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Gaza:
Tage und Nächte
in einem besetzten Land

Amira Hass


EINLEITUNG:
An einem Sommertag des Jahres 1995 fand ich endlich die Lösung eines Rätsels, das mich seit meiner Kindheit verfolgt hatte. Unter einem dichten Maulbeerbaum in einem Orangenhain an einem Hang, der zuerst sanft anstieg, um dann langsam zu den Moscheen abzufallen, die sich von der Innenstadt von Gaza bis ans Meer erstrecken, fand ich die Erklärung für etwas, das ich viele Jahre zuvor in einem israelischen Kinderbuch gelesen hatte. Titel und Verfasser des Buches habe ich längst vergessen, aber ich erinnere mich an einen Jungen, der in einem kleinen Becken in einem Orangenhain schwamm. Ich war ein Stadtkind, und so konnte ich mir zwar die Früchte an den Zweigen vorstellen, aber ich verstand beim besten Willen nicht, wie ein Swimmingpool in einen Orangenhain kommen sollte.

Ich fand die Lösung des Rätsels, als Freunde in Gaza mich einluden, sie zu einer Feier im Orangenhain der Familie Raji Souranis zu begleiten, eines Intifada-Aktivisten und Rechtsanwalts für Menschenrechte. Als wir ankamen, war der Orangenzüchter gerade damit beschäftigt, einen großen, rechteckigen Bewässerungstank mit Wasser aufzufüllen. Als der Tank voll war, sprangen alle anwesenden Männer hinein. Dabei schrien sie wie Kinder, als sie in das kalte Wasser eintauchten. (Wir Frauen blieben auf dem Trockenen. Schließlich befanden wir uns in dem konservativen Gaza.) Und nun verstand ich, wie das Wasserbecken in meinem israelischen Kinderbuch in den Orangenhain kam.

Es war weder das erste noch das letzte Mal, daß ich einen Widerhall meines Lebens in Israel in Gaza hörte, sei es im Klang der hebräischen Sprache, die durch die Flüchtlingslager tönte, oder in den Geschichten, die die alten Flüchtlinge von der lang verlorenen Heimat ihrer Familien in Palästina erzählten, als seien sie erst vor einer Woche dort gewesen, oder in den von schwarzem Humor gekennzeichneten Erzählungen meiner Freunde von ihren Erlebnissen in israelischen Gefängnissen. Ich hatte meine Freunde noch niemals so lachen sehen, wie sie es an diesem Nachmittag zwischen den Orangenbäumen taten. Sie waren Wissenschaftler, Außendienstmitarbeiter und Rechtsanwälte vom Zentrum für Recht und Gesetz in Gaza, und sie hatten zu den ersten gehört, die mich in Gaza eingeführt und mit seiner Bevölkerung bekannt gemacht hatten. Durch sie hatte ich eine Vorstellung vom Leben unter der Besatzung bekommen. In ihrer Gesellschaft hatte ich erfahren, daß das breite, entwaffnende Lächeln, das die meisten Einwohner von Gaza dem Fremden zeigen, eine abgrundtiefe Traurigkeit verbirgt.

Ich war als freiwillige Helferin für Workers Hot Line {Arbeiternotruf) nach Gaza gekommen, eine israelische Organisation, die Arbeiter aus den besetzten Gebieten bei ihren Beschwerden gegen israelische Arbeitgeber vertrat. Damals, 1991, gehörte ich der Redaktion der Tageszeitung Ha aretz an. Im Laufe der Zeit hatte ich begonnen, über den Gazastreifen zu berichten, der in vieler Hinsicht Terra incognita war. Ich knüpfte Kontakte: Die erste, die mir half, war Tamar Peleg, eine israelische Menschenrechtsanwältin. Sie machte mich mit ihren ehemaligen Klienten bekannt, die sie während ihrer administrativen Haft (einer besonders verabscheuenswürdigen Einrichtung, die es gestattet, Menschen für unbestimmte Zeit ohne Gerichtsverhandlung festzuhalten) oder anderer Gefängnisaufenthalte vertreten hatte. Der erste Name auf ihrer Liste war Raji Sourani.

Alles weitere kam von ganz alleine: Nach der Unterzeichnung der Grundsatzerklärung im Jahr 1993, die den Palästinensern eine begrenzte Selbstverwaltung in Gaza und Jericho einräumte, wurde ich Korrespondentin meiner Zeitung für den Gazastreifen und sollte über die letzten Monate der direkten israelischen Besatzung und den Übergang der Verwaltung auf die Autonomiebehörde berichten. Damals beschloß ich, mich in Gaza niederzulassen. Zuerst zog ich vom Haus eines Freundes zum anderen, bis ich mir schließlich ein Appartement in der Innenstadt von Gaza mietete. Es erschien mir als ein normaler und logischer Schritt, nach Gaza zu ziehen. Wie sollte ich eine Gesellschaft verstehen und über sie schreiben, wenn ich nicht in ihrer Mitte lebte? Ich war, so erschien es mir, wie jeder andere Journalist, der in ein fremdes Land geschickt wird, um darüber zu berichten. Den meisten Israelis jedoch kam mein Entschluß absurd, ja wahnsinnig vor, denn sie waren überzeugt, daß ich mein Leben aufs Spiel setzte.

Schon lange bevor ich tatsächlich dorthin zog, war mir klargeworden, wie verzerrt die Vorstellungen der meisten Israelis vom Gazastreifen sind - primitiv, gewalttätig und den Juden gegenüber feindlich gesinnt. Während der ganzen Zeit, in der ich dort lebte, habe ich immer dafür gesorgt, daß jedermann wußte, daß ich eine israelische Jüdin bin. Diejenigen unter meinen Freunden, die Hebräisch konnten, sprachen ohne jedes Zögern in meiner eigenen Sprache mit mir - in ihren Häusern und Büros, auf den Straßen und Märkten, in den Flüchtlingslagern, in einem Haus in Khan Yunis, wo die Menschen zusammengekommen waren, um ein Mädchen zu betrauern, das während einer Unterbrechung der Ausgangssperre von israelischen Soldaten erschossen worden war, bei einer Demonstration für die Entlassung der politischen Häftlinge, bei der Hochzeit des Bruders eines Bekannten. Während der Zeit, als die Nächte noch von der von Israel verhängten Ausgangssperre und den Patrouillen der Armee beherrscht wurden, übernachtete ich häufig in ihren Wohnungen. "Was würden deine Freunde machen, wenn die militanten Aktivisten herausfinden würden, daß eine jüdische Frau bei ihnen zu Gast ist?" wurde ich in Tel Aviv von einem Mann gefragt, der einen Ruf als gut informierter Arabist hat. Die Frage kam für mich vollkommen überraschend. Ich war noch nie auf die Idee gekommen, daß meine Anwesenheit meine Gastgeber in Schwierigkeiten bringen könnte, und wie ich mich später überzeugte, diese ebensowenig. Keiner meiner Freunde machte sich diesbezüglich irgendwelche Sorgen. Sie alle hielten ihre Türen für mich offen, sei es im Flüchtlingslager Rafah oder in al-Shatti, das sich an der Küste vor der Stadt ausbreitet. Ihnen habe ich es zu verdanken, daß ich gelernt habe, Gaza mit den Augen seiner Bewohner zu sehen und nicht durch die Windschutzscheibe eines Armeejeeps oder so, wie es in den Vernehmungsräumen des Shabak, des israelischen Geheimdienstes, gesehen wurde.

Meine Erfahrungen in Gaza, die Selbstverständlichkeit, mit der die Leute mich akzeptierten, die Offenheit, mit der wir über alle Dinge miteinander redeten und sogar streiten konnten, waren die Antwort, die ich allen Israelis gab, die mich fragten: "Wie kommt es, daß du keine Angst hast?" und die nicht verstehen konnten, was in aller Welt in mich gefahren war. Tatsächlich war dies jedoch nur eine halbe Erklärung. Meistens vermied ich es, die ganze Geschichte zu erzählen.

Die andere Hälfte der Geschichte sind die Erinnerungen meiner Eltern, von denen sie mir seit meiner Kindheit erzählt hatten und die ich aufgesogen hatte, bis sie zu meinen eigenen wurden. Sie waren Holocaust-Überlebende, Kommunisten, Juden aus Südosteuropa, die in Israel lebten, und sie hatten mich mit den Sagen des Widerstands und der Kämpfe einer verfolgten Nation aufgezogen. In der rumänischen Schule meines Vaters in Suceava zum Beispiel war ein Drittel der Schüler jüdisch. Es bestand eine Übereinkunft, daß diese Schüler samstags, am Sabbat, die Schule besuchten, daß an diesen Tagen jedoch keine Klassenarbeiten oder schriftlichen Prüfungen geschrieben werden würden. Eines Tages durchbrach ein antisemitischer Geschichtslehrer diese Regel und setzte eine Klassenarbeit für einen Samstag an. Als Kind hörte ich mit Begeisterung, wie mein Vater - damals dreizehn Jahre alt und bis heute ein orthodoxer Jude, voller Vertrauen und Sicherheit bezüglich seines Platzes in der Welt - einen Streik unter den jüdischen Schülern organisierte und selbst die beiden nichtreligiösen Klassenkameraden überredete mitzumachen. Der Direktor wollte ihn von der Schule verweisen, aber alle Verbindungen wurden mobilisiert (ein Vorgang, der in der arabischen Welt als die Anwendung von Wasta bekannt ist), und die Strafe wurde auf einen einmonatigen Ausschluß vom Unterricht reduziert. In ihrem Appell an einen wohlwollenden Lehrer hatten meine Großeltern argumentiert, daß es um Religionsfreiheit und Minderheitenrechte gehe. "Blödsinn!" hatte der Lehrer geantwortet. "Jeder weiß doch, daß der Junge ein geborener Bolschewik ist." Mein Vater blieb sein ganzes Leben lang ein Unruhestifter, der nicht so leicht zum Schweigen zu bringen war.

Auch meine Mutter hatte ihre Geschichten. Auch sie war beschuldigt worden, mit den Bolschewisten zu sympathisieren, wenn auch unter vollkommen anderen Umständen. In den Baracken von Bergen-Belsen, wohin sie deportiert worden war, bestand die einzige Nahrung in einer übelschmeckenden Suppe aus fauligen Rüben, und die für die Verteilung zuständige Person hatte keinerlei Interesse daran, gleichmäßig große Portionen auszuteilen. Meine Mutter und einige ihrer Freundinnen übernahmen die Verteilung und sorgten dafür, daß alle die gleiche Menge bekamen. "Was glaubst du, was dies hier ist?" brüllte der Oberaufseher sie an. "Ein Sowjet?" Die anderen Frauen standen auch Schmiere, während meine Mutter gegen die Vorschriften verstieß, indem sie das nationalsozialistische Inferno in Form eines auf Papierfetzen geschriebenen Tagebuchs dokumentierte. Außerdem unterrichtete sie heimlich die Kinder des Lagers, ein Vergehen, mit dem sie das Leben aller Beteiligten aufs Spiel setzte.

Eine tolerante Stadt, fast idyllisch - so sieht das Bild Sarajevos vor dem Zweiten Weltkrieg in der Erinnerung meiner Mutter aus. Der Ruf des Muezzin, die Kirchenglocken und die in Ladino gesungenen Sabbatpsalmen waren die Klänge ihrer Kindheit. Sie erinnert sich auch daran, für diese Toleranz gekämpft zu haben. Muslime, Christen und Juden lebten nebeneinander, lernten in den gleichen Klassenzimmern, gingen zusammen an die Universität, wurden Atheisten und gingen in den kommunistischen Untergrund. Vermutlich die einzige Ohrfeige, die meine Mutter jemals irgend jemandem versetzte, teilte sie in dieser Zeit aus. Ein Mitstudent, ein Muslim, hatte sich über die Juden lustig gemacht, und sie schlug ihn. Später versöhnten sie sich wieder .

Die Vorbilder meiner Eltern waren auch die meinen, die Szenen, die sich in ihr Gedächtnis eingegraben hatten, prägten sich auch mir ein. Meine Mutter erzählte von ihrem Mathematiklehrer - Marcel Schneider -, der sich einmal, als sie ihm über den Weg lief, vor ihr verbeugte und an seinen Hut tippte. Sie war schwer mit Büchern beladen und brachte gerade den frisch zubereiteten Hefeteig ihrer Mutter zum Bäcker, und so reagierte sie ungeschickt und verlegen. Auch mir wurde diese würdevolle Höflichkeit zu einer lieben Erinnerung. Jeder kannte sein Geheimnis - er war Kommunist. Während des Krieges schloß er sich den Partisanen an, wurde von den Nazis gefangen und gehenkt. Jahre später erschauerte ich im jüdischen Museum in Belgrad, als ich das Flugblatt sah, das von seiner Hinrichtung berichtete. Die Familie meines Vaters wurde in das Ghetto von Transnistria deportiert, wo seine Eltern an Typhus und Unterernährung starben. Er konnte niemals den Bäckerladen im Ghetto vergessen, wo Leute mit Geld und einige Mitglieder des Judenrats sich Kuchen kauften, während hungrige Kinder draußen standen und mit sehnsüchtigen Augen zuschauten. Wann immer ich die frommen Legenden von der "jüdischen Einheit" höre, denke ich daran, daß diese Einheit am Eingang von Transnistria endete.

Diese Geschichten waren das Vermächtnis meiner Eltern - eine Geschichte des Widerstands gegen jede Ungerechtigkeit, der offenen Meinungsäußerung und der Gegenwehr. Aber von all den Erinnerungen, die ich mir zu eigen gemacht habe, ist mir eine ganz besonders wichtig. An einem Sommertag des Jahres 1944 wurde meine Mutter zusammen mit der übrigen menschlichen Fracht aus einem Viehwagen ausgeladen, der sie von Belgrad zum Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht hatte. Als die seltsame Prozession vorbeimarschierte, sah sie eine Gruppe deutscher Frauen, einige zu Fuß, andere mit Fahrrädern, die stehenblieben und mit gleichgültiger Neugier in den Gesichtern zusahen. Für mich wurden diese Frauen zu einem abscheulichen Symbol des unbeteiligten Zusehens, und schon in sehr jugendlichem Alter beschloß ich, daß ich niemals zu dieser Art von Zuschauern gehören wollte.

So war mein Wunsch, in Gaza zu wohnen, nicht auf Abenteuerlust oder Wahnsinn zurückzuführen, sondern auf die Angst, zu einem tatenlosen Zuschauer zu werden, auf mein Bedürfnis, eine Welt, die nach meinem besten politischen und historischen Wissen das Werk Israels ist, bis ins letzte Detail zu verstehen. Für mich verkörpert der Gazastreifen die ganze Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts. Er verkörpert den zentralen Widerspruch des Staates Israel - Demokratie für die einen, Enteignung für die anderen. Er ist unser freiliegender Nerv. Ich wollte die Menschen kennenlernen, deren Leben durch meine Gesellschaft und meine Geschichte für immer verändert worden war, deren Eltern und Großeltern 1948 aus ihren Dörfern vertrieben und Flüchtlinge geworden waren.

Tatsächlich fand ich sehr schnell heraus, daß es ein besonderes Band gab, das mich mit den Flüchtlingen und den Lagern, in denen sie lebten, verband. Ich fühlte mich zu Hause in dieser provisorischen Dauerhaftigkeit, in der Sehnsucht, die sich an jedes Sandkorn klammert, in dem Zorn, der in den Gassen gedeiht. Erst allmählich und nur einigen wenigen Freunden in Gaza und Israel begann ich zu erklären, daß es mein Erbe war, diese einmalige, autobiographische Mischung, die von meinen Eltern an mich weitergegeben worden war, die mir den Weg in den Gazastreifen gewiesen hatte.

ISRAEL UND PALÄSTINA:
VERZERRTE WAHRNEHMUNGEN


Tage und Nächte in einem besetzten Land
von Amira Hass
Beck (2003), Preis: Euro 24,90
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Lesungen mit Amira Hass

Amira Hass, Tochter osteuropäischer Holocaust-Überlebender, ist Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha’aretz und lebt seit vier Jahren freiwillig als erste und einzige israelische Journalistin im Gazastreifen und im Westjordanland, derzeit in Ramallah. Für ihre ungewöhnlichen und mutigen Reportagen aus den Palästinensergebieten wurde sie mit dem World Press Hero Award des International Press Institute ausgezeichnet. 2002 erhielt sie den Prince Claus Award und den Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte.

hagalil.com 10-07-03











 

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