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Stephan Grünewald:
Deutschland auf der Couch
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Gelähmte Nation:
Und überall Angst vor dem Leben

Von der Paralyse zur Analyse: Der Psychologe Stephan Grünewald hat Deutschland auf die Couch gelegt

Von Tobias Kaufmann
Erschienen in: Die Welt, 8. April 2006

Wir leben heute in einer Welt, in der wir zwar die Freiheit gewonnen, aber den Sinn und die Zukunft verloren haben." Dieser brutale Satz ist eine Hauptthese des Psychologen Stephan Grünewald in seinem gerade erschienenen Buch "Deutschland auf der Couch". Grundlage der Studie sind mehr als 20 000 Tiefeninterviews des Kölner Forschungsinstituts "Rheingold", das Grünewald mitbegründet hat. Ihr Ergebnis: Die Deutschen sind eine gelähmte Nation, lebensängstlich, hoffnungslos verträumt. Eine Nation, die das Gefühl, daß ihr alles entgleitet, mal durch Aktionismus, mal durch Realitätsverleugnung überspielt, statt Aufbruchstimmung zuzulassen. Denn wer Hingabe zeigt, so Grünewald, läuft Gefahr, verletzt zu werden. Und vor nichts haben wir mehr Angst.

Die Generation, die Mitte der neunziger Jahre im Teeny-Alter war, charakterisiert der Psychologe mit dem Schlagwort "coole Gleichgültigkeit". Im Gegensatz zu den Eltern - Achtundsechziger, die sich über alles echauffierten, ohne real etwas zu bewegen -, zögen sich die jungen Deutschen auf eine ironisierende Beobachterposition zurück, in der sie sich unverletzlich wähnen. Böse könnte man sagen: Diese Jugend verpaßt all ihre Chancen im realen Leben, während sie davon träumt, eines Tages "Superstar" bei RTL zu werden.

Grünewald hat vieles richtig beobachtet. Vielleicht gerade deshalb stürzt sein Buch immer mal wieder geradewegs in die deutsche Paranoia. Deutsche Unzulänglichkeiten sind offenbar nicht spektakulär genug. Deshalb muß gleich ein ganzes Modell am Ende sein: das digitale Zeitalter, der voyeuristische Liberalismus, der Westen an sich. Ausgerechnet die Anschläge vom 11. September 2001 führt Grünewald als Beweis an. "Das Bild der zerstörten Türme reiht sich ein in die ewigen biblischen und kulturgeschichtlichen Katastrophenbilder vom zerstörten Paradies, der Sintflut, dem Turm zu Babel, Sodom und Gomorrha oder dem Untergang der Titanic." Sind es wirklich die Deutschen oder ist es der Psychologe, der zusammenrührt, was nicht zusammengehört: göttliche Strafen, ein schnöder Eisberg und ein zutiefst weltliches Verbrechen? "Die ... Botschaft des 11. Septembers ist, daß unser Lebensmodell in der bisherigen Form nicht mehr zu halten ist", schreibt Grünewald. Sollten die Deutschen wirklich in Metaphern von Osama Bin Laden denken? Dann gehörten sie allerdings dringend auf die Couch.

In Wahrheit sind die Träume des Westens nicht ausgeträumt. Sie sind stärker als je zuvor, und sie werden Realität. Allerdings fast ausschließlich außerhalb unserer Grenzen - zumindest fühlt es sich für viele so an. Seltsamerweise wird fast jeder Deutsche, den man auf der Straße anspricht, die Globalisierung für eine amerikanische Angelegenheit halten. Aber das ist Quatsch. Europa besitzt über die internationalen Aktienmärkte einen wachsenden Teil Amerikas. Geschätzt drei Millionen Menschen arbeiten für deutsche Firmen im Ausland. Neun Prozent der Direktinvestitionen im Ausland kommen von deutschen Firmen. Das bedeutet Platz drei unter den Nationen der Welt. Wir leben sehr gut von den Bedingungen und Chancen, die Grünewald aus Sicht des Psychologen als gescheitert ansieht. Aber wir wollen nichts davon wissen. Was diesem Land fehlt wie nichts sonst ist Selbstvertrauen.

Die "Rheingold"-Daten stützen diese These. Die Deutschen leben, als befänden sie sich in einer Gummizelle, die Franz Kafka gebaut hat. Je eine Wand steht für Selbsthaß, Selbstmitleid, Egozentrik und Selbstüberschätzung. Meistens sitzen die Deutschen auf einer Wohlstands-Luftmatzratze in der Mitte. Manchmal rennen sie gegen eine der gepolsterten Wände, um von dort wieder auf die Matte geschleudert zu werden. Dummerweise verliert sie täglich Luft. Die Landungen werden härter. Und die ganze Zeit ist die Tür offen - man müßte nur die die Klinke herunterdrücken. "Resignation ist der Egoismus der Schwachen", hat der Fußballtrainer Jörg Berger einmal im Abstiegskampf gesagt. Das paßt in all seiner Härte schön auf unsere Seelenlage. Wo sonst wird in die Ankündigung einer Regierungschefin, "mehr Freiheit wagen" zu wollen, als Bedrohung empfunden?

Deutschland ist in Panik. Teils zu Recht, teils aus Projektion. Gleichzeitig klopft sich die Nation unablässig stolz auf die Schulter, daß es die einzig richtigen Lehren aus der Geschichte gezogen hat, daß es aller Welt zeigen kann, wo es lang geht. Sind wir nicht viel kultivierter, gemäßigter, besser als die wildgewordenen Mullahs und die arroganten Turbokapitalisten jenseits des Atlantiks? Aber wenn wir wirklich glauben, daß wir die Guten sind - warum sind wir nicht glücklich? Warum bekommen wir immer weniger Kinder? Vielleicht sind wir doch nihilistische, feige Egoisten? Es ist schon richtig, was Grünewald schreibt: Es gibt eine "deutsche Angst vor Visionen". Aber seine Vermutung, daß wir Angst hätten, starke Leidenschaften führten - wie im Dritten Reich - in flammenden Wahnsinn, klingt bemüht. Passender ist Grünewalds tiefer gehendes Psychogramm: Wir haben Angst, daß da draußen das Leben lauert. Alltag. Niederlagen. Mieses Wetter.

Nicht die Träume des Liberalismus sind daran schuld, sondern die deutsche Kuscheligkeit und der Irrglaube an eine Platonsche Idealwelt hinter dem Profanen. Die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies, die Grünewald "Zerstörung" nennt und in eine Reihe mit dem 11. September stellt, ist kein biblisches Horrormärchen. Die Menschheit ist nicht bestraft worden für das Streben nach Erkenntnis. Gott hat uns das wahre Leben geschenkt, ein einziges, reiches und, ja, mühseliges Leben.

Am Ende will Grünewald Mut machen, indem er schreibt: "Wir können hier und jetzt den neurotischen Stillstand unserer Gesellschaft aufbrechen, wenn wir uns wieder beherzt und uncool auf die Risiken der Entwicklung und des Schicksals einlassen." Eine Forderung, mit der sinngemäß auch ein Lied von Heinz Rudolf Kunze beginnt: "Arbeiter! Fasse dir an die eigene Nase - und tanz'!" Eine schöne, unerfüllte Metapher.

hagalil.com 12-05-06











 

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