Im März 1985 also noch
vor dem Frischenschlager-Reder Skandal und vor der antisemitischen
Wahlkampagne von Kurt Waldheim wurde in Paris ein internationales
Symposium "Les juifs viennois - De la fin de siècle à la deuxième guerre
mondiale" veranstaltet. Hauptsächlich aus diesen Beiträgen entstand die
erste Ausgabe dieses Buches, für das sich - und das sagt mehr über
dieses Land aus, als alle Festreden über das Kulturland Österreich -
kein österreichischer Verlag interessierte und das in Deutschland
herausgegeben werden mußte und schon seit geraumer Zeit vergriffen ist,
weil es für diejenigen Studenten und politisch interessierten Menschen,
die sich für dieses Thema interessieren eine Pflichtlektüre ist.
Nun hat der Wiener Czernin Verlag gewagt
diesen gebundenen, 447 Seiten umfassenden Sammelband herauszugeben. Die
Herausgeber, Gerhard Botz, Ivar Oxaal und Nina Scholz haben ganze Arbeit
geleistet, sie ließen die Beiträge von den Autoren überarbeiten und
gewannen auch neue Autoren dazu.
Carl Schorske veröffentlichte 1980 in
London sein Buch "Fin-de-Siècle Vienna", das einige, aber nicht alle
Paradoxe dieser damaligen Weltstadt behandelte. Nachdem man zuerst im
Ausland, auf dieses Wien der Moderne aufmerksam wurde, verstand man auch
in Wien daraus politisches und touristisches Kapital zu schlagen.
Man entdeckte auch in Wien die Liebe zu den Juden, die hauptsächlich im
Ausland berühmt wurden, zumal ja die meisten schon nicht mehr am Leben
waren und ihr Ruhm auch auf das heutige Wien ausstrahlen sollte.
Österreichische Politiker betonten in ihren an ein kultiviertes Publikum
oder an Ausländer gerichteten Reden, den "jüdischen Beitrag zur
österreichischen Kultur" und das half auch den Wissenschaftlern sich mit
der bis dahin vernachlässigten Geschichte der Juden und des Wiener
Antisemitismus zu beschäftigen.
Gerade dieser zwang junge Juden sich mit ganz neuen Gebieten der
Wissenschaften zu befassen. In diesem Schmelztiegel der Völker, das Wien
vor dem ersten Weltkrieg war, wurde nur eine Gruppe nicht integriert und
das waren die Juden. Das Buch handelt von den Identitäten und dem
Selbstverständnis der Juden aber auch von den verschiedenartigen
Spielarten des insbesondere in Österreich verwurzelten Antisemitismus.
Der Sammelband endet nicht mit der Schoah,
sondern schildert auch das bis heute sehr problematische jüdische Leben
in Österreich nach der Befreiung Österreichs durch die Alliierten. Im
Band ist auch ein interessantes Interview mit dem "liegend getauften"
berühmten Kunsthistoriker Ernst Gombrich.
Der in England lebende Schriftsteller
George Clare hat einen launigen Nachtrag zu seinem Buch "Letzer Walzer
in Wien" verfaßt, in dem er optimistisch darauf hofft, daß der "Herr
Karl" endlich von der Bühne abtritt. Die eher pessimistische
Filmemacherin Ruth Beckermann schließt mit ihrem Beitrag das Buch und
ihre letzten Absätze lauten: "Mag sein, dass Österreich seine Rolle in
Europa gefunden hat, als Hort der Reaktion, als Vendée des 21.
Jahrhunderts, Vorbild und Zentrum für alle anderen fremdenfeindlichen
Bewegungen, die sich in dieser Umbruchszeit bilden.
Für Juden ist es nicht der richtige Ort.
Wie überzeugt sie selbst auch davon sind,
sich als Österreicher für das eine oder das andere Österreich zu
engagieren, von den anderen werden sie nach wie vor und mehr als seit
langem als unösterreichisch wahrgenommen. Denn eine chauvinistische
Gemeinschaft beruht auf dem Ausschluss der anderen. Ob sich ihr Hass nun
offen gegen Juden richtet oder andere Zielgruppen auswählt, auf diesem
historischen Boden sind immer auch die Juden - die Anderen par
excellence - gemeint."
Dem stimmt auch der Rezensent zu, der
trotzdem hofft, dass viele junge und alte Menschen diese Dokumentation
einer zerstörten Kultur, die gerade am Ort des Erfolgs von Georg von
Schönerer und Karl Lueger blühte, käuflich erwerben und lesen werden.
haGalil onLine
04-10-2002 |