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Oliver Lubrich (Hrsg.):
Reisen ins Reich. 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland.
Eichborn Verlag 2005
Euro 24,90

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Reisen ins Reich, 1933-1945:
Ausländische Autoren berichten aus Deutschland

Von Julia Anspach

Das Buch "Reisen ins Reich" versammelt internationale Autorinnen und Autoren, die von ihren Erlebnissen bei Besuchen im Deutschen Reich in den Jahren 1933 bis 1945 berichten. Die Texte, verfasst von aktiven Unterstützern, begeisterten Befürwortern, verhaltenen Zweiflern oder strikten Gegnern des Nationalsozialismus, vermitteln ein facettenreiches Bild des deutschen Alltags zwischen 1933 und 1945.

"Etwas Beklemmenderes als in Berlin einquartiert zu sein, kann ich mir nicht vorstellen", berichtet Weihnachten 1933 der schwedische Lyriker Gunnar Ekelöf in Briefen von seinem Deutschlandbesuch im Herbst zuvor. "Deutschland hat auf eine beklemmende Weise die Rolle als »Europas kranker Mann« übernommen. Es ist ein verfaultes, absinkendes Bürgertum, das auch vor den größten Infamien nicht zurückschreckt, sobald es den Kampf  um die eigenen Hosen betrifft." Seine Diagnose über das Deutsche Reich ist schon kurze Zeit nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten vernichtend: "Deutschland ist innerlich krank, ein unbefriedigter, zerbrochener Sadist, der um sich schlägt und die Zweifel mit Selbstverherrlichung betäubt."

Ekelöf ist einer von zahlreichen internationalen Autorinnen und Autoren, deren Eindrücke über das Deutsche Reich in der Anthologie "Reisen ins Reich. 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland" zusammengestellt sind.

Das zentrale Thema des Buches ist der fremde Blick: Von bekannten Schriftstellern und Journalisten aus den USA, Schweden oder Ungarn bis hin zum Gaststudenten aus China zeichnen Besucherinnen und Besucher aus aller Welt ein Bild des Alltags in den verschiedenen Städten und Dörfern des Deutschen Reiches.

Beginnend mit einem Auszug aus Christopher Isherwoods Goodbye to Berlin von Januar bis Mai 1933, dessen Darstellungen die Vorlage für das Musical Cabaret lieferten, endet das Buch mit einem Tagebucheintrag des norwegischen Journalisten Theo Findahl am 8. Mai 1945. Neben Einschätzungen zur politischen Lage und zu Vorhaben der deutschen Regierung oder Reaktionen auf tagespolitische Geschehnisse enthält es vor allem Beschreibungen kleiner, alltäglicher Begebenheiten, in denen die Verfasser häufig gerade das Monströse der deutschen Ideologie entdecken.

Der Herausgeber des Buches, der Berliner Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich, legte Wert darauf, dass alle Texte in zeitlicher Näher zu den von ihnen dargestellten Ereignissen entstanden, so dass die Gefühle – ob Entsetzen, Ekel, Faszination, Überwältigung, Ergriffenheit oder Fassungslosigkeit – der Autoren noch in ihren Erzählungen mitschwingen. Das Vorwort und den Texten durch Lubrich vorangestellte Erläuterungen vermitteln interessante Hintergrundinformationen zur Entstehung der Texte und der Biographie ihrer Verfasser. Während Auszüge aus Erzählungen von Georges Simenons, Thomas Wolfes, Martha Dodds und anderen erstmals ins Deutsche übersetzt wurden, liegt mit dem Tagebuchauszug HH ohne Unterlass von Samuel Beckett sogar eine internationale Erstveröffentlichung vor.

Beckett notierte im Oktober 1936 in seinem Deutschen Tagebuch:

"Endlose Tirade von Göring über den Vierjahresplan* in einer Übertragung aus Berlin. Sehr volkstümlich.* Kolonien, Rohstoffe, F[e]ttwaren.* (...) lese vom verdammten neuen Glaspalast* in München, das Haus der deutschen Kunst* & die kommende Ausstellung, für jedermann zugänglich. Nun daß die Periode von Nolde, der Brücke*, Marc usw. »[ü]berw[u]nden«* ist. Bald werde ich wirklich zu kotzen beginnen. Oder nach Hause gehen."

Schon Becketts Ausführungen deuten die Auswirkungen von Ideologie und bevorstehendem Krieg auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben Deutschlands an, was im ersten Kriegsjahr von der dänischen Schriftstellerin Karen ("Tania") Blixen, heute bekannt durch ihren Roman "Jenseits von Afrika", bestätigt wird. Unter der Überschrift "Halbmond und Hakenkreuz"  stellt sie 1940 Überlegungen zu diesem Thema an:

"Die Deutschen eignen sich jedoch die klassische Kunst des Auslands auf ihre Weise an, in Großmachtmanier, und dem Fremden aus einer kleinen Nation, der zuhört, während sie darüber reden, kann dabei schon etwas beklommen zu Mute werden. Shakespeare, sagen sie, ist kraft seiner gewaltigen Menschlichkeit in Wirklichkeit Germane, Shaw ist in seinem klaren Gespür für Probleme Germane, Ibsen ist in seiner Wahrheitssuche und in seinem bitteren Idealismus Germane. Und die eifrige deutsche Gastfreundschaft vereinnahmt nicht allein die klassische dramatische Kunst auf diese Weise, sondern Kunst und Taten der ganzen Geschichte. (...) Das ist ein Glaube, der Berge versetzen kann, und man blickt sich erschrocken um – wie viel soll hier unter diesem Erdrutsch begraben werden? Seht her! Deutschland führt einen Feldzug wie Alexander der Große – möge es der Welt beweisen, daß Alexander und die alten Griechen im Geiste und in Wahrheit Deutsche waren."

Nachdem Karen Blixen im März 1940 im Rahmen einer Serie über die Hauptstädte der kriegsführenden Staaten Europas eine zum Teil von deutlicher Faszination geprägte Reportage über Berlin verfasst hatte, kehrte sie am 2. April in ihre Heimat zurück. Nur eine Woche später besetzten deutsche Truppen auch Dänemark.

So betont distanziert wie Blixen oder ablehnend wie Beckett standen keineswegs alle der veröffentlichten Autoren dem Deutschen Reich gegenüber. Neben kritischen existieren auch sympathisierende, ja affirmierende Stimmen wie die des französischen Autors Jacques Chardonne, der an einer Rundreise teilnahm, die das Propagandaministerium für europäische Schriftsteller angeboten hatte, und im Anschluss an diese Reise im Dezember 1941 Marschall Philippe Pétain zu einem Kriegseintritt Frankreichs auf deutscher Seite zu bewegen suchte. Selbst der schwedische Freiwillige der Waffen-SS Wiking Jerk kommt zu Wort.

Bei der Mehrzahl der Texte lohnt es sich, ihnen – insbesondere 60 Jahre nach der Befreiung des Deutschen Reiches durch die Alliierten – Aufmerksamkeit zu schenken.

Denis de Rougemont, der sich ein Jahr als  Lektor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main aufhielt, schrieb anlässlich der Gedenkfeiern des Hitlerputsches 1935:

"Über die Hauptverkehrsstraßen sind ziegelrote Spruchbänder mit dem Slogan oder dem »Schlagwort«* Der Kampf gegen Hunger und Kälte ist unser Krieg gespannt worden. Ist das eine pazifistische Erklärung? Oder kann man den Deutschen nur dadurch begeistern, daß man von Krieg redet, und sei es der Krieg gegen die Kälte?"

Der Beobachtung der fanatischen Kriegsbegeisterung des deutschen Volkes entgegen steht jedoch die Überlegung des amerikanischen Korrespondenten William Shirer. Zwar erklärte er den Nationalsozialismus meist mit einer Art von genetischer Veranlagung der Deutschen, sein Tagebuch enthält den Eintrag, dass "die Deutschen individuell das häßlichste Volk in Europa" seien, doch notierte er über die Reaktionen der Bevölkerung auf den bevorstehenden Einmarsch im Sudetenland:

"Was ich da am heutigen Abend gesehen habe, läßt beinahe wieder ein wenig Vertrauen in das deutsche Volk aufkommen. Sie sind mit tödlichem Ernst gegen diesen Krieg."

Verschiedene Situationen während des Krieges beschreibt der amerikanische Korrespondent der United Press und der New York Times Howard Smith in seinem Beobachtungsbericht Die Stimmungskurve der Deutschen. Er erzählt von der Begegnung eines alten Mannes, der seinen Dackel im Zoo spazieren führt, mit dem Kontrolleur am Eingang:

"»MORGEN. Schon gehört, heute morgen sind wir in Norwegen einmarschiert.«

»JA«, sagte der Besucher und nahm seine Zigarre aus dem Mund, »und in Dänemark auch.«

»JA«, sagte der Kontrolleur und reichte die abgerissene Karte zurück.

»AUF WIEDERSEHEN.«

»WIEDERSEHEN.« Und der alte Mann und sein Dackel gingen durch das Tor, um das merkwürdige Verhalten der Tiere zu beobachten, der wilden wie der zahmen."

Auch andere realisieren eine fast schon stoische Gelassenheit, wenn nicht Gleichgültigkeit der Bevölkerung angesichts des Krieges, die auch als stumm erduldetes Leid interpretiert wird. Smith jedoch vermerkt einen Anstieg der Stimmungskurve, sie erreiche "eine absolute Rekordhöhe", "Deutsche, die vor reiner, spontaner Freude lachten und weinten", als eine aus Frankreich zurückgekehrte Division die West-Ost-Achse Berlins  hinuntermarschieren sollte und so ein "reales, fühlbares Zeichen des Sieges, das die Beendigung eines Krieges anzeigte, den die Deutschen haßten und fürchteten."

Die Stimmungskurve steigt also mit den Siegen der Deutschen; Verluste, Mangel an Lebensmitteln und Kleidung in den späteren Kriegsjahren werden still ertragen. Still, wenn nicht gar stumm, so schreibt der Ungar József Nyírö 1942, der auf einer Bahnfahrt durch das Deutsche Reich keinen Mensch vom Krieg sprechen hört, da alle der versteckten Drohung gemäß handeln: »Feind hört mit!«. Von der Atmosphäre am Reichsehrenmal, an dem die Kränze für die Kriegsgefallenen niedergelegt werden, berichtet er folgendes:

"Die Namen und die kurzen Sätze schließen Schicksale ein, die die Schönheit und die Größe der für das Vaterland gebrachten Opfer verkünden. Diese Innigkeit, Seelenwärme, dieses Selbstbewußsein und dieser glückliche Stolz, das ist die deutsche Geschichte selbst. Wer sie betrachtet, diese Zeichen des Gedenkens, fühlt sich emporgehoben. Er sehnt sich fast nach einem solchen Kranz, damit auch sein Name im Buch der Nation verzeichnet sei. Keinen Schrecken, keine Angst, keine Auflehnung gegen den Tod, gegen den kalten Hieb des Geschickes fühlt man hier, sondern Selbstbewußtsein, Einfachheit, Tiefe und Höhe. Denn sie sind keine Opfer, sie sind die Gesegneten des Vaterlandes."

Diese Darstellung läuft allem zuwider, was in den vergangenen Wochen anlässlich des sich zum 60. Mal jährenden Kriegsendes gesagt und geschrieben wurde und verdient schon aus diesem Grund besonderer Beachtung.

Die letzten Erzählungen sind bekannte Szenen des Kriegsendes: Bombenalarm, Angst und Schrecken, Nächte im Bunker, brennende Häuser, verzweifelte Menschen. In Situationen der Bedrohung des eigenen Lebens und der empfundenen Todesangst werden schließlich viele Menschen zu Opfern. Doch selbst in jenen letzten Tagen begegnete den fremden Besuchern noch die Überzeugung »Berlin bleibt deutsch.«

Diverse populistische Gedenkfeiern und dramatische Inszenierungen zeitgenössischer Erinnerungen in den vergangenen Wochen vermittelten den Eindruck, in Deutschland sei die Bevölkerung nie etwas anderes gewesen als Opfer. Die vorliegende Veröffentlichung straft diese Inszenierung in jeder Hinsicht Lügen. Die Verfolgung und Vernichtung der Juden war bekannt, wurde selbst von kurzzeitigen Besuchern des Deutschen Reiches wahrgenommen und von der einheimischen Bevölkerung aktiv unterstützt oder zumindest schweigend hingenommen. Der Krieg war keine Überraschung, sondern lange vor 1939 von der Mehrheit gewollt und wurde bis zuletzt von vielen unterstützt.

Facettenreich gibt das Buch "Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland" Auskunft über den tatsächlichen Zustand des Deutschen Reichs und seiner Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945, wie er sich in fremden Augen darstellte.

* Kursiv Gedrucktes im Original in Deutsch.

hagalil.com 31-03-05











 

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