Micha Brumlik,
Rachel Heuberger und Cilly Kugelmann (Hg.):
Reisen durch das jüdische Deutschland
Dumont Literatur und Kunst Verlag 2006
Euro 49,90
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Das jüdische
Deutschland:
Wohin
geht die Reise?
Von
Miriam
Magall
Es
ist wohl vor allem für die Jüngeren gedacht, dieses umfangreiche Buch:
"Reisen durch das jüdische Deutschland", erschienen bei DuMont in Köln 2006.
Denn es wiegt schwer. Ein Blick ins Inhaltsverzeichnis belehrt jedoch, dass
es hauptsächlich die höheren Semester interessieren dürfte. Welche? Jüdische
oder nichtjüdische? Oder beide? Diese Frage zu beantworten, sei der
Verfasserin dieser Zeilen am Ende zu antworten gestattet.
Entsprechend seines beachtlichen Umfangs hat dieser Titel nicht einen,
sondern gleich drei Herausgeber, alle drei in der jüdischen wie
nichtjüdischen Welt angesehene Vertreter ihres Faches: Die eine leitet die
Hebraica- und Judaica-Sammlung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
und ist Gemeinderätin der Jüdischen Gemeinde in der gleichnamigen Stadt. Die
zweite wurde in eben dieser Stadt geboren, studierte
Erziehungswissenschaften und ist stellvertretende Direktorin des Jüdischen
Museums Berlin und der dritte im Bunde lehrt seit 2000 an der
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main
Erziehungswissenschaften. Beinahe eine Frankfurter Angelegenheiten, möchte
man meinen. Aber kleinkarierten Lokalpatriotismus darf man keinem der drei
vorwerfen. Ihr Blick ist auf die gesamte heutige Bundesrepublik gerichtet.
Damit das so umfassend wie möglich geschieht, haben sie 28 Autoren um ihre
Beiträge zu ihren Reisen durch das jüdische Deutschland gebeten und auch
noch selbst vier Artikel zum Thema verfasst.
Als Ergebnis werden auf insgesamt 480 großformatigen Seiten neun Städte
einzeln, drei weitere Städte in einem Artikel zusammen und noch einmal fünf
Regionen einzeln vorgestellt. Ein dritter Teil enthält eine Liste der
jüdischen Gemeinden im heutigen Deutschland, der KZ-Mahn- und Gedenkstätten
in Deutschland, weiterer Gedenkstätten, ebenso wie ausgwählte
Sehenswürdigkeiten in Ostdeutschland und eine kleine Auswahlbibliographie zu
Juden und jüdischer Geschichte in den neuen Bundesländern.
In ihrem kurzen Vorwort versprechen die Herausgeber einen Reiseführer, nicht
den üblichen mit Angaben von Restaurants und Hotels, sondern einen etwas
anderen, der im Unterschied zu den gängigen Vertretern dieser Gattung einen
Blick in die Tiefe und Genuss in Muße erlauben soll. Sie betonen die
ausführlichen Porträts von Landschaften, Städten und Regionen; in ihren
Hintergrundartikeln, handbuchartigen Einträgen und Essays entwerfen sie die
Umrisse von jüdischer Kultur, Religion, Geschichte und Tradition, erlauben
einen Exkurs in die Zeitgeschichte und zeigen neue Perspektiven auf. Ein
hoher Anspruch!
Beginnen wir mit den Stadtporträts. Natürlich sind die Städte mit den
größten Gemeinden wichtig. Dennoch. Die ausführliche Behandlung von den
Orten jüdischer Geschichte in Berlin wirken schon nach einigen Seiten eher
einschläfernd -- das scheint übrigens ein Charakteristikum aller Führer zum
jüdischen Berlin zu sein. Ein Stadtviertel nach dem anderen wird nüchtern
aufgelistet, man vermisst den Humor, für den Berliner im Allgemeinen und
auch Berliner Juden so berühmt sind. Und was der Leser noch vermissen wird,
ist der große Antisemitismusstreit, der im 19. Jahrhundert in Berlin seine
Triumphe feierte und den Boden für das Kommende im 20. Jahrhundert
vorbereitete. Geradezu erfrischend wirkt im Vergleich dazu der Artikel von
Richard Chaim Schneider über die jüdische Gemeinde in München, wenngleich
die von ihm beschriebenen Münchner Verhältnisse, wie jeder mit der jüdischen
Szene Vertraute in dieser Stadt bestätigen wird, um mindestens zehn bis
fünfzehn Jahre überholt sind.
Aber nicht nur das. Denn Schneiders Text
ist teilweise mehr als fehlerhaft, so dass ein falsches Bild von der
Münchner jüdischen Gemeinde entsteht. Teilweise gleitet der Text geradezu in
falsch geleitete Polemik ab; das liest sich zwar flott, wird der Gemeinde
aber nicht gerecht. Es ist schade, dass die Wahrheit der lockeren Schreibe
zum Opfer fällt. Spätestens die Herausgeber hätten hier eingreifen müssen.
Eher kalt kommen auch die Beiträge über die nächstgroßen jüdischen Gemeinden
in Deutschland daher: Dresden und Düsseldorf ebenso wie Frankfurt am Main
und Köln, wobei sich in Düsseldorf beinahe alles um den berühmtesten
jüdischen Sohn dieser Stadt, Heinrich Heine, dreht. Was ist so wichtig an
Halberstadt, an Leipzig, dass sie einen eigenen Artikel verdient haben?
Wohingegen Städte mit einer älteren jüdischen Tradition wie Würzburg oder
Heidelberg inmitten der Beschreibung kleiner und kleinster Dörfer mit einer
minimalen jüdischen Bevölkerung untergehen. Nur ganz nebenbei ist die Rede
von der Würzburger Orthodoxie und der Israelitischen Lehrerbildungsanstalt,
der einzigen Institution ihrer Art in ganz Deutschland. Stattdessen ist
etwas ausführlicher die Rede ausschließlich von alten Grabsteinen! Auch die
Tatsache, dass die Universität Heidelberg, die älteste Hochschule
Deutschlands, ihre ersten Gebäude den Juden der Stadt verdankt, wird mit
Stillschweigen übergangen. Bei der Beschreibung der Regionen wurde nicht
einmal die historische Entwicklung gebührend gewürdigt. Erzwungenes
Landleben, dann der Aufbruch in die Städte, als mit der Emanzipation auch
die freie Bewegung von Menschen und Gütern möglich wurde. Danach sucht der
Leser leider vergeblich.
Ja, das ist vielleicht das Charakteristischste an diesen Städteporträts. Sie
sind einfach zu nüchtern. Angenehmer kommen da schon einige der Essays
daher, von denen bei mehreren immerhin Anflüge von Humor oder Empathie zu
verspüren ist. Und doch, auch hier gibt es einiges zu kritisieren. Der Leser
möge der Verfasserin dieser Zeilen verzeihen, wenn sie dabei auf Mängel im
nur scheinbar Nebensächlichen verweist. In den Bibelzitaten wird der
Allmächtige durchaus richtig als "der Ewige" bezeichnet, in Zitaten aus
Gebeten dagegen als "der Herr". Dabei sollte man wissen, dass mit diesem
Begriff Jesus gemeint ist. Und Juden beten doch nicht zu diesem "Herrn".
Oder? Die Hebräische Bibel heißt auf Hebräisch "Tanach", nicht Tenach, wie
immer wieder zäh behauptet (u.a.s. auf S. 295). Und auch das berühmte Buch
der Kabbala heißt auf Deutsch das "Buch des Sohar" und nicht, wie im Text
geschrieben (S. 300), wo auch gleich zu bemängeln wäre, dass das berühmte
Reich, dessen Soldaten zweimal bis nach Wien vordrangen, das "Osmanische
Reich" hieß und nicht wie im Text (S. 300), wo einfach der englische Name
übernommen wurde. Auch sollte ein Text über Jüdisches es vermeiden, vom
"Heiligen Land" zu sprechen. So bezeichneten die christlichen Pilger diese
Region der Welt. Bei Juden heißt er eher das "Verheißene Land".
Ebenso unverständlich ist es, warum ein zentrales Element in einer jeden
Synagoge unbedingt mit seinem arabischen Namen, "Almemor", bezeichnet werden
muss, wenn es dafür einen schönen hebräischen, "Bima" nämlich, gibt. Salomon
Korn schreibt aus der Sicht eines Architekten. Deshalb erkennt er nicht die
Zäsur, die in den 1970er Jahren im Synagogenbau eintrat: von unscheinbar in
Hinterhöfen oder inmitten von Straßenzeilen versteckten nämlich hinaus in
die Sichtbarkeit. Damit wiederholt sich eine Entwicklung aus der Mitte des
19. Jahrhunderts. Auch damals traten die Synagogen erstmals öffentlich in
Erscheinung. Bei der Beschreibung von Synagogen, so der in Köln, S. 193, ist
wiederholt die Rede von einer "gotisch" geprägten Außenfassade. In
Ermangelung einer Abbildung im hier diskutierten Buch schaut man sich in
anderen Veröffentlichungen die Außenfassade, manchmal auch das Innere der so
definierten Synagoge an und reibt sich verwundert die Augen: Von "gotisch"
ist da keine Spur. Kann auch nicht sein, denn gerade die Gotik wurde von
Erbauern bzw. Auftraggebern von Synagogen peinlichst vermieden, galt doch
gerade die Gotik als der Kathedralenstil schlechthin. Romanik und
Neoromanik, ägyptisierender Stil und auch Klassizismus, durchaus, aber Gotik
für eine Synagoge? Wer so etwas schreibt, hat keine Ahnung von Synagogenbau!
Dass in Hamburg der jüdische Friedhof "geweiht" wurde -- welchem Heiligen?
--, begegnet in deutschen Publikationen über Jüdisches leider allzu oft.
Dass die Synagogen, nicht nur in Hessen, in der so genannten
Reichspogromnacht, auch "Reichskristallnacht", geschändet und zertrümmert
wurden, ist leider eine bekannte Tatsache. Aber wie wurden sie "entweiht",
wenn Synagogen -- im Gegensatz zu einer Kirche -- nicht geweiht werden? Wem
wohl, kann man da nur fragen. Und ziemlich verwässerte Tatsachen werden
präsentiert, wenn es lapidar heißt: "Nicht allen gelang die Flucht" (S. 194)
oder die "jüdische Gemeinde verkaufte ihre Gotteshäuser" (S. 177). Und was
ist das für eine Todesart: "die auf grausame Weise umkamen" (S. 226)? Der
Medizin ist sie jedenfalls unbekannt. Wieso wird über die Tatsache
gespottet, dass die ersten Synagogen nach 1945 unauffällig waren, wieso
gleichen sie heute oft einem "Hochsicherheitstrakt" (S. 230--239)? Ist das
ein Grund, sich über die jüdische Gemeinde lustig zu machen, statt die
Bewohner des Landes zu fragen, in dem sie stehen, warum man wohl solche
Sicherheitsmaßnahmen ergreifen muss. Um zum Beispiel Brandanschläge auf das
jüdische Altersheim in München im Jahr 1970 zu verhindern, bei dem sieben
Bewohner ihr Leben verloren. Dieser Anschlag "konnte bis heute nicht
aufgeklärt werden" (S. 230).
Warum, möchte die Verfasserin dieser Zeilen von den Herausgebern wissen, ist
nur vom Jiddischen die Rede? Zumindest in Hamburg sprachen die Juden auch
Ladino, kamen sie doch ursprünglich aus Spanien und Portugal. Das ist
irgendwie typisch für das eurozentrische Denken auch jüdischer Autoren. Für
sie gibt es nur Europa und Jiddisch. Mehr Information hätte die Verfasserin
dieser Zeilen sich auch gewünscht zu den Juden im Ruhrgebiet und in
Schleswig-Holstein, die in den "Reisen" ebenfalls vorkommen, was sonst im
Allgemeinen eher nicht der Fall ist. Aber wenn, dann bitte ausführlicher!
Aufschlussreich ist dagegen die Information über die Entwicklung jüdischer
Philosophie ebenso wie über jüdische Studien in Deutschland, die jüdische
Literatur nach 1945, Juden und Juden auf dem deutschen Theater nach 1945 und
jüdische Zeitreisen durch ein jüdisches Deutschland. Der Artikel über den
christlich-jüdischen Dialog in der BRD Deutschland zeigt auf beklemmende
Weise, dass es wohl eher die Christen sind, die seiner bedürfen, als die
Juden. Das spiegelt sich auch unmissverständlich in der Zahl der jüdischen
Mitglieder in den Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit
wieder, weiß die Verfasserin dieser Zeilen aus eigener Erfahrung. Und
natürlich stimmt es, dass die Juden in Deutschland inzwischen wieder ihre
Koffer ausgepackt haben.
Es ist also ein eher gemischtes Angebot, zum Positiven wie zum Negativen,
das sich zwischen den Buchdeckeln verbirgt. Knappe Information, die
schmerzlich nach mehr dürsten macht -- leider nur dürftig gespeist mit einem
knappen Angebot an weiterführender Literatur. Als Beispiel sei jene über
Judentum erwähnt, die heute auf Deutsch verfügbar ist. Dort wird man solche
Standardwerke wie Rabbi Laus "Wie Juden leben" und Rabbi de Vries' "Jüdische
Riten und Symbole" ebenso vermissen wie Arthur Herzbergs "Judaismus" und R.
Kolatchs "Jüdische Welt verstehen" (in der neuen Übersetzung). Und natürlich
sind die Briefmarken großen Abbildungen ein Ärgernis. Denn damit kommen wir
zum intendierten Publikum für dieses mächtige Werk. Die Jungen, die sich,
altersbedingt, kaum dafür interessieren dürften, können vermutlich mühelos
erkennen, was auf diesen Briefmarken abgebildet wird. Die Älteren, die das
Werk wohl hauptsächlich anspricht, brauchen dagegen ein Vergrößerungsglas,
um auch nur annähernd zu erraten, was da gezeigt wird.
Und dann wäre noch abschließend diese letzte Frage zu beantworten, nachdem
die über das Alter der potenziellen Leser schon beantwortet wurde: Juden
oder Nichtjuden? Von den heute in Deutschland lebenden 100 000 Juden ist nur
etwas mehr als ein Viertel der deutschen Sprache soweit mächtig, dass sie
sich an ein dermaßen mächtiges Werk heranwagen würden. Überdies beinhaltet
diese Zahl auch noch die Säuglinge und die ganz Alten, die das Buch
vielleicht nicht einmal hochheben können. Bleiben also die Nichtjuden, die
in der Mehrzahl sind. Immerhin hat Deutschland mehr als 80 Millionen
Einwohner. Einen bestimmten Prozentsatz unter ihnen dürfte das Buch
ansprechen und ihnen einen ersten, sehr oberflächlichen Überblick über
jüdisches Leben in Deutschland heute und dazu gleichzeitig einen knappen
Rückblick in die Vergangenheit geben. Auf jeden Fall heißt das Fazit für
dieses mächtige und ähnlich umfangreich gestaltete Werk: Man kann zwischen
zwei Buchdeckel, so sehr man sich auch anstrengen mag, nur Information immer
nur in einem bestimmten Umfang pressen. Und die bleibt leider allzu häufig
eben doch recht oberflächlich.
hagalil.com
26-04-06 |