Reisen ins Reich, 1933-1945:
Ausländische Autoren berichten aus Deutschland
Von Julia Anspach
Das
Buch "Reisen ins Reich" versammelt internationale Autorinnen und Autoren,
die von ihren Erlebnissen bei Besuchen im Deutschen Reich in den Jahren 1933
bis 1945 berichten. Die Texte, verfasst von aktiven Unterstützern,
begeisterten Befürwortern, verhaltenen Zweiflern oder strikten Gegnern des
Nationalsozialismus, vermitteln ein facettenreiches Bild des deutschen
Alltags zwischen 1933 und 1945.
"Etwas Beklemmenderes als in Berlin einquartiert zu sein, kann ich mir nicht
vorstellen", berichtet Weihnachten 1933 der schwedische Lyriker Gunnar
Ekelöf in Briefen von seinem Deutschlandbesuch im Herbst zuvor. "Deutschland
hat auf eine beklemmende Weise die Rolle als »Europas kranker Mann«
übernommen. Es ist ein verfaultes, absinkendes Bürgertum, das auch vor den
größten Infamien nicht zurückschreckt, sobald es den Kampf um die
eigenen Hosen betrifft." Seine Diagnose über das Deutsche Reich ist schon
kurze Zeit nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten vernichtend:
"Deutschland ist innerlich krank, ein unbefriedigter, zerbrochener Sadist,
der um sich schlägt und die Zweifel mit Selbstverherrlichung betäubt."
Ekelöf ist einer von zahlreichen internationalen Autorinnen und Autoren,
deren Eindrücke über das Deutsche Reich in der Anthologie "Reisen ins Reich.
1933-1945. Ausländische Autoren berichten aus Deutschland" zusammengestellt
sind.
Das zentrale Thema des Buches ist der fremde Blick: Von bekannten
Schriftstellern und Journalisten aus den USA, Schweden oder Ungarn bis hin
zum Gaststudenten aus China zeichnen Besucherinnen und Besucher aus aller
Welt ein Bild des Alltags in den verschiedenen Städten und Dörfern des
Deutschen Reiches.
Beginnend mit einem Auszug aus Christopher Isherwoods Goodbye to Berlin
von Januar bis Mai 1933, dessen Darstellungen die Vorlage für das
Musical Cabaret lieferten, endet das Buch mit einem Tagebucheintrag
des norwegischen Journalisten Theo Findahl am 8. Mai 1945. Neben
Einschätzungen zur politischen Lage und zu Vorhaben der deutschen Regierung
oder Reaktionen auf tagespolitische Geschehnisse enthält es vor allem
Beschreibungen kleiner, alltäglicher Begebenheiten, in denen die Verfasser
häufig gerade das Monströse der deutschen Ideologie entdecken.
Der Herausgeber des Buches, der Berliner Literaturwissenschaftler Oliver
Lubrich, legte Wert darauf, dass alle Texte in zeitlicher Näher zu den von
ihnen dargestellten Ereignissen entstanden, so dass die Gefühle – ob
Entsetzen, Ekel, Faszination, Überwältigung, Ergriffenheit oder
Fassungslosigkeit – der Autoren noch in ihren Erzählungen mitschwingen. Das
Vorwort und den Texten durch Lubrich vorangestellte Erläuterungen vermitteln
interessante Hintergrundinformationen zur Entstehung der Texte und der
Biographie ihrer Verfasser. Während Auszüge aus Erzählungen von Georges
Simenons, Thomas Wolfes, Martha Dodds und anderen erstmals ins Deutsche
übersetzt wurden, liegt mit dem Tagebuchauszug HH ohne Unterlass von
Samuel Beckett sogar eine internationale Erstveröffentlichung vor.
Beckett notierte im Oktober 1936 in seinem Deutschen Tagebuch:
"Endlose Tirade von
Göring über den Vierjahresplan* in einer Übertragung aus Berlin.
Sehr volkstümlich.* Kolonien, Rohstoffe, F[e]ttwaren.*
(...) lese vom verdammten neuen Glaspalast* in München, das Haus
der deutschen Kunst* & die kommende Ausstellung, für jedermann
zugänglich. Nun daß die Periode von Nolde, der Brücke*, Marc usw. »[ü]berw[u]nden«*
ist. Bald werde ich wirklich zu kotzen beginnen. Oder nach Hause gehen."
Schon Becketts Ausführungen deuten die Auswirkungen von Ideologie und
bevorstehendem Krieg auf das kulturelle und gesellschaftliche Leben
Deutschlands an, was im ersten Kriegsjahr von der dänischen Schriftstellerin
Karen ("Tania") Blixen, heute bekannt durch ihren Roman "Jenseits von
Afrika", bestätigt wird. Unter der Überschrift "Halbmond und Hakenkreuz"
stellt sie 1940 Überlegungen zu diesem Thema an:
"Die Deutschen eignen
sich jedoch die klassische Kunst des Auslands auf ihre Weise an, in
Großmachtmanier, und dem Fremden aus einer kleinen Nation, der zuhört,
während sie darüber reden, kann dabei schon etwas beklommen zu Mute werden.
Shakespeare, sagen sie, ist kraft seiner gewaltigen Menschlichkeit in
Wirklichkeit Germane, Shaw ist in seinem klaren Gespür für Probleme Germane,
Ibsen ist in seiner Wahrheitssuche und in seinem bitteren Idealismus
Germane. Und die eifrige deutsche Gastfreundschaft vereinnahmt nicht allein
die klassische dramatische Kunst auf diese Weise, sondern Kunst und Taten
der ganzen Geschichte. (...) Das ist ein Glaube, der Berge versetzen kann,
und man blickt sich erschrocken um – wie viel soll hier unter diesem
Erdrutsch begraben werden? Seht her! Deutschland führt einen Feldzug wie
Alexander der Große – möge es der Welt beweisen, daß Alexander und die alten
Griechen im Geiste und in Wahrheit Deutsche waren."
Nachdem Karen Blixen im März 1940 im Rahmen einer Serie über die Hauptstädte
der kriegsführenden Staaten Europas eine zum Teil von deutlicher Faszination
geprägte Reportage über Berlin verfasst hatte, kehrte sie am 2. April in
ihre Heimat zurück. Nur eine Woche später besetzten deutsche Truppen auch
Dänemark.
So betont distanziert wie Blixen oder ablehnend wie Beckett standen
keineswegs alle der veröffentlichten Autoren dem Deutschen Reich gegenüber.
Neben kritischen existieren auch sympathisierende, ja affirmierende Stimmen
wie die des französischen Autors Jacques Chardonne, der an einer Rundreise
teilnahm, die das Propagandaministerium für europäische Schriftsteller
angeboten hatte, und im Anschluss an diese Reise im Dezember 1941 Marschall
Philippe Pétain zu einem Kriegseintritt Frankreichs auf deutscher Seite zu
bewegen suchte. Selbst der schwedische Freiwillige der Waffen-SS Wiking Jerk
kommt zu Wort.
Bei der Mehrzahl der Texte lohnt es sich, ihnen – insbesondere 60 Jahre nach
der Befreiung des Deutschen Reiches durch die Alliierten – Aufmerksamkeit zu
schenken.
Denis de Rougemont, der sich ein Jahr als Lektor an der Johann
Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main aufhielt, schrieb
anlässlich der Gedenkfeiern des Hitlerputsches 1935:
"Über die
Hauptverkehrsstraßen sind ziegelrote Spruchbänder mit dem Slogan oder dem
»Schlagwort«* Der Kampf gegen Hunger und Kälte ist unser Krieg
gespannt worden. Ist das eine pazifistische Erklärung? Oder kann man den
Deutschen nur dadurch begeistern, daß man von Krieg redet, und sei es der
Krieg gegen die Kälte?"
Der Beobachtung der fanatischen Kriegsbegeisterung des deutschen Volkes
entgegen steht jedoch die Überlegung des amerikanischen Korrespondenten
William Shirer. Zwar erklärte er den Nationalsozialismus meist mit einer Art
von genetischer Veranlagung der Deutschen, sein Tagebuch enthält den
Eintrag, dass "die Deutschen individuell das häßlichste Volk in Europa"
seien, doch notierte er über die Reaktionen der Bevölkerung auf den
bevorstehenden Einmarsch im Sudetenland:
"Was ich da am
heutigen Abend gesehen habe, läßt beinahe wieder ein wenig Vertrauen in das
deutsche Volk aufkommen. Sie sind mit tödlichem Ernst gegen diesen Krieg."
Verschiedene Situationen während des Krieges beschreibt der amerikanische
Korrespondent der United Press und der New York Times Howard
Smith in seinem Beobachtungsbericht Die Stimmungskurve der Deutschen.
Er erzählt von der Begegnung eines alten Mannes, der seinen Dackel im Zoo
spazieren führt, mit dem Kontrolleur am Eingang:
"»MORGEN. Schon
gehört, heute morgen sind wir in Norwegen einmarschiert.«
»JA«, sagte der
Besucher und nahm seine Zigarre aus dem Mund, »und in Dänemark auch.«
»JA«, sagte der
Kontrolleur und reichte die abgerissene Karte zurück.
»AUF WIEDERSEHEN.«
»WIEDERSEHEN.« Und der
alte Mann und sein Dackel gingen durch das Tor, um das merkwürdige Verhalten
der Tiere zu beobachten, der wilden wie der zahmen."
Auch andere
realisieren eine fast schon stoische Gelassenheit, wenn nicht
Gleichgültigkeit der Bevölkerung angesichts des Krieges, die auch als stumm
erduldetes Leid interpretiert wird. Smith jedoch vermerkt einen Anstieg der
Stimmungskurve, sie erreiche "eine absolute Rekordhöhe", "Deutsche, die vor
reiner, spontaner Freude lachten und weinten", als eine aus Frankreich
zurückgekehrte Division die West-Ost-Achse Berlins hinuntermarschieren
sollte und so ein "reales, fühlbares Zeichen des Sieges, das die Beendigung
eines Krieges anzeigte, den die Deutschen haßten und fürchteten."
Die Stimmungskurve
steigt also mit den Siegen der Deutschen; Verluste, Mangel an Lebensmitteln
und Kleidung in den späteren Kriegsjahren werden still ertragen. Still, wenn
nicht gar stumm, so schreibt der Ungar József Nyírö 1942, der auf einer
Bahnfahrt durch das Deutsche Reich keinen Mensch vom Krieg sprechen hört, da
alle der versteckten Drohung gemäß handeln: »Feind hört mit!«. Von der
Atmosphäre am Reichsehrenmal, an dem die Kränze für die Kriegsgefallenen
niedergelegt werden, berichtet er folgendes:
"Die Namen und die
kurzen Sätze schließen Schicksale ein, die die Schönheit und die Größe der
für das Vaterland gebrachten Opfer verkünden. Diese Innigkeit, Seelenwärme,
dieses Selbstbewußsein und dieser glückliche Stolz, das ist die deutsche
Geschichte selbst. Wer sie betrachtet, diese Zeichen des Gedenkens, fühlt
sich emporgehoben. Er sehnt sich fast nach einem solchen Kranz, damit auch
sein Name im Buch der Nation verzeichnet sei. Keinen Schrecken, keine Angst,
keine Auflehnung gegen den Tod, gegen den kalten Hieb des Geschickes fühlt
man hier, sondern Selbstbewußtsein, Einfachheit, Tiefe und Höhe. Denn sie
sind keine Opfer, sie sind die Gesegneten des Vaterlandes."
Diese Darstellung läuft allem zuwider, was in den vergangenen Wochen
anlässlich des sich zum 60. Mal jährenden Kriegsendes gesagt und geschrieben
wurde und verdient schon aus diesem Grund besonderer Beachtung.
Die letzten Erzählungen sind bekannte Szenen des Kriegsendes: Bombenalarm,
Angst und Schrecken, Nächte im Bunker, brennende Häuser, verzweifelte
Menschen. In Situationen der Bedrohung des eigenen Lebens und der
empfundenen Todesangst werden schließlich viele Menschen zu Opfern. Doch
selbst in jenen letzten Tagen begegnete den fremden Besuchern noch die
Überzeugung »Berlin bleibt deutsch.«
Diverse populistische Gedenkfeiern und dramatische Inszenierungen
zeitgenössischer Erinnerungen in den vergangenen Wochen vermittelten den
Eindruck, in Deutschland sei die Bevölkerung nie etwas anderes gewesen als
Opfer. Die vorliegende Veröffentlichung straft diese Inszenierung in jeder
Hinsicht Lügen. Die Verfolgung und Vernichtung der Juden war bekannt, wurde
selbst von kurzzeitigen Besuchern des Deutschen Reiches wahrgenommen und von
der einheimischen Bevölkerung aktiv unterstützt oder zumindest schweigend
hingenommen. Der Krieg war keine Überraschung, sondern lange vor 1939 von
der Mehrheit gewollt und wurde bis zuletzt von vielen unterstützt.
Facettenreich gibt das Buch "Reisen ins Reich 1933-1945. Ausländische
Autoren berichten aus Deutschland" Auskunft über den tatsächlichen Zustand
des Deutschen Reichs und seiner Bevölkerung in den Jahren 1933 bis 1945, wie
er sich in fremden Augen darstellte.
* Kursiv Gedrucktes im Original in
Deutsch.
hagalil.com
31-03-05 |