirche

stritten die Griechen gegen die Araber, die Russen gegen die Griechen,

die «Roten» gegen die «Weißen». Die Protestanten standen ihnen

nicht nach, wenn sie die Katholiken herausforderten, ebenso wenig

die Jesuiten in ihrem Kampf gegen die Ansprüche der

Franziskaner. In den Worten von Jerusalems erstem Gouverneur unter

der britischen Mandatsverwaltung, Sir Ronald Storrs: «Die örtlichen

und einheimischen christlichen Gemeinden brauchten –

schlimm genug! – für ihre brudermörderischen Tumulte keine Provokation

von außen.»2 In Jerusalem waren alle drei großen Religionen aufgrund

sektiererischer Rivalitäten, die den koptischen Mönch gegen

den äthiopischen Priester, den Oberrabbiner der Aschkenasim gegen

den der Sepharden, den von Palästinensern berufenen Mufti gegen

den jordanischen aufbrachten, in verschiedene Lager gespalten. Und

so ging es fast endlos weiter.

Das odium theologicum ist selten auch nur den Namen wert, denn

die Streitfragen waren oftmals eher materieller als geistiger Natur.

Kontroversen über Probleme der Art, wer wie viele Kerzen welchen

12 Vorwort

Weg zur Grabeskirche hinab tragen darf – und zu welcher Stunde

und an welchem Tag –, haben jahrhundertelang zu Handgreiflichkeiten

zwischen Armeniern, Griechen und Römern geführt. Als wollten

sie es den Christen nachtun, haben Juden und Araber während des

vergangenen Jahrhunderts bitteren, oftmals mörderischen Streit über

Fragen ausgetragen wie die, ob Bänke an der Klagemauer aufgestellt

werden können oder ein Tunnel unter dem Tempelberg hindurch getrieben

werden darf.

In mancher Hinsicht lässt sich die Jerusalem-Frage mit der

Rom-Frage vergleichen, die bekanntlich länger als ein halbes Jahrhundert

die europäische Diplomatie erregte und von den europäischen

Regierungen mit Sorge beäugt wurde. Als das moderne Königreich

Italien im Jahre 1861 aus einem Gemisch von Krieg und

Diplomatie entstand, blieb Rom unter der weltlichen Herrschaft des

Papstes und wurde nicht zum Bestandteil des neuen Nationalstaats;

bis zum Vorabend des Zusammenbruchs des Zweiten französischen

Kaiserreichs im Jahre 1870 beschützte eine französische

Garnison die päpstliche Souveränität. Am 20. September 1870 zogen

italienische Soldaten in die Stadt ein, womit das Risorgimento

vollendet wurde und seine Krönung erlebte. Danach wurde die Ewige

Stadt zur Hauptstadt des Königreichs, dem aber der Papst, der ein

Italiener und das kirchliche Oberhaupt nahezu aller Italiener war,

die Anerkennung verweigerte. Das hatte zur Folge, dass die nachfolgenden

Päpste praktisch wie Gefangene im Vatikan lebten, bis am

11. Februar 1929 der Lateranvertrag abgeschlossen wurde, der erstmals

eine Grundlage für die gegenseitige Anerkennung zwischen

dem (inzwischen faschistischen) Königreich Italien und dem souveränen

Vatikanstaat herstellte.

Bei der römischen wie bei der Jerusalem-Frage ging es um Fragen

der geistigen und weltlichen Autorität, des umstrittenen Orts der

Hauptstadt des neuen Nationalstaats und der Beziehung zwischen

einer heiligen Stadt und einem weltweiten Glauben. Die Hassliebe

zwischen den führenden Männern des Risorgimento und Roms lässt

sich in vieler Hinsicht mit der Mischung aus Abscheu und Stolz vergleichen,

die die frühen Zionisten bewegte. Mutatis mutandis hätte

Giuseppe Mazzinis Rechtfertigung der Verteidigung der römischen

Republik im Jahre 1849 durchaus auch vom israelischen Ministerpräsidenten

David Ben Gurion vorgetragen worden sein können, als

ein Jahrhundert später die Araber das israelische Jerusalem belagerten:

Vorwort 13

Als Sitz einer mittlerweile erloschenen Glaubensform und nur von außen

mittels Heuchlerei und Verfolgung aufrechterhalten … seine Menschen, obschon

voll edlen und mannhaften Stolzes, zwangsläufig unwissend …, wurde

Rom von manchen mit Abneigung betrachtet, von anderen mit verachtungsvollem

Gleichmut. Ein paar Einzelfälle ausgenommen, hatten die Römer dieses

Ferment, dieses Verlangen nach Freiheit geteilt, das unablässig die Romagna

und die Marken erregt hatte. Es war deshalb äußerst wichtig, Rom

wiederzuerlangen; es ein weiteres Mal auf den Gipfel zu stellen, auf dass die

Italiener wieder lernen könnten, es als den Tempel ihres gemeinsamen Landes

zu betrachten.3

Man ersetze die Romagna und die Marken durch Tel Aviv und die

Jesreelebene, den Vatikan durch den Tempelberg und das von Mazzini

so verachtete römische Establishment durch den «alten Jischuw»

(die präzionistische Judengemeinde in Palästina), und schon hat man

eine exakte Aussage über die Haltung der frühen Zionisten gegenüber

Jerusalem.

Die Unterschiede sind freilich größer als die verblüffenden Parallelen.

Bei Rom ging es nur um eine Religion und eine Kirche; die Jerusalem-

Frage betrifft drei Religionen und eine Fülle von Glaubensrichtungen,

besonders auf Seiten der Christen. In Rom sah sich ein einziger

Staat einem einzigen religiösen Potentaten gegenüber; auf

Jerusalem hingegen haben während des letzten Jahrhunderts mehrere

Staaten Rechtsansprüche erhoben. Und im Gegensatz zu den Divisionen

des Papstes, die – nur wenige, aber vergleichsweise diszipliniert

– zur Verteidigung des Vatikans bereit stehen, hat Jerusalem gewaltige

Formationen streitlustiger Muftis, Rabbis und Kleriker mobilisiert.

Vor allem aber – und sogar noch mehr als Rom – liegt

Jerusalem im Zentrum eines politischen Konflikts, der über seine Einwohner

hinaus große Menschenmassen in vielen Kontinenten einbezogen

hat.

Heute ist Jerusalem mehr denn je eine geteilte Stadt. Bestünden

noch Zweifel an der Hohlheit der Behauptung, man habe seit 1967

die Stadt unter ausschließlich israelischer Souveränität vereinigt, ist

es seit dem Ausbruch der «Al-Aqsa-Intifada» am 28. September 2000

damit endgültig vorbei. Danach ging der unsichtbare Vorhang zwischen

den arabischen und jüdischen Vierteln wieder herunter; später

fand er sogar in Form einer Mauer konkreten Ausdruck. Palästinensische

und israelische Friedensfreunde waren eingeschüchtert und

vom Missklang der Hassprediger überwältigt, und auf beiden Seiten

kehrten die Politiker wieder zu ihrer alten Gewohnheit zurück, anein-

14 Vorwort

ander vorbeizureden statt miteinander. Ob all dies ein zeitweiliger

Abweg war oder zu einer tieferen historischen Logik gehört, bleibt

unentschieden. Gewiss ist aber – so will dieses Buch zeigen –, dass der

Kampf um Jerusalem nur zu einem guten Ende gebracht werden

kann, wenn eine echte Anerkennung der Wirklichkeit und Legitimität

seiner Pluralität heraufdämmert, geistig, demographisch und – allen

Ansprüchen auf alleinigen Besitz zum Trotz – auch politisch.

Psychiater, die sich in der Stadt auskennen, haben ein «Jerusalem-

Syndrom» diagnostiziert, das Besucher (und manche Autoren,

die sich mit diesem Thema befassen) befällt und bei ihnen zu hochfliegenden

Phantasien und trügerischen mystischen Erfahrungen und

Kräften führt. Dass, wie es 1967 ein entnervter Diplomat formulierte,

«Jerusalem nicht einfach nur ein Problem, sondern ein Gefühl ist4,

muss selbstverständlich anerkannt werden. Vor allem war Jerusalem

schon immer ein Gegenstand religiöser Emotionen. Bei Juden, Christen

und Muslimen gibt es eine tiefe Jerusalem-Verehrung, und der

Historiker hat die Pflicht, sie wahrzunehmen und zu verzeichnen –

ohne ihr zu erliegen. Vieles von dem, was im Lauf der Jahrhunderte

über Jerusalem geschrieben worden ist, war von religiösem Eifer motiviert.

Häufig ist der echte Glaube unendlich vieler Muslime, Christen

und Juden für blanke politische Ziele ausgebeutet worden, sowohl

in polemischer Literatur wie im Alltagsleben. Eines der

Hauptanliegen dieses Buches ist es, aufzuzeigen, wie Jerusalem als

«ein Gefühl» von Politikern aller Glaubensrichtungen instrumentalisiert

worden ist – auch von solchen «ohne bestimmten Glauben», wie

der aus Wales stammende Baptist David Lloyd George seine Landsleute

charakterisierte, als er im Jahre 1917 die britische Mandatsherrschaft

über Jerusalem rechtfertigte.

Dies ist keine Geschichte Jerusalems, noch weniger eine Geschichte

des arabisch-israelischen Konflikts. Vielmehr versuche ich, meine

Aufmerksamkeit auf die «Jerusalem-Frage» in der internationalen

Diplomatie zu konzentrieren. Mit der Geschichte der Innenpolitik

und der Sozial- und Demographiegeschichte der Stadt habe ich mich

nur in dem begrenzten Umfang auseinandergesetzt, der zum Verständnis

der diplomatischen Probleme nötig ist. Heute steht Jerusalem

im Zentrum fortlaufender Verhandlungen zwischen Israel und

den palästinensischen Arabern und der weiter gespannten arabisch-

israelischen Beziehungen. Mindestens seit dem zweiten Viertel

des 19. Jahrhunderts stand es jedoch auch auf der Tagesordnung der

internationalen Diplomatie. Weshalb ist die Jerusalem-Frage allem

Vorwort 15

Anschein nach so unlösbar? Warum hat sie sogar die hartnäckige römische

Frage als Fokus des internationalen Disputs überdauert? Worum

handelt es sich bei den diversen Elementen, die so viele Mächte

und Interessen mobilisiert haben?Wie erklären sich die tiefen Gräben

zwischen den einzelnen Gruppen in der städtischen Bevölkerung?

Wird man je darüber hinwegkommen? Das sind die Probleme, mit

denen sich dieses Buch befassen wird.

16 Vorwort

Dank

Dank Dank

Einige Teile dieses Buches habe ich in einer sehr frühen Fassung im

Mai 1998 im Rahmen der Sherman Lectures an der Manchester University

vorgetragen. Für die Einladung zu diesen Vorlesungen bin ich

Professor Philip Alexander sehr dankbar.

Während der vergangenen beiden Jahrzehnte hatte ich das Glück,

für meine Forschungen zu diesem Thema von einer ganzen Reihe von

Institutionen finanziell gefördert zu werden: Während der frühen

Stadien des Projekts gewährten mir die United States Information

Agency, die British Academy, der University of Sheffield Research

Fund, die American Philosophical Society und der Brandeis University

Sachar Fund kleinere Stipendien. Zwei größere Stipendien des United

States National Endowment for the Humanities und des American

Council for Learned Societies halfen mir, während meiner Sabbatical-

Jahre die Arbeit daran voranzutreiben.

Auch von der Gastfreundschaft und den mir zur Verfügung gestellten

Möglichkeiten vieler Forschungseinrichtungen hat meine Forschung

profitiert. Ein großer Teil der Arbeit geschah, während ich

zwischen 1983 und 1993 assoziiertes Fakultätsmitglied am Center

for Middle East Studies der Harvard University war, und für die Unterstützung,

die ich dort erfuhr, möchte ich meinen Dank aussprechen.

Meine Erkundungen in den Ottomanischen Archiven in Istanbul

wurden durch einen Aufenthalt am American Research Institute

in der Türkei ermöglicht. Dankbar bin ich auch dem All Souls College

in Oxford, wo ich 1995 als Visiting Fellow an meinem Forschungsgebiet

arbeiten konnte, sowie dem Middle East Centre am St.

Antony’s College, ebenfalls in Oxford, mit dem ich viele Jahre fruchtbare

intellektuelle Verbindungen pflegen konnte. Außer den im Quellenverzeichnis

genannten Archiven möchte ich ganz besonders der

Brandeis University Library, dem British Institute for Archaeology in

Ankara, dem Institute for Jewish Policy Research, der Jewish National

and University Library in Jerusalem, der University of Glasgow

Library, der Pusey House Library in Oxford und der Mitchell Library

in Glasgow danken. Mike Shand von der Kartographieabteilung der

University of Glasgow hat alle Karten gezeichnet.

Mein Verleger Andrew Franklin war mir eine stete Quelle der Ermutigung

und ansteckenden Begeisterung. Penny Daniel und Lesley

Levene brachten das Manuskript in eine publikationswürdige Form.

Mein Literaturagent Bruce Hunter von David Higham Associates ist

in seinem Beruf unvergleichlich. Bei zahlreichen Fachleuten und Kollegen

stehe ich in so großer Schuld, dass ich hoffe, sie werden es mir

verzeihen, wenn ich ihnen meinen Dank in kollektiver Form ausspreche.

Er ist darum nicht weniger herzlich. Ganz besonders muss ich

aber des Beitrags zweier Bürger von Jerusalem gedenken, meiner

Mutter und meiner Schwester, die Irrtümer und verunglückte Formulierungen

aufgespürt und mir auch sonst auf vielerlei Weise geholfen

haben. Die größte Dankesschuld vor allen habe ich gegenüber meinem

Bruder, Professor David Wasserstein von der Universität Tel

Aviv, der das Manuskript gelesen und kommentiert hat, bevor es in

den Druck ging, und von dessen Rat und wissenschaftlicher Kompetenz

ich in jedem Stadium seiner Entstehung profitiert habe.

18 Dank

Prolog

Die Himmlische Stadt

Prolog: Die Himmlische Stadt

Jerusalem, so heißt es, ist eine drei Weltreligionen heilige Stadt. Aber

die Heiligkeit Jerusalems ist weder etwas Konstantes noch etwas Absolutes.

Ob man sie als von Gott vorbestimmte oder als von Menschen

zugeschriebene versteht – unbestreitbar ist, dass die Heiligkeit

der Stadt, als historisches Phänomen betrachtet, je nach den gesellschaftlichen,

ökonomischen und kulturellen Umständen und, vielleicht

sogar in erster Linie, den politischen Einflüssen größer oder geringer

angesetzt worden ist.

Drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam – beanspruchen,

Jerusalem als ihren heiligen Ort zu verehren; dass die Gläubigen

jeder dieser Religionen diesen Anspruch mit aller Ernsthaftigkeit

und Inbrunst erheben, steht außer Zweifel. Für die früheste der drei

ist eine Forderung nach der Wiederherstellung der Souveränität jedoch

erst seit sehr kurzer Zeit zum Bestandteil ihrer Frömmigkeit geworden.

Was ihre beiden Nachfolgereligionen anbetrifft, lässt sich

bei jeder von ihnen zeigen, dass die Heiligkeit Jerusalems eine späte

historische Entwicklung ist und nicht von Anfang an gegeben war. In

allen drei Fällen zwingt die Beweislage den nüchternen Betrachter zu

der Schlussfolgerung, dass sich die Heiligkeit der Stadt ebenso sehr

aus politischen wie aus rein spirituellen Quellen speist.

Das Jerusalem der Juden

Das Jerusalem der Juden

Zwei jüdische Stimmen. Die erste ist die des Ananus, des ältesten von

Jerusalems Priestern am Vorabend der Zerstörung des Zweiten Tempels

im Jahre 70. Dem Bericht seines Zeitgenossen Josephus Flavius

zufolge sprach er, mit Tränen in den Augen und den Blick auf den von

einer Gruppe jüdischer Extremisten, den Zeloten, besetzten Tempel

gerichtet, den Satz: «Wahrlich, es wäre gut für mich gewesen, ich

wäre gestorben, bevor ich das Haus Gottes von solchen Greueln er-

füllt und auf den durch Gebote abgegrenzten heiligen Plätzen die

Füße blutbefleckter Mörder herumtrampeln sehen muss.»1 Die zweite

ist die des Protozionisten Moshe Leib Lilienblum, der 1882 in einer

Schrift über den künftigen jüdischen Staat in Palästina erklärte: «Wir

brauchen weder die Mauern von Jerusalem noch den Jerusalemer

Tempel noch Jerusalem selbst.»2 Zwei jüdische Stimmen, zwei jüdische

Ansichten zu Jerusalem.

Es mag sein, dass, wie oft behauptet wird, zwischen dem Ende des

zweiten jüdischen Reichs und dem Aufkommen des Zionismus die

Juden tatsächlich ohne Unterbrechung im Heiligen Land anwesend

waren. Zuweilen hat man diese Behauptung sogar auf eine angeblich

stete Anwesenheit von Juden in Jerusalem ausgedehnt. So hat beispielsweise

Chaim Weizmann, Israels erster Staatspräsident, in einer

1948 in Jerusalem gehaltenen Rede von der «ununterbrochenen Kette

jüdischer Ansiedlung in dieser Stadt» gesprochen3; und eine am

1 4 . März 1999 vom israelischen Außenministerium veröffentlichte

Erklärung enthielt die Behauptung, «die jüdische Präsenz in Jerusalem

blieb stetig und fortdauernd».Was immer für Palästina im Allgemeinen

gelten mag, für Jerusalem ist die Beweislage für eine solche

Behauptung zweifelhaft. Während der gesamten Dauer der römischen

oder byzantinischen Herrschaft war es Juden verboten, die

Stadt auch nur zu betreten.4 Obwohl ein paar jüdische Pilger sie besucht

zu haben scheinen, gibt es für den Zeitraum zwischen dem 2.

und 7. Jahrhundert keinerlei Beleg dafür, dass es dort eine jüdische

Gemeinde gab.

Nach der ersten arabischen Eroberung der Stadt im Jahre 638 ließen

sich Juden wieder in Jerusalem nieder. Aus einer Anzahl Dokumente

in der Kairoer geniza (einem am Ende des 19. Jahrhunderts

aufgefundenen Bestand alter Handschriften) ergibt sich, dass Juden

in Ägypten, Syrien und Sizilien Geldzahlungen zugunsten des Unterhalts

armer Jerusalemer Juden sowie einer neben der Westmauer

(«Klagemauer») gelegenen Synagoge leisteten.5 Diese Abhängigkeit

von finanzieller Unterstützung von außen sollte zu einem bis in das

frühe 20. Jahrhundert fortdauernden Charakteristikum der Jerusalemer

jüdischen Gemeinde werden.

Als 1099 die Kreuzritter Jerusalem eroberten, warf man die Juden

ein weiteres Mal aus der Stadt.6 Erst nach 1260, unter der Regierung

der Mameluckensultane mit Sitz in Ägypten, kehrten sie nach und

nach zurück – obwohl sie, besonders wegen des Zionsbergs, mit den

dortigen Christen in Konflikt gerieten. Die Einnahme der Stadt durch

20 Prolog: Die Himmlische Stadt

die osmanischen Türken im Jahre 1516 sorgte für Verhältnisse, unter

denen sich Juden in Sicherheit ansiedeln konnten und es zu einem

langsamen demographischen Wachstum kam. Und doch schätzt man

für das 17. Jahrhundert die jüdische Bevölkerung auf nur tausend

Seelen, vielleicht zehn Prozent der Einwohnerschaft. Zu dieser Zeit

war das Hauptzentrum jüdischen Lebens, ganz gewiss aber des jüdischen

Geisteslebens, nicht Jerusalem, sondern Safed. Während eines

Großteils des 18. Jahrhunderts war es jüdischen Junggesellen und

Personen unter sechzig vom jüdischen «Istanbul-Ausschuss» verboten,

in Jerusalem ihren Wohnsitz zu nehmen. Das Verbot erfolgte in

der Absicht, die Größe der dortigen Gemeinde zu begrenzen, deren

Lebensunterhalt, wie man befürchtete, andernfalls nicht gesichert

werden könnte.7 Die frühesten Gemeindezeugnisse der Jerusalemer

Juden stammen – anders als andernorts entstandene Zeugnisse über

sie – erst aus dem 18. Jahrhundert. Jacob Barnai hat diesen Sachverhalt

folgendermaßen kommentiert: «Das Fehlen von Quellenmaterial

spiegelt das Fehlen einer organischen Kontinuität in diesen Gemeinden

während des Mittelalters und in der Osmanenzeit wider.»8

Obgleich die Besiedlung Jerusalems durch Juden demnach in der

vormodernen Zeit nur dünn und nicht von Dauer war, hatte die Stadt

im Denken und in der Symbolik des Judentums doch stets eine zentrale

Bedeutung: Jerusalem war für die Juden der Ort, wo die Bundeslade

zur Ruhe gekommen war, die Stätte des Tempels, die Hauptstadt

des Königtums und – bis in unsere Tage – Gegenstand des Wehklagens.

Wenn Juden beteten, wandten sie sich in Richtung Jerusalem,

das sie «den Nabel der Welt» nannten. Die biblischen Schriften, die

Halacha (die aus der Bibel abgeleitete verbindliche Auslegung der

Thora), die Haggada (die erbaulich-belehrende Erzählung biblischer

Stoffe in der talmudischen Literatur), die Tefilla (das jüdische Gebet),

die Kabbala (die jüdischen mystischen Schriften), die Haskala (die

hebräische Aufklärungsbewegung des späten 18. und 19. Jahrhunderts,

die vor allem in der Literatur und philosophischen Schriften ihren

Ausdruck fand) und das jüdische Brauchtum – sie alle feierten Jerusalems

alten Ruhm und Glanz und betrauerten seine Verwüstung.

Im mittelalterlichen Spanien verfassten Yehuda Halevi und Schlomo

ibn Gvirol ergreifende Gedichte voller Sehnsucht nach Jerusalem. In

Osteuropa war es Tradition, dass an der Ostwand eines jüdischen

Hauses ein Bild von Jerusalem hing. In unserer Zeit hat Schmuel Yosef

Agnon über die Erneuerung der jüdischen Kreativität in der Stadt

frohlockt, deren «Hügel ihre Pracht wie Banner gegen den Himmel

Das Jerusalem der Juden 21

breiten». Über alle Zeiten hinweg blieb Jerusalem für jüdische Pilger

das vorrangige Ziel. Vor allem aber war es für die Juden der Brennpunkt

messianischer Hoffnung und der Ort der schon bald erwarteten

Auferstehung.

Zugleich unterschied man im Judentum zwischen dem himmlischen

(Yerushalayim shel ma’la) und dem irdischen oder alltäglichen (shel

mata) Jerusalem. Die religiöse Verehrung der Stadt verstand man nicht

als etwas, das irgendeine Verpflichtung mit sich brachte, die jüdische

Souveränität über sie zurückzugewinnen. Im Gegenteil: Als der Gedanke

an eine solche Wiederherstellung während des 19. Jahrhunderts

erstmals diskutiert wurde, war die herrschende Meinung strikt dagegen.

Dabei blieb es bis zur Zerstörung des in Osteuropa gelegenen religiösen

Herzlandes der Judenheit zwischen 1939 und 1945. Mindestens

bis dahin opponierten die meisten orthodox-jüdischen Autoritäten

gegen den Zionismus, in dem sie eine blasphemische

Vorwegnahme des göttlichen Heilsplans sahen. Und in diesem Punkt

waren sie sich mit den meisten frühen führenden Männern des Reformjudentums

einig – obwohl der bloße Gedanke an eine Gemeinsamkeit

beide Gruppen entsetzt hätte. Orthodoxe Zionisten waren

eine vergleichsweise unbedeutende Strömung innerhalb der zionistischen

Bewegung – und ebenso innerhalb des orthodoxen Judentums.

Noch lange nach der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948 blieb

der Zionismus eine vorwiegend und oft aggressiv säkulare Bewegung.

Die frühen zionistischen Denker vermieden es meistens, Jerusalem

eine besondere Bedeutung beizulegen. Ahad Haam, der Vertreter des

«spirituellen» Zionismus, war von seiner ersten Begegnung mit den

Jerusalemer Juden geradezu abgestoßen; als er später nach Palästina

übersiedelte, zog er es vor, sich in Tel Aviv niederzulassen. Theodor

Herzl, der Begründer des politischen Zionismus, war vom Dreck und

Gestank in Jerusalem schockiert, als er 1898 die Stadt erstmals besuchte.

9 Als Arthur Ruppin im Jahre 1908 das erste Palästinabüro der

Zionistischen Bewegung einrichtete, geschah dies in Jaffa und nicht

in Jerusalem. Die frühen zionistischen Siedler in Palästina seit den

achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts und vor allem die sozialistischen

Zionisten, die nach 1904 in großer Zahl eintrafen, blickten auf

Jerusalem und all das herab, wofür es in ihren Augen stand – nämlich

Obskurantismus, religiöser Eifer und Schmutz. Besonders verachteten

sie, was sie als das Parasitentum der Jerusalemer Juden und deren

Abhängigkeit von der Challuka (den wohltätigen Gaben) ihrer Religionsgenossen

in Europa und Nordamerika ansahen.10 David Ben

22 Prolog: Die Himmlische Stadt

 

hagalil.com 06-12-07











 

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