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Die Geschichte des Volks des Buches spiegelt sich auch in der Geschichte seiner Bücher...

...daß heute in Deutschland wieder ein neues jüdisches Gebetbuch erscheint, daß Gebete für den G'ttesdienst in neuen Gemeinden neu interpretiert und verlegt werden, zeigt uns, daß das Judentum in Deutschland lebendig ist.

Ein Vortrag von Rabbiner Prof. Dr. Jonathan Magonet, anlässlich des Erscheinens des ersten vollständigen neuen Gebetbuchs in Deutschland nach der Shoah:

Ein Gebetbuch ist in gleicher Weise der öffentlichste und der intimste Ausdruck jüdischer Wertvorstellungen und Erfahrungen. Es ist der beste Zugang, um einen Einblick in die Seele des jüdischen Glaubens zu erhalten, aber in gleicher Weise auch ein Zeugnis der täglichen Kämpfe, die in dieser Seele stattfinden. Als Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung finden sich in einer Liturgie die höchsten Ziele eines Volkes oder einer Glaubensgemeinschaft, aber in gleicher Weise auch die gespenstischen Spuren vergangener Streitigkeiten und Spaltungen. Gerade weil eine Liturgie eine öffentliche Bekundung und ein öffentliches Bekenntnis ist, bündelt sie das Selbstverständnis einer bestimmen Gemeinde zu einer bestimmten Zeit. Sie bestärkt die Verbundenheit derer, die sich selbst als Teil der jeweiligen Gemeinde fühlen. Gleichzeitig aber - sei es mit oder ohne Absicht - schließt sie andere aus, die sich dieser bestimmten Gemeinde oder dieser bestimmten Form des Gottesdienstes nicht anschließen können.

Weil die Liturgie aber die Einsichten vergangener Generationen widerspiegelt, die diese bestimmte Gemeinde geprägt haben, ist sie auch der Boden und manchmal das - allerdings oft gut getarnte - Schlachtfeld, auf dem neue Erfahrungen, Ansichten und Einstellungen durchdacht, erprobt oder in der Öffentlichkeit durchgesetzt werden. Dies ist der Grund, warum eine Liturgie vereint und trennt. Sie ist definierender Text, ein definierendes Geschehen.

In gleicher Weise, wie eine Liturgie gemeinsame Erfahrungen und Bekenntnisse möglich macht, so gibt sie auch den Rahmen für private Freiräume und persönliche Andacht. Die Stille zwischen den Worten ist so wichtig wie die Worte selbst.

Eine Liturgie - welchen Inhalts auch immer - kann Menschen von Kindheit an begleiten und zu bestimmten Zeiten eine besondere Bedeutung bekommen. Dadurch prägt sie sich tief in unser Herz und unser Bewusstsein ein. Sie symbolisiert für uns etwas Ewiges, Verlässliches und Sicheres, selbst wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Dies ist sogar dann der Fall, wenn die Texte an sich der Person, die sie spricht oder hört, wenig bedeuten, sei es, weil sie vor so langer Zeit entstanden sind, oder weil sie eine unbekannte Sprache verwenden oder weil der Rhythmus und die Sprachmelodie sie mit der Zeit zu einer Art Mantra werden ließen. Und doch: Verändert man ein Wort oder eine Silbe, eine Melodie oder die Reihenfolge bestimmter Gebete, dann wird man die heftigsten Gefühle auslösen. Da ist das Wissen wenig tröstlich, dass selbst die radikalsten Änderungen in einigen Jahren so vertraut sein werden, als hätten sie schon "seit Ewigkeiten" bestanden. In dem Moment, in dem etwas verändert wird, empfindet man es trotzdem nur als bedrohlich und betrüblich. Wir unterschätzen die Macht von Ritual und Liturgie auf eigene Gefahr.

Eine neue Liturgie für das deutsche Judentum

Mit dem Gesagten soll eine neue Liturgie für das deutsche Judentum vorgestellt werden. Sie ist nicht gänzlich neu, denn die Versionen der traditionellen Gebete, die hier verwendet werden, sind die, die zur Zeit auch in den Reformsynagogen Großbritanniens in Gebrauch sind. Diese wiederum sind durch eine ganze Anzahl von Entwicklungen beeinflusst worden, deren Ursprung sich bis zu den Anfängen der Reformbewegung in Deutschland vor fast zwei Jahrhunderten zurückverfolgen lässt. Man findet die Spuren des letzten und des Beginns dieses Jahrhunderts, in denen man etliche traditionelle Texte radikal verwarf, ebenso wie diejenigen der Zeit nach dem Krieg, als der starke Wunsch nach Re-Integration dieser Texte entstand.

Die Geschichte des liberalen Judentums ist aufs engste mit der Arbeit an einer Liturgiereform verbunden. Jüdinnen und Juden, die die Gettos verlassen hatten, sahen die Notwendigkeit, ihre Gottesdienste an die neuen Umstände anzupassen: Der Gottesdienst selbst sollte mit Ästhetik gestaltet sein. Musik, Orgel und Chor sollten die Schönheit der Gebete stärker zum Ausdruck bringen. Männer und Frauen sollten gleichberechtigt sein und nebeneinander sitzen. Die Texte, die gebetet werden, sollten verständlich sein, von daher konnten sie auch in der Landessprache gelesen werden (etwas, das bereits die rabbinischen Quellen erlaubt hatten [Sota 32a], das aber nur selten zur Kenntnis gekommen wird.) Einige theologische Ideen, wie die Auferstehung der Toten, die Wiedererrichtung des Tempels und seines Opferkultes und der Glaube an Engel erschienen nicht mehr zeitgemäß. Die Gefühle von Optimismus und Universalismus, die das 19.Jahrhundert weitgehend prägten, weckten bei emanzipierten Jüdinnen und Juden ein Unbehagen über den engen Nationalismus und Partikularismus in vielen Gebeten. Außerdem führte die Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den jüdischen Quellen zu dem Wunsch, die originalen, "reinen" Formen zu finden und die vermeintlichen Anreicherungen, die aufgrund der langen Erfahrung von Exil und Leid entstanden waren, zu entfernen.

Unter den buchstäblich Hunderten von neuen Gebetbüchern, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre dieses Jahrhunderts in Deutschland erschienen sind, bildeten sich zwei Grundtypen heraus: In einigen wurde versucht, das traditionelle Gebetbuch durch Kürzungen und Überarbeitungen zu verändern, dabei aber Form und weite Teile des Inhalts zu bewahren. Andere waren radikaler und eher Anthologien jüdischer Gebete, in der Regel in Deutsch zitiert, mit einigen "klassischen" Abschnitten wie das Shm'a in Hebräisch. Diese deutschen Neuerungen verbreiteten sich im ganzen westlichen Europa und in Amerika und bewirkten auch dort einen Ausbruch liturgischer Kreativität. Obwohl das deutsche liberale Judentum, wie so vieles andere, von den Nationalsozialisten vernichtet worden ist, schuf es sich weiterhin Ausdrucksmöglichkeiten, wo immer die Flüchtenden eine neue Heimat fanden. In Großbritannien wurde die Tradition der Gebetbuchreform in zwei religiösen Strömungen fortgesetzt: der Reformbewegung und der liberalen Bewegung. Die Gebetbücher der ersteren, die drei Bände der Forms of Prayer for jewish Worship der Reform Synagogues of GreatBritain (RSGB) bilden die Grundlage für die beiden neuen deutschen Gebetbücher. Der erste Band enthält die Daily, Sabbath and Occasional Prayers (5737 - 1977) und die Prayers for the Pilgrim Festivals (5755 - 1995). Der zugehörige zweite Band beinhaltet die Prayers for the High Holydays (5745 - 1985).

Wenn wir heute diese besondere Form des jüdischen Gottesdienstes anbieten, dann wollen wir damit nicht die Legitimität anderer Formen in Frage stellen, weder die sehr traditionellen noch die ganz radikalen. Die jüdische Welt ist zur Zeit so vielfältig wie nie zuvor, und wir haben die Freiheit, die Form der Worte zu wählen, die unserem Glauben und unserer Wesensart am meisten entspricht. Aber es ist hilfreich, einen Ausgangspunkt zu haben, vor allem in der sich so schnell verändernden Situation der Gemeinden in Deutschland. In diesem Gebetbuch finden wir die Gebete aus unserer Tradition, die auf eine bestimmte Art und Weise an die heutige Zeit angepasst wurden. Sie können von den verschiedenen Gemeinden auf verschiedene Weise benützt und verändert werden - und gerade dies sollte auch so sein!

Es wurde einmal gefragt, warum der traditionelle erste Abschnitt der Amidah von dem "Gott Abraham, Gott Isaaks und Gott Jakobs" spricht und nicht einfach von dem "Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs". Die Antwort ist: Jeder der Patriarchen musste Gott auf seine eigene Weise finden, auf der Grundlage seiner Erfahrungen und seiner Zeit. Dies ist heute unsere Herausforderung- und gleichermaßen die Suche nach dem Gott Saras, Gott Rebekkas, Gott Rahels und Gott Leas.

Rabbiner Prof. Dr. Jonathan Magonet

Das britischen Original ist von Rabbiner Lionel Blue und Rabbiner Jonathan Magonet unter Leitung der Assembly of Rabbis of the RSGB herausgegeben worden.

Die deutsche Übersetzung wurde von Annette Böckler erstellt, unterstützt von Gesine Popp und Lydia Lusch, unter Aufsicht von Rabbiner Prof. Dr. Jonathan Magonet. Das Prinzip der Übersetzung war, eine möglichst genaue Übertragung der hebräischen, aramäischen und englischen Texte mit einer liturgisch angemessenen deutschen Sprache zu verbinden. Die Übersetzerin ging von den hebräischen und aramäischen Originalen der Gebete aus. Wo es jedoch das Verständnis der Texte deutlicher zum Ausdruck brachte, folgte sie den Interpretationen der englischen Übersetzungen der Forms of Prayer. Es wurde durchgängig versucht, die Übersetzung in einem nicht-exklusiven Sprachstil zu gestalten. Der Name Gottes, das Tetragramm, ist deswegen an den meisten Stellen mit dem Wort "Gott" wiedergeben, das für verschiedene Gottesvorstellungen offen ist, an einigen Stellen wird - der von Moses Mendelsohn begründeten Tradition folgend - "der Ewige" verwendet, oder er wurde, je nach Kontext, durch andere Begriffe ersetzt, die besondere Eigenschaften Gottes ausdrücken.

Die Initiative zu einem solch großen Projekt, das erste vollständige neue Gebetbuch in Deutschland erscheinen zu lassen, kam von Rabbiner Dr. Dr. Walter Homolka. In seiner Hand lag die Organisation der Veröffentlichung.

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