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Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau:
"Du bist nicht so wie andre Mütter"

[Angelika Schrobsdorff]

»Sie war so kompliziert wie ein Puzzle, das aus Tausenden Stücken zusammengesetzt ist - und ich mußte diese Teile finden und ineinanderfügen«, schreibt Angelika Schrobsdorff über ihre Mutter.

Die Teile, die sie benutzt, sind Briefe, Fotoalben, Erinnerungen von Freunden und für die spätere Zeit gemeinsam gelebtes Leben. Begonnen hat alles voller Harmonie in einem begüterten jüdischen Geschäftshaus im Berlin des Jahrhundertbeginns. Else Kirschner, sprühend vor Charme, mit dunklen Locken und leuchtenden Augen, liebte die rührend um sie besorgten Eltern, und sie liebte das Leben, das ihr Jahre des Wohlstands bescherte, angefüllt mit Theater und Konzerten, Ferien im Sommerhaus am See und großen Leidenschaften.

Doch die Nazis setzen dem ein jähes Ende. Else, inzwischen mit dem preußischen Junker Erich Schrobsdorff verheiratet, flieht mit ihren beiden Töchtern nach Bulgarien...

Voller Leidenschaft, aber ohne Pathos, voller Mitgefühl und Bewunderung und dennoch mit kritischem Blick erzählt Angelika Schrobsdorff von den beiden Leben ihrer Mutter. Das Schweizer Magazin tachles schrieb am 9.11.2007: »Angelika Schrobsdorff porträtiert ihre Mutter liebevoll, aber ohne Weichzeichner. Das richtige Buch, um die Autorin, die in diesem Jahr ihren 80. Geburtstag feiert, kennen zu lernen oder wiederzuentdecken.«

Hier ein Auszug aus dem Buch der zur Zeit in Berlin lebenden Autorin:

Heute, am 30. Juni, ihrem Geburtstag, habe ich das schmale, hohe Büchlein aus meiner Truhe der Vergangenheit geholt. Es ist aus festem Karton mit schwarz-goldener Randverzierung und goldener Aufschrift.

LEBENSLAUF
unseres Kindes
ELSE

steht darauf.

Die Ecken des Buches sind ein wenig abgestoßen, sonst macht es den Eindruck, als sei es neu. Es ist 98 Jahre alt. Auch die ersten eingehefteten Löckchen des Kindes Else sind 98 Jahre alt und sehen aus, als wären sie vorgestern abgeschnitten worden. Sie sind braun, dann honigblond, schließlich, im Jahr 1897, kupferrot. Sind Haare etwas Unvergängliches? Werden sie nicht zu Staub? Sie fühlen sich seidig an unter meinen Fingerspitzen. Als ich Else, meine Mutter, kennenlernte, war ihr Haar bronzefarben und stark wie das einer Pferdemähne. Sie sah immer unfrisiert aus, auch wenn sie gerade vom Friseur kam. Die dichten, kurz geschnittenen Locken waren nicht zu bändigen. Es war nicht das einzige an ihr, das nicht zu bändigen war. Ich hätte gerne ihr Haar geerbt und ihre Vitalität. Aber in diesen Punkten - und in noch einigen mehr - ist mein Vater bei mir durchgeschlagen.

O Gott, die ungereimten Gedanken, die mich beim Anblick des kleinen, roten Buches überfallen, die Erinnerungen, die Sehnsucht! Sehnsucht nach der Vergangenheit, die ich gelebt habe, Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe. Berlin um die Jahrhundertwende. Was stelle ich mir darunter vor? Eine heile, da vergangene Welt wahrscheinlich: Trambahnen und zweistöckige Autobusse von Pferden gezogen; Kopfsteinpflaster und Gaslaternen; solide, milchkaffeefarbene Wohnhäuser und »herrschaftliche« Villen in großen Gärten; Leierkästen, Blumen- und Obststände, Würstchen- und Zeitungsverkäufer; die ersten Warenhauspaläste; Ballsäle, Cafes mit Stehgeigern, elegante Speiselokale mit befrackten Obern, Varietes, Theater; Parks, in denen sich Grün auf Grün türmt, düstere Prachtbauten, eherne Denkmäler; der Kurfürstendamm und Unter den Linden, auf denen Herren im Stresemann und Damen mit Muff, blumenbewachsenen Hüten und hochgeschnürtem Busen auf und ab flanieren; und rings um die Stadt herum Seen, die Spree, Fichtenwälder, wohin man in Droschken fuhr, picknickte, ruderte, in Gartenlokalen mit flotten Militärkapellen Weißbier trank und Buletten aß.

Die Kindheitswelt meiner Mutter. War sie so? War sie heil? Es sieht danach aus. »Ich war das kleine, geliebte Mädchen zärtlicher Eltern, jüdischer Eltern, die ja die zärtlichsten sind, die es gibt. Wir, mein drei Jahre jüngerer Bruder Friedel und ich, waren glückliche Kinder, denen es an nichts gefehlt hat.« So schrieb sie.

Die Lebenslaufeintragungen ihrer Mutter Minna fallen spärlich aus, und ich kann mir denken, warum. Minna hatte einen strengen literarischen Geschmack, und das Buch, das ihr wahrscheinlich eine ihrer zahllosen Verwandten geschenkt hatte, war gespickt mit peinlichen Gedichten, wie etwa: »Drauß blüht's so prächtig / Alles steht in Duft und Glanz / Um die schaukelnde Wiege / Schweben die Engel in himmlischem Tanz.«

Überkandidelt nannte sie so was. Sie machte viel Gebrauch von diesem Wort. Ein Hut konnte überkandidelt sein, eine Person, eine Nachspeise, sogar ein Begriff. Die Vorstellungen, die sich mancherlei Menschen, besonders junge, von der Liebe machten, waren zum Beispiel vollkommen überkandidelt. Liebe zwischen Mann und Frau war nichts anderes als Einbildung. Die einzig große Liebe und das einzig wahre Glück einer Frau waren Kinder, und zu diesem Zweck ging man eine Ehe ein, eine vernünftige, von den Eltern überdachte und geplante Ehe. Was ging einen die Welt an, wenn man eine Familie hatte, in der man sich geborgen fühlte, die einen brauchte, für die man da sein mußte und wollte, vom ersten bis zum letzten Tag.

Das war Minnas Einstellung, und das war die Voraussetzung, unter der sie den lustigen, warmherzigen Daniel Kirschner heiratete, der einen kleinen Bauch hatte, Augen wie Wassertropfen und ein Engrosgeschäft für Kleider, Blusen und Morgenröcke. Zwei Jahre später wurde Else geboren.

Die Geburtsanzeige, gewiß in einer jüdischen Zeitung erschienen und auf die erste Seite des roten Büchleins geklebt, ist bescheiden:

»Durch die glückliche Geburt eines munteren Töchterchens wurden hocherfreut DANIEL KIRSCHNER UND FRAU MINNA, GEB. COHN Berlin, den 30. Juni 1893«

Wie mag sie ausgesehen haben damals, die kleine, zarte Minna, die ich nie anders gekannt habe als in schwarzen Kleidern, aus denen allein die Hände und das Gesicht hervorragten, ein langes, schmales, von Skepsis und Melancholie verdüstertes Gesicht, das sich sofort aufhellte und leuchtete, wenn sie ihre Enkel um sich hatte. Sie trauere immer noch um ihren Sohn, hatte mir meine Mutter erklärt, sie käme nicht über seinen Tod hinweg. Siegfried, der glücklicherweise Friedel genannt wurde, war 1918 an der spanischen Grippe gestorben. Ich habe nie ein Photo von ihm gesehen oder ein Wort von meinen Großeltern über ihn gehört, denn schon die Erwähnung seines Namens hätte sich auf Minnas Gemütsverfassung verheerend ausgewirkt.

Ich kann mir also kaum vorstellen, wie sie als junge Frau ausgesehen hat, in hellen Kleidern, ein übermütiges Lachen im Gesicht. Nein, übermütig war sie wohl nie, aber bestimmt zufrieden, denn ihr Leben, an das sie keine überkandidelten Ansprüche stellte, hatte sich ja in einer vernünftigen Ehe mit einem guten, sanften Mann und der Geburt eines gesunden Kindes erfüllt. Vielleicht war sie sogar heiter gewesen oder zumindest heiterer, eine Veranlagung zur Melancholie hat sie wohl immer gehabt.

Ihre Vorfahren kamen aus Spanien, und das sephardische Blut hatte ihr Äußeres geprägt: den hellen Olivton ihrer Haut, die fast schwarzen, mandelförmigen Augen, die Pracht ihres dichten, gewellten Haares, das sie, zu meiner Zeit, in einen dicken, eisengrauen Zopf auf ihrem Kopf feststeckte. Die gotische Schrift, mit der sie die wichtigsten Entwicklungsfortschritte ihrer Tochter in das rote Buch eintrug, ist so zart und ordentlich, wie sie selber war. Sie vermerkt Gewichtszunahme, Impfungen, den ersten Zahn, die ersten Schritte, die ersten Worte. Aus den Seiten mit dem Titel >Tagebuch< erfahre ich, daß Elschen bereits mit zweieinhalb Monaten ihr erstes Kleidchen trägt, mit neun Monaten ihr erstes Trotzköpfchen aufsetzt, mit einem Jahr photographiert wird - das Bild ist gut getroffen -, mit eineinhalb Jahren >Anna Marie<, >Fuchs, du hast die Gans gestohlen< und >Nun reibet euch die Äuglein wach< singt, mit zwei und einem viertel Jahr den ganzen >Struwwelpeter< auswendig aufsagen kann, mit viereinhalb Jahren in die Spielschule kommt und ihre erste Handarbeit macht, die recht niedlich gelungen ist.

Diese Notizen lassen bereits klar den vorgeschriebenen Lebensweg der kleinen Else erkennen. Sie wird vom Babyalter an auf eine wohlsituierte Ehe getrimmt, in der sie nichts anderes sein muß und darf als Weibchen und Mutter.

Es ist zweifellos Minna, die in der Familie den Ton angibt, und Daniel läßt es protestlos zu. Er liebt und achtet seine Frau, die ihm nie die Wärme und Zärtlichkeit gibt, die ihm mehr wert gewesen wäre als die tadellose Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten. Er anerkennt sie als die Gescheitere und Gebildetere, denn sie kommt aus einem weitaus besseren Haus als er. Sigmund, ihr Vater, war Arzt in Westpreußen, Aaron, sein Vater, Bäcker an der polnischen Grenze. Sie hatte fünf Geschwister und eine gute Erziehung, er hatte neun Geschwister und mußte mit vierzehn Jahren die Schule verlassen. Sie hatte Bücher gelesen und Klavier gespielt, er hatte mit seinen acht Brüdern die Brote ausgetragen und im Synagogenchor gesungen. Seine Mutter war früh an der elften Entbindung gestorben, sein Vater, ein orthodoxer Jude, hatte tagsüber in der Bäckerei geschuftet und abends bis spät in die Nacht die Thora gelesen und den Talmud studiert. Nach vorzeitigem Schulabgang waren die neun Söhne in die Welt geschickt worden, damit sie, wo und wie auch immer, ein Handwerk lernten. Sie waren alle neun in dem vielversprechenden Berlin gelandet und hatten sich dort eine gutbürgerliche Existenz aufgebaut. Im Alter zog der fromme Vater ebenfalls nach Berlin, wo er bei einem seiner Söhne lebte. Er stellte mit Schaudern fest, daß seine in strenger Gesetzestreue erzogenen Kinder die Gebote des Herrn aufs ärgste vernachlässigten und sich von der gottlosen Zeit verführen ließen.

Ich kenne nur eine Geschichte über meinen Urgroßvater Aaron. Vermutlich war es die einzige, die Else, in ihrer Folgenschwere, nie vergessen hat. Sie muß sie mir irgendwann nach meinem dreizehnten Lebensjahr erzählt haben, denn davor hatte ich - und das durch meinen Vater - nur von einem Juden gehört - und der war Jesus.

Hier also die Geschichte: Mit viereinhalb kam Else in die sogenannte Spielschule und dadurch zum erstenmal mit christlichen Kindern in Berührung. Die waren genauso wie sie, lachten wie sie, spielten wie sie, trieben Unfug wie sie, sprachen wie sie. Doch als sich Weihnachten näherte, trat eine Veränderung ein. Die Kinder sprachen anders als sie, sprachen nur noch über Dinge, von denen sie nie zuvor gehört hatte: vom Christkind und Weihnachtsmann, von Joseph, Maria und den drei heiligen Königen, darunter ein Mohr. Sie sprachen von Geschenken, Weihnachtsbäumen, Engeln, Christsternen und Krippen mit sämtlichem Zubehör: Jesuskindlein, das hochheilige Paar, Esel und Ochs.

"Lauter dummes Zeug«, sagte Minna, als ihre Tochter sie mit Mitteilungen und Fragen bestürmte, »hör nicht hin.« Doch Else hörte hin, dachte an nichts anderes mehr, träumte davon. Kurz vor dem großen Fest wurde in der Spielschule ein Weihnachtsbaum aufgestellt und von den Kindern herrlich bunt und glitzernd geschmückt. Sie standen mit gefalteten Händen davor und sangen ein Weihnachtslied nach dem anderen. Else, die ja schon mit eineinhalb Jahren >Fuchs, du hast die Gans gestohlen< singen konnte, schnappte die Lieder sofort auf und sang sie zu Hause ihren Eltern vor. Die zuckten bei dem »holden Knaben im lockigen Haar« zusammen und beschlossen, Else während derart gefährlicher Feiertage nicht mehr in die Spielschule gehen zu lassen. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Das Kind wollte unter allen Umständen einen Weihnachtsbaum. Es tobte und schluchzte so lange, bis die Eltern, zermürbt und selber den Tränen nahe, ein kleines Bäumchen anschleppten, dazu ein paar Kugeln und Lametta. Kerzen gab es keine, denn Daniel hatte panische Angst vor einem Brand und war in diesem Punkt fest entschlossen, den »Goyim naches« nicht nachzugeben. Als nun die Tanne, karg geschmückt, dastand und Else mit gefalteten Händen >Stille Nacht, heilige Nacht< anstimmte, klingelte es. Daniel, Böses ahnend, lief zur Tür, spähte durchs Guckloch und sah einen aufgefächerten weißen Bart und einen großen schwarzen Hut. Wenn das kein Zeichen des Herrn war, was war es dann! Er rannte ins Zimmer zurück, packte das Bäumchen und warf es in die Besenkammer. Daraufhin warf sich Else auf den Boden und brüllte nach ihrem Weihnachtsbaum. Der Großvater, endlich hereingelassen, stand auf der Schwelle und betrachtete stumm und ernst die Szene: seine Enkelin, die vom bösen Geist besessen war, seinen Sohn, dem der Schweiß über das Gesicht lief, seine Schwiegertochter, die weiß wie die Wand war. Die Kleine sei vollkommen überkandidelt, sagte Minna schließlich, und das sei ja auch kein Wunder bei diesem ganzen Weihnachtsbaumrummel.

Überall Weihnachtsbäume, sagte Daniel, und jetzt habe das Kind Fieber und phantasiere.

Else wurde ins Bett gesteckt, und Minna setzte sich zu ihr und streichelte ihr heißes, verzweifeltes Gesicht. Es gäbe Wichtigeres als Weihnachtsbäume, tröstete sie, und morgen würde sie die Chanukka-Kerzen anzünden.

Am nächsten Tag nahm Daniel seine Tochter auf den Schoß und weihte sie in das Judentum ein. Er erzählte ihr von einem Tempel im fernen Morgenland, der zerstört, und von einem Volk, das in die ganze Welt zerstreut worden war. Er erzählte ihr von einem einzigen Gott, der keinen weißen Bart und schon gar nicht einen Sohn hatte. Und der sei ihr Gott.

Else fand die Geschichte vom Christkind schöner, und ein Gott, der kein Gesicht und keinen Familienanhang hatte, sagte ihr auch nicht zu.

Es war der erste Sprung im heilen Leben der kleinen Else, und wenn sie überhaupt etwas verstanden hatte, dann das, daß sie aus merkwürdigen Gründen anders war als die Kinder in der Spielschule und darum nie mehr einen Weihnachtsbaum in der eigenen Wohnung haben würde.











 

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