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Zeruya Shalev:
Späte Familie
Berlin Verlag 2005
Euro 22,00

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Zeruya Shalev:
Späte Familie

Von Katrin Schuster

Die Geschichte wäre schnell erzählt: Eine Frau trennt sich von ihrem Mann; dass die beiden ein gemeinsames Kind haben, macht die Sache nicht einfacher. Dann verliebt sie sich in einen Anderen und wagt den Versuch, eine neue Familie zu gründen.

Die Geschichte ist längst nicht so schnell erzählt, zum Glück: Der Roman "Späte Familie" der israelischen Autorin Zeruya Shalev ist mit beinahe 600 Seiten das umfangreichste ihrer Bücher. Er bildet zugleich das Ende ihrer Trilogie über die Liebe in unseren Zeiten. Zeruya Shalev schrieb weiter, wo sie im Jahr 2000 vorläufig unterbrochen hatte: In "Mann und Frau", dem zweiten Teil nach "Liebesleben", erzählte sie von der Krise einer Ehe. "Späte Familie" beginnt mit einer Trennung.

Nein: Es beginnt mit dem Satz "Ich bin tot", den Ellas Sohn Gili ihr heiter entgegenschleudert und weiterspinnt. "Ich bin nur ein Traum, singt er, du träumst die ganze Zeit. Am Schluss findest du heraus, dass du gar keinen Sohn hast, für einen Moment schweigt er und betrachtet mein Gesicht mit tanzenden Augen, mein Erschrecken vergrößert sein Vergnügen, seine neue Boshaftigkeit, die an diesem Morgen geboren wurde, sechs Jahre nach ihm, und ihn schon einhüllt wie die Gewänder, die er früher so gerne getragen hat."

Meist sind Zeruya Shalevs Sätze noch länger, dieser schlängelnde Sog aber ist immer da, der den Leser kaum innehalten lässt, so zieht es ihn, so sinkt er gerne hinein in diesen Strom, immer weiter, nur weiter. Und wenn Zeruya Shalev schon mal Punkte in ihr herrlich manisches Mäandern setzt, dann sind das deutliche Zeichen. Die Beschreibung von Gili findet ihr erstes Ende in einer solch abrupten Zäsur: "Er hasst es, wenn man ihm beim Spielen zuschaut, er hasst es, wenn ihm die Sonne in die Augen scheint, er versucht das Licht zu verjagen wie eine lästige Fliege, er kann nicht schwimmen, er kann seine Schnürsenkel nicht binden, er hat Angst davor, Fahrrad zu fahren, seine Eltern haben sich gestern getrennt."

Heute ist sein erster Schultag. An dem Ella die dreiste Unbedarftheit im Umgang mit den Worten völlig abhanden gekommen ist. Gerade die selbstverständlichen geraten zur Bedrohung, "es sind die harmlosen, freundlichen Worte, die gefährlich geworden sind: Vater, Mutter, Familie, Heim. Schwestern und Brüder, Urlaub und Ausflug." Als die Lehrerin Gili nach der Lieblingsbeschäftigung seiner Familie fragt, sagt er "Streiten". Das Bild, das er in der Schule malt, ein Türschild mit der Aufschrift "Das ist das Zimmer von Mama und Papa", hat keinen Ort mehr, wo jüngst noch die benannte Gemeinsamkeit herrschte, denn Ellas Mann, Gilis Vater Amnon, ist bereits ausgezogen. Die Lehrerin ist nicht die einzige, in deren Bild der Welt eine alleinerziehende Mutter gar nicht erst vorkommt.

So ist kein Satz mehr unverbindlich, keiner wiegt mehr leicht, jeder Blick ein stummer Vorwurf, jeder Kommentar ist der falsche und wird selten nur hingenommen, ohne dass Ella in ihrem Kopf vervollständigte: Was er/sie damit eigentlich sagen wollte... Zwischen den Fakten zu lesen ist schließlich ihre Profession: Ella ist Archäologin. Seit einiger Zeit arbeitet sie an einem Aufsatz über den Untergang der antiken Stadt Thera, an einigen gängigen wissenschaftlichen Meinungen zweifelt sie. Ella bildet Legenden, Ella entkräftet sie. Was ihr beruflichen Erfolg beschert, verlängert jedoch im Privatleben nur die elende Unsicherheit. Ellas andauernde Frage lautet schlicht und immer wieder und bei allem: War richtig, was ich getan habe?

Für diese Archäologie des Zweifelns schürft Zeruya Shalev tief im Beziehungsalltag. Der Mangel ist es, der Ella ihrer Sicherheit beraubt, die Macht der Gewohnheit enfaltet sich vollends erst, als das Gewohnte fehlt: Schrankfächer und Betthälften sind plötzlich leer, Schmiege-Schultern und Sexpartner stehen nicht mehr nach Bedarf zu ihrer Verfügung. All diese Randerscheinungen dienten als Geländer auf dem Lebensweg, jetzt da sie fort sind, verliert Ella den Halt. So wird die Vergangenheit im Nachhinein plötzlich ganz schön rosarot. Schon macht sich Ella auf den Büßer-Weg zu Amnon.
Und auch Oded verzweifelt fast an Ellas Zweifeln ob seiner Neuheit, Andersheit, Fremdheit. Die ewige Interpretiererei seiner Handlungen, Gesten, Worte ist ganz und gar kein üppiges Startkapital für die sich ernsthaft anbahnende Beziehung zwischen ihm und Ella, sondern zuallererst Anlass für die üblichen Bösartigkeiten der Liebe. Dass Odeds Exfrau ihm zudem vorwirft, er habe sie betrogen, ist ebenfalls kein Dünger auf zarten Liebespflänzchen. Eher noch ein weiteres Argument, das Ella freudig zwanghaft in ihr Repertoire der Dinge-die-dagegen-sprechen aufnehmen wird – als Einsatz für den nächsten Streit. Allen gemeinhin bekannten Merkmalen des Glücks misstraut sie scheinbar mutwillig. Schließlich hat sie noch zu gut in Erinnerung, wie sie sich darin getäuscht hat.

Dass diese ganzen Kurz- und Viel-zu-lang-Schlüsse, dieses Sich-Verrückt-Machen, Straucheln und Zermürbungsdenken so gleichermaßen individuell wie archetypisch, kurz: so durchweg authentisch ist und trotz seiner Altbekanntheit überraschend viel Spannung birgt, verdankt sich der großen Freiheit, die Zeruya Shalev ihren Figuren gönnt. Nie gibt sie sich wissender als ihre Protagonistin, in jedem Moment lässt sie ihr alle Wege offen und gibt ihr alle Möglichkeiten in die Hand – als hätte nicht einmal die Autorin selbst die geringste Ahnung, wie das alles weitergehen wird. So sehen wir uns in Gefühl wie Verstand und überhaupt recht gut getroffen. Und wenn der Vorhang fällt, sind – wie schön! – weiter alle Fragen offen.

hagalil.com 08-12-05











 

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