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Der Holocaust hat keine Werte:
Die Politik der Erinnerung

Amos Elon, 1993, aus dem Buch: Nachrichten aus Jerusalem, Reportagen aus vier Jahrzehnten

In Israel herrschte nach dem Zweiten Weltkrieg angesichts der Enthüllungen über den Holocaust zunächst betroffenes Schweigen - eine Mischung aus Scheu und Scham.

Ältere Menschen fühlten sich schuldig, weil sie nicht imstande gewesen waren, die Katastrophe zu verhindern oder in ihren Dimensionen zumindest zu begrenzen. Jüngere, im Lande geborene Israelis zeigten sich oft unfähig, den Überlebenden des Holocaust einfühlsam zu begegnen. Das war, jedenfalls partiell, das Ergebnis zionistischer Erziehung und Propaganda. Generationen von Jugendlichen waren in dem Glauben aufgewachsen, dass die Existenz der Diaspora nicht nur eine Katastrophe, sondern auch eine Schande sei. Oft hieß es, die jüdischen Opfer der Nazis seien wie die Schafe zur Schlachtbank gegangen. Ein Schulbuch, das mindestens bis Ende der fünfziger Jahre an israelischen Oberschulen in Gebrauch war, interpretierte die große Klage des hebräischen Dichters Bialik über das Pogrom von Kischinew (1903) folgendermaßen: »Dieses Gedicht beschreibt die gemeine Brutalität der Angreifer und die schändliche Schmach und Feigheit der Juden des [osteuropäischen] Schtetl.«

»Schändlich«, »Schmach« und »Feigheit«, das waren die Schlüsselbegriffe, die auf den Kern der zionistischen Erziehung verwiesen. In der schwankenden Stimmung von Erinnerung und Ablehnung waren jüngere Israelis anfangs hin- und hergerissen zwischen Zorn und Scham über ihre verfluchte Vergangenheit. Manche führende Politiker wurden von Schmerz und Schuldgefühlen geplagt, dass sie vielleicht mehr hätten tun können, um das Ausmaß der Tragödie wenigstens zu verringern. Manche sind damit nie fertig geworden.

Der erste Außenminister des Staates Israel, Mosche Scharett, wurde zeit seines Lebens von solchen Gedanken gepeinigt. Jahrelang quälte ihn der Fall Joel Brand, des umstrittenen Emissärs, der 1944 aus Ungarn entsandt wurde, um Eichmanns »Lastwagen gegen Juden«-Vorschlag zu überbringen. Die Engländer hielten Brand in einem Militärgefängnis in Aleppo fest. Scharett, der ihn dort verhörte, war überzeugt von Brands Aufrichtigkeit und fand, dass man zwar Eichmanns Angebot nicht annehmen dürfe, mit Eichmann aber weiter verhandeln und bluffen müsse, um Zeit zu gewinnen. Immerhin standen die Russen schon vor den ungarischen Grenzen. Die Briten interessierte das alles nicht. Aus ihrer Sicht war der Sieg über die Nazis wichtiger als die Rettung von Juden. Gegen einen solchen Handel wandten sich auch die Russen, die einen anglo-amerikanischen Separatfrieden mit Deutschland befürchteten. Bis an sein Lebensende machte Scharett sich Vorwürfe, seine verzweifelten Appelle vielleicht nicht eindringlich genug formuliert zu haben oder in seiner Loyalität gegenüber den Westalliierten allzu diszipliniert gewesen zu sein.

Ende der fünfziger Jahre wich das Schweigen über den Holocaust einer wortreichen — oft staatlich geförderten - Diskussion über seine Auswirkungen. Es wurde üblich, vom Holocaust als dem zentralen Trauma der israelischen Gesellschaft zu sprechen. Seine Auswirkungen auf den Prozess der Staatswerdung sind nicht hoch genug zu veranschlagen. Tocqueville schrieb, dass die Umstände der Geburt einer Nation, wie beim Menschen, großen Einfluss auf ihre Entwicklung haben. In der Zeit, als sich in Israel ein Großteil des nationalen Ethos und der politischen Sprache herausbildete, brannten sich Bilder einer wahren Hölle auf den dunklen Grund der Seelen ein. Die frühen Zionisten hatten sich Israel als einen sicheren Hafen für verfolgte Juden vorgestellt, aber der Staat war zu spät gegründet worden, als dass er die Millionen von Toten hätte verhindern können. Bis auf den heutigen Tag existiert in Israel eine latente Hysterie, die unmittelbar darauf zurückzuführen ist. Sie erklärt das paranoide Gefühl des Isoliertseins, das seit 1948 ein Hauptmerkmal der israelischen Gesellschaft ist. Sie erklärt das übermächtige Misstrauen, die Entschlossenheit, sich nur auf die eigene Stärke zu verlassen, die (bisweilen in Verachtung umschlagende) Angst vor Außenseitern, besonders Arabern, und in jüngster Zeit vor den Palästinensern. Israelis neigen dazu, hinter jedem Araber oder Palästinenser SS-Männer zu sehen, die nur darauf warten, sie abermals in die Gaskammern und Verbrennungsöfen zu treiben.

Die Israelis sind natürlich nicht das einzige Volk, das im Schatten einer traumatischen Vergangenheit lebt. Das Selbstverständnis etwa der Polen oder Iren hat seine Wurzeln in ähnlichen Bildern von historischem Leid und Märtyrertum. Der Mord an Millionen Armeniern ist vielleicht die beste Parallele. Hitler soll gesagt haben: »Wer erinnert sich noch an die Massaker an den Armeniern?« - also kann man auch die Juden ausrotten. Wenn andere ebenfalls ausgerottet wurden, so liegt der Fall bei den Juden doch anders, weil (mit Ausnahme der Zigeuner) nur sie als »Volk«, als »minderwertige Rasse« zur Vernichtung bestimmt wurden.

Generationen von Juden sind mit dieser düsteren Lehre aufgewachsen: Juden mussten nicht wegen ihrer Religion oder ihrer Politik sterben oder wegen ihrer Taten, sondern einfach, weil es sie gab, weil sie existierten. Diese Botschaft ist ihnen jahrelang und mit weitreichenden politischen, kulturellen und religiösen Konsequenzen vermittelt worden. Daraus entwickelte sich eine spezifische politische Sichtweise, eine düstere, harte, pessimistische Einstellung zum Leben. Der Historiker Jacob Talmon billigte diese Haltung als einen »göttlichen und kreativen Wahn, der nicht nur jede Angst und Unschlüssigkeit bannt, sondern in einer Landschaft, die in ein unheimliches, verzerrendes Licht getaucht ist, auch für einen klaren Blick sorgt«. Talmon schrieb diese Worte 1960. Als er zwanzig Jahre später starb, hatte er sie schon längst bedauert. Wenn nämlich die vorherrschende traumatische Erinnerung an den Holocaust mit den Jahren stärker geworden war, so wurde sie von Politikern und Ideologen inzwischen auch manipuliert. Paradoxerweise gewann sie, nach Israels Blitzsieg über drei arabische Nachbarstaaten im Jahre 1967, im politischen Leben noch mehr an Gewicht. Talmons »göttlicher und kreativer Wahn« erklärt die Unerschrockenheit und Energie des jungen Israel. Aber nach 1967 führte er auch zu jenem engstirnigen und staatlich sanktionierten Egoismus, der nach dem Sechs-Tage-Krieg und dem Yom-Kippur-Krieg aufkam - zur Paranoia des »Die-ganze-Welt-ist-gegen-uns«, zur Missachtung der Rechte der Palästinenser und der Weltöffentlichkeit.

Diese Unversöhnlichkeit war vermutlich einer der Gründe, warum der Frieden mit Ägypten, der 1971 oder 1972 durchaus möglich gewesen wäre, erst 1978, nach dem furchtbaren Aderlaß des Yom-Kippur-Kriegs, erreicht wurde. Ich war zufällig Zeuge eines Gesprächs, das 1972 zwischen Richard Crossman, dem Chef der britischen Labour Party, und einem pensionierten hohen israelischen Diplomaten stattfand. Crossman, ein alter Freund Israels, beklagte sich bitter über die israelische Unnachgiebigkeit gegenüber den Palästinensern, besonders bei der damaligen Ministerpräsidentin Golda Meir. Der Diplomat nickte erst betrübt, versuchte dann aber, Golda Meirs Härte mit einem Hinweis auf den Holocaust verständlich zu machen. »Wir sind ein traumatisiertes Volk«, sagte er. »Verstehen Sie doch!« »Gewiß!« erwiderte Crossman. »Gewiß, Sie sind ein traumatisiertes Volk! Aber Sie sind ein traumatisiertes Volk mit einer Atombombe! Solche Leute gehören hinter Gitter!«

Nach dem Sechs-Tage-Krieg sahen sich die meisten israelischen Politiker in ihren eigenen Widersprüchen gefangen. Das gleiche Recht auf Selbstbestimmung, das die Israelis für sich forderten, verweigerten sie jetzt anderen - im Namen der Erinnerung. Während sie jeden Ansatz, den Holocaust historisch zu relativieren oder zu vergleichen, vehement ablehnten, vielmehr darauf bestanden, dass er absolut unvergleichbar sei, brachten sie es fertig, die Araber als Nazis und Arafat als einen zweiten Hitler zu bezeichnen. Menachem Begin schrieb während des Libanonkriegs in einem Brief an Ronald Reagan, er habe, als die israelischen Panzer nach Beirut rollten, das Gefühl gehabt, als marschiere er in Berlin ein, um Hitler in seinem Bunker gefangen zu nehmen. Diese Sprache war übrigens nicht nur für Begin und den Likud typisch. Abba Eban, der moderateste aller Politiker der Arbeitspartei, bezeichnete die Grenzen vor 1967 - Grenzen, die es Israel ermöglicht hatten, in nur sechs Tagen drei arabische Armeen zu vernichten - als »Auschwitz-Grenzen«.

Die Schwierigkeit, sich der Erinnerung an den Holocaust zu stellen, beeinflusste auch die israelische Geschichtsschreibung. In den ersten zwei Jahrzehnten wirkten sich die Formeln der zionistischen Ideologie hemmend auf die israelischen Historiker aus. So entstand eine Reihe von ideologischen und apologetischen Arbeiten, deren Absicht es war, die historische Notwendigkeit des jüdischen Staates nachzuweisen. Tom Segev, einer der führenden israelischen Historiker, hat diese Werke in seiner Studie Die siebte Million* scharfsinnig analysiert. Obwohl das Thema Nationalsozialismus eine so beherrschende Rolle in Israel spielt, sind, wie Segev zeigt, die meisten seriösen Arbeiten jüdischer Autoren zu diesem Thema nicht in Israel geschrieben worden, und davon wiederum - vielleicht weil sie nicht ganz den. gängigen Formeln entsprachen - ist nur eine Handvoll ins Hebräische übersetzt worden, meist mit erheblicher Verspätung. Raul Hilbergs monumentales Werk über den Holocaust wurde nie übersetzt. Alan Bullocks Buch über Hitler kam auf hebräisch erst mit zwanzigjähriger Verspätung heraus, Joachim Fests Hitler erst 1986 - wobei der israelische Verlag es bei Fests Studie für angebracht hielt, einen Untertitel hinzuzufügen (»Portrat einer Unperson«), der der Grundthese des Autors widerspricht.

*) Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung. Übersetzt von Jürgen Peter Krause und Maja Ueberle-Pfaff. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995.

Ich erwähne diese Manöver und Verzögerungen nur, weil sie charakteristisch sind für jene Zeit, eher auf simplifizierende als auf differenziertere Darstellungen zu setzen. Es brauchte mehr als eine Generation, bis israelische Historiker imstande waren, die Geschichte des Holocaust losgelost von ihrer eigenen Biographie zu betrachten.

Die Geschichte aufzuschreiben ist, wie wir alle wissen, eine Möglichkeit, die erdrückende, oft lähmende Last der Vergangenheit abzuschütteln - »sich von der Geschichte zu befreien«, wie Benedetto Croce sagt. Die politische Klasse Israels zögerte jedoch, sich von den Klischees zu lösen. Unter der rechten Likud-Regierung, die 1978 an die Macht kam, wurde die Erinnerung immer stärker instrumentalisiert. Ich muss manchmal an die politische Rhetorik jener Zeit denken, wenn ich die Erklärungen lese, die heute im ehemaligen Jugoslawien abgegeben werden, in denen immer wieder die Identität von Geschichte und Schicksal beschworen wird. Menachem Begin pflegte jeden größeren politischen Akt seiner Regierung - ob im Libanon oder in den faktisch annektierten besetzten Gebieten - als Meilenstein auf Israels historischem Marsch »vom Holocaust zur Erlösung« zu bezeichnen. Er versuchte, den Holocaust auf juristischem Weg der Geschichtsschreibung wegzunehmen. 1981 wurde ein Gesetz erlassen, welches das Leugnen des Holocaust unter Strafe stellte, als wäre er kein Thema mehr für Historiker, sondern, wie Segev schreibt, eine gesetzlich geschützte »Doktrin« nationaler Wahrheit, eine Staatsreligion. (Das Gesetz scheint die Doktrin sogar besser zu schützen als die Religion. Die Höchststrafe für »grobe Beleidigung religiöser Gefühle« - vermutlich also auch für das Leugnen der Existenz Gottes - ist ein Jahr Gefängnis. Wer den Holocaust leugnet, wird mit mindestens fünf Jahren bestraft. Beide Gesetze sind im Grunde Ausdruck politischer Rhetorik: sie sind bis jetzt noch nie angewendet worden).

Die politische Sprache ist noch immer voll von alten Klischees über den Holocaust. Als General Ehud Barak, der Generalstabschef der israelischen Armee, im letzten Jahr Auschwitz besuchte und, umringt von Adjutanten und Fernsehreportern, vor den Verbrennungsöfen stand, erklärte er feierlich. »Wir sind fünfzig Jahre zu spät gekommen«.

Aus dem gleichen Grunde entwickelte sich in Israel nur sehr langsam eine Einsicht in den Charakter der Bundesrepublik Deutschland - dass sie ein Neuanfang war, zudem gar kein so schlechter, eine offene Gesellschaft und eine relativ gut funktionierende Demokratie, ein komplexes Land, ein Land, das weniger einem Gemälde von Otto Dix oder George Grosz ähnelte, sondern eher einem von Anselm Kiefer. In der deutschen Frage war David Ben Gurion die große Ausnahme unter den israelischen Politikern. Oft widersprach er dem verbreiteten Feindbild mit dem Hinweis, dass Westdeutschland nunmehr eine freiheitliche Demokratie sei. Er durfte das aus Gründen der Staatsräson getan haben, aber auch deswegen, weil er wirklich überzeugt war, dass es inzwischen ein »anderes« Deutschland gab. Er kam damit nicht sehr weit, nicht einmal in seiner eigenen Partei. Auch seinen Nachfolger konnte er nicht davon überzeugen. Wahrend Adenauers Israel-Besuch 1966 kam es m Jerusalem bei dem offiziellen Essen zu einem bezeichnenden Zwischenfall, dessen Zeuge ich zufällig wurde. In einer abgelesenen Tischrede würdigte Ministerpräsident Levi Eschkol Adenauers Wirken in Vergangenheit und Gegenwart und erklärte dann, dass »es keine Sühne gibt ... Israel wartet auf weitere Zeichen und Beweise dafür, dass das deutsche Volk die schreckliche Last der Vergangenheit erkennt und sich einen neuen Weg in die Völkerfamilie sucht.« Adenauer stellte daraufhin sein Weinglas ab und erklärte, dass er seinen Besuch abbrechen werde, da Eschkol sein Lebenswerk geleugnet habe.

Eschkol war perplex Die Tischgäste sahen einander betreten an. Eschkol verstand nicht, was passiert war. Er versuchte Adenauer zu besänftigen: »Aber ich habe Sie persönlich gepriesen«, sagte er. Das machte alles nur noch schlimmer. Adenauer verkündete, er habe angeordnet, dass sein Flugzeug am nächsten Morgen zum Abflug bereitstehen solle. Am Ende brach er seinen Besuch doch nicht ab. Diplomaten beider Länder steckten in einem Nebenzimmer die Kopfe zusammen und fanden eine Versöhnungsformel. Aber der Vorfall war bezeichnend. Es war nicht bloß die Unachtsamkeit eines Redenschreibers oder die Müdigkeit oder Zerstreutheit eines Politikers.

Levi Eschkol war ein einzigartig humaner, moderater und versöhnlicher Mensch. Er gehörte zu jener frühen, inzwischen legendären Welle von Pionieren, die sich vor dem Ersten Weltkrieg in Palästina niedergelassen und den ersten Kibbuz gegründet hatten. Anders als Begin oder Schamir hatte er den Nationalsozialismus nicht am eigenen Leibe erfahren. Aber er war repräsentativ für Israelis jeden Alters und jeder ethnischen Herkunft, für die der Holocaust weit mehr bedeutete als nur ein persönliches Trauma. Der Holocaust war, neben Nationalismus und Religion, einer der drei Eckpfeiler kollektiver Identität. Viele der hier geborenen Israelis identifizierten sich, unabhängig von Alter, Herkunft oder Bildung, mit den Opfern des Holocaust. Viele nichtjüdische Israelis, einschließlich Araber und Drusen, teilen in einer Art von Osmose diese Haltung.

1978, mit dem scharfen Rechtsruck in der israelischen Politik, wurde die »Erinnerung« innerhalb des nationalen Rituals und des Erziehungswesens weiter institutionalisiert. An den Schulen war der Holocaust schon immer Bestandteil des regulären Lehrplans im Fach Geschichte gewesen. Nun wurde er auch in Staatsbürgerkunde und im Religionsunterricht behandelt. Regelmäßig sprach man über die »Lehren« und »Werte« des Holocaust und über seine religiöse »Bedeutung«. Als sich Osteuropa gegen Mitte der achtziger Jahre für israelische Touristen öffnete, wurde der Holocaust-Unterricht durch staatlich subventionierte Gruppenreisen nach Polen ergänzt. Tausende von Oberschülern nahmen, begleitet von ehemaligen KZ-Häftlingen, die als Reiseführer fungierten, an diesen Exkursionen teil, den so genannten »Märschen der Lebenden«. Die Reise begann meist in Warschau, wo der Ort des ehemaligen Ghettos besichtigt wurde. Von dort ging es weiter nach Treblinka und Auschwitz, dem Höhepunkt ihrer Reise. Begleitet von einem ehemaligen Insassen marschierten die Schüler in T-Shirts, auf denen ein großer Davidsstern und die Aufschrift "Israel" oder "Israel lebt" prangte, durch das Stammlager, sangen dabei israelische Lieder und schwenkten israelische Fahnen. In Birkenau hissten sie vor den Verbrennungsöfen ihre Fahnen und sprachen den Segen für die Soldaten der israelischen Armee. Dann sagten sie das Kadisch, das traditionelle jüdische Totengebet.

Bei der Rückkehr aus Polen erklärten einige der jugendlichen Reiseteilnehmer vor der Presse, dass sie auf dem Gelände des früheren Vernichtungslagers »bessere« Zionisten geworden seien; sie seien nun überzeugt, dass Israel an jedem Quadratzentimeter der 1967 besetzten Gebiete festhalten müsse; territoriale Kompromisse seien ausgeschlossen. Auschwitz, so hieß es in einer vom israelischen Erziehungsministerium eigens für diese Reisen herausgegebenen Broschüre, verkörpere den unveränderlichen Hass auf Juden, einen Hass, der schon immer existiert habe und immer existieren werde, solange es Christen und Juden gebe. An anderer Stelle hieß es:
»Mit bitterem Herzen und Tränen in den Augen stehen wir vor den Feueröfen der Vernichtungslager und beklagen das schreckliche Ende der europäischen Juden. Doch während wir noch weinen und klagen, werden unsere Herzen von Stolz und Freude erfüllt, weil wir das Privileg besitzen, Bürger des unabhängigen Staates Israel zu sein. Wir antworten und versprechen aus vollem Herzen: Möge der Staat Israel ewig leben.«

In derselben Broschüre wird, laut Segev, der gegenwärtige Antisemitismus in Polen verurteilt sowie die Tatsache, dass die polnische Regierung auch nach dem Ende des Kommunismus noch immer das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung anerkennt, als wären das nicht zwei verschiedene Dinge.

Die Atmosphäre, die auf diesen Reisen herrschte und die sie ihrerseits erzeugten, ist in den letzten Jahren Gegenstand scharfer Kritik gewesen. Eröffnet wurde die Debatte vor einigen Jahren von Professor Yehuda Elkana von der Universität Tel Aviv, der selbst Auschwitz-Überlebender ist. Elkana veröffentlichte in Haaretz einen Artikel unter der Überschrift »Die Notwendigkeit des Vergessens«, in dem er dagegen protestierte, wie die Erinnerung zu politischen Zwecken instrumentalisiert werde. Er warnte vor den möglichen politischen und psychischen Auswirkungen:
»Was sollen Kinder mit solchen Erinnerungen anfangen? Der ernste Appell "Erinnert euch!" kann leicht als Aufforderung zu blindem Hass interpretiert werden. Es mag sein, dass sich die Weltöffentlichkeit noch lange erinnern muss ... aber für uns sehe ich keine wichtigere pädagogische Aufgabe, als für das Leben einzutreten, sich der Gestaltung der Zukunft in diesem Land zu widmen, statt tagaus, tagein über die schrecklichen Symbole, quälenden Zeremonien und düsteren Lehren des Holocaust nachzudenken ... Das Verhältnis der israelischen Gesellschaft zu den Palästinensern wird politisch und sozial vor allem von einer tiefen existentiellen Angst geprägt, die sich von einer bestimmten Interpretation des Holocaust nährt und von dem Glauben, dass die ganze Welt gegen uns ist, dass wir die ewigen Opfer sind.
In diesem uralten Glauben, der heutzutage von vielen Menschen geteilt wird, sehe ich den tragischen und paradoxen Sieg Hitlers. Aus der Asche von Auschwitz sind, bildlich gesprochen, zwei Nationen erstanden: eine Minderheit, die erklärt, "das darf nie wieder geschehen" und eine verängstigte und ruhelose Mehrheit, die erklärt, "das darf uns nie wieder geschehen".
Wenn das die beiden einzigen Lehren sind, dann habe ich persönlich immer an der ersten festgehalten; die zweite erscheint mir als katastrophal. Geschichte und kollektive Erinnerung sind untrennbarer Bestandteil jeder Kultur; aber die Vergangenheit kann nicht und darf nicht das Element sein, das die Zukunft einer Gesellschaft und das Schicksal eines Volkes entscheidend bestimmt".

Für diese Auffassung wurde Elkana heftig angegriffen, doch er war nicht der einzige, der den Israelis in den letzten Jahren klarzumachen versuchte, dass es, in Anlehnung an Carlyles bekanntes Wort, weise ist, sich nicht nur zu erinnern, sondern auch zu vergessen. Mir geht Nietzsches These durch den Sinn, dass wahres Leben ohne Vergessen unmöglich ist. »Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zu Grunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.«

Ich habe die meiste Zeit meines Lebens in Israel verbracht und bin zu der Schlussfolgerung gelangt, dass dort, wo es so viele traumatische Erinnerungen gibt, so viel Schmerz, so viel Erinnerung, die bewusst oder unbewusst zu politischen Zwecken mobilisiert wird, ein wenig Vergessen ganz angebracht ist. Das sollte nicht als banaler Aufruf zum »Vergeben und Vergessen« betrachtet werden. Vergebung hat damit nichts zu tun. Die Erinnerung ist oft eine Art Rache, paradoxerweise aber auch die Grundlage für Versöhnung. Meines Erachtens brauchen wir in Israel ein neues, ausgewogeneres Verhältnis zwischen Erinnerung und Hoffnung.

So gesehen war der Regierungswechsel in Israel (1993 zur Regierung Rabin) ein Schritt nach vorn. Das hat nicht nur mit der Bereitschaft der Regierung zu tun, ein historisches Friedensabkommen mit den Palästinensern zu schließen, die von offizieller Seite nicht mehr als moderne Nazis betrachtet werden. Es geht vor allem auch um den Holocaust.
Schulamit Aloni, Rabins erste Bildungsministerin, argumentierte ähnlich wie Elkana. Ehe sie auf Druck der Ultrareligiösen von Rabin entlassen wurde, strich sie die organisierten Schulreisen nach Auschwitz. Sie vertrat die Ansicht, dass staatliche Schulen nicht die so genannten »Werte des Holocaust« propagieren dürften. Allein schon bei diesem Ausdruck, sagte sie, laufe es ihr kalt den Rücken hinunter. Der Holocaust habe keine Werte. Statt die Wunden heilen zu lassen, rissen die Israelis sie immer wieder auf. Man sollte das Trauma nicht ewig »verwalten«, sondern anfangen, es zu kurieren. Wie das politisch geschehen kann, weiß ich nicht. Die einzige Hoffnung liegt in der Chance, daß sich Yehuda Elkanas Vision durchsetzt.

Eine verzweifelte Flaschenpost aus Israel:
No Exit

"Macht keine Dummheiten, während ich tot bin":
Was ist falsch gelaufen?

Porträt der jüdisch-deutschen Epoche:
Zu einer anderen Zeit

hagalil.com 22-04-03











 

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