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Richard Chaim Schneider - "Wir sind da!":
Juden in Deutschland nach 1945

Hörbuch-Tipp

Richard Chaim Schneider,
"Wir sind da!" Juden
in Deutschland nach
1945

Der Hörverlag 2001
5 CDs, Euro 51,00
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Was 1945 niemand für möglich gehalten hat, geschah. Juden, die die Schoah überlebt hatten, kehrten nach Deutschland zurück oder ließen sich in Deutschland nieder, beteiligten sich am Aufbau der beiden deutschen Staaten und begaben sich dadurch in ein besonderes Spannungsfeld deutsch-jüdischer Identität. Richard Chaim Schneider, selbst als Kind ungarischer Holocaust-Überlebender in Deutschland geboren, näherte sich dem Thema aus innerjüdischer Perspektive. Seine Dokumentation "Wir sind da!", 10 halbstündigen Folgen, die in einer Koproduktion des Bayerischen Rundfunks und des WDRs entstanden, sind auch als Audio-Buch sehr zu empfehlen.


Einführung anhören

Schneider beginnt mit der Situation nach 1945, mehr als 200.000 Juden lebten als Displaced Perons in Lagern der amerikanischen Zone. Die Organisation in den DPs, das Leben zwischen der Vorbereitung auf die Einwanderung in Israel und die Bemühungen, ein "normales" Leben zu führen, werden durch zahlreiche Beiträge dokumentiert. Zeitungen, Fussballvereine, Theaterveranstaltungen schienen den unbeschwerten Alltag erneut greifbar zu machen. Vor allem den Wunsch, eine neue Familie zu gründen,  beschreiben Zeitgenossen als dringenden Wunsch. Dazu äußert sich u.a. Ernest Landau, der damals in der Verwaltung eines DP-Lagers tätig war. Israel Becker, heute im israelischen haBimah-Theater, war Hauptdarsteller und Regisseur des ersten jüdischen Films, der 1945 auf deutschem Boden gedreht wurde. Er erzählt von den Dreharbeiten zu "Lang ist der Weg", der nicht nur ihm, sondern auch den zahlreichen Statisten aus dem Lager, die Chance bot, über ihre Geschichte, über die Erinnerung, die sie in sich trugen, zu erzählen.

"Unsere Eltern" erzählt Schneider, wollten endlich das Leben genießen, wollten am Wirtschaftswunder in der neuen Bundesrepublik teilhaben, wurden dabei aber von den Juden in aller Welt verachtet. Sie wollten die Schrecken der KZs vergessen, "aber um welchen Preis, was mussten sie alles verdrängen, um in Deutschland leben zu können".

Bereits in den ersten Jahren nach Kriegsende kam es auch zur Wiederetablierung jüdischen religiösen Lebens. Synagogen wurden wieder aufgebaut, von Deutschen wurde das als gute Gelegenheit angesehen, guten Willen zu zeigen, schließlich hatte man mit dieser Vergangenheit nichts mehr zu tun. Lily Marx, die Frau von Karl Marx, der später die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung gründete, erzählt von den Anfängen der Gemeindearbeit. 1950 wurde der Zentralrat der Juden in Deutschland gegründet. Sein politisches Ziel: Normalisierung, keine Diskriminierung und keine Privilegierung, Normalisierung jüdischen Lebens in Deutschland.

Die treibende Kraft der 50er Jahre ist das Bedürfnis über die "Schrecken der Vergangenheit" zu schweigen, nach Vorne zu blicken. Nicht nur bei den Deutschen, auch auf Seiten der Opfer, der Juden in Deutschland. Der Historiker Norbert Frei und der Soziologe Michael Bodemann kommen hier zu Wort und erklären das generelle Spannungsfeld der jungen Bundesrepublik zwischen Vergangenheitsbewältigung und vollkommener Amnesie. Die Affäre um Hans Globke, Kommentator zu den Rassegesetzen, steht neben nichtssagenden Rituale, an die sich alle klammern, um so zu tun, als ob man sich versöhnen könnte. Die "Woche der Brüderlichkeit" sieht Schneider als eine typische Erfindung der jungen Bundesrepublik.

Der Eichmann-Prozess war auch in Deutschland ein Wendepunkt im Umgang mit der Vergangenheit. Er steht am Anfang eines langsamen Erwachens, das klar machte, dass viel mehr Mörder noch immer lebten und mitten in der Gesellschaft lebten. Vom Auschwitz-Prozeß in Frankfurt 1964, einem einschneidenden Augenblick in der Republik, berichtet u.a. Ralf Gioradano, der jeden Tag anwesend war.

Ende der 60er Jahre folgte dann wieder eine Ernüchterung mit dem Erfolgszug der rechtsradikalen Partei NPD. Die Juden in Deutschland saßen noch immer auf ihren gepackten Koffern. Man hatte nicht vor zu gehen, aber man war wachsam, "man wartet und hofft, dass es nicht so schlimm wird". Das Motto, das Schneider dieser Zeit gibt ist, dass das Abnorme als Norm jüdischen Lebens in Deutschland wurde, jüdisches Leben ist immer noch da, findet aber versteckt und im Geheimen statt: "Wir sind da. Aber keiner sieht uns."

Das offizielle Verhältnis zwischen Jerusalem und Bonn, der Weg zum Luxemburger Abkommen und die ersten Kontakte zwischen Deutschland und Israel, die zunächst über geheime Waffenlieferungen liefen, erzählt u.a. Shimon Peres, der damals inkognito nach Bayern zu Franz Josef Strauß reiste. Zunächst wurde dann eine Israelische Mission in Köln eröffnet, 1960 fand das denkwürdige Treffen zwischen Ben Gurion und Adenauer in New York statt. Über den schwierigen Beginn der diplomatischen Beziehungen erzählt Rolf Pauls, der Deutschlands erster Botschafter in Israel war.


Shimon Peres über sein Zusammentreffen mit Franz Josef Strauß

1968 brachte auch für junge Juden große Hoffnungen und man hatte zunächst Vertrauen in die jungen deutschen Revolutionäre. Cilly Kugelmann erzählt, dass dies die erste Möglichkeit war, sich gemeinsam mit Deutschen zu identifizieren, gemeinsam auf die Straße zu gehen. Doch dann löste der 6-Tage-Krieg eine Kehrtwendung bei der deutschen Linken aus. Der aufflammende Antizionismus in der Linken führte zunächst dazu, dass Ascher ben Natan, Israels Botschafter in Deutschland, bei einer Reise durch die Republik, die als Vermittlung gedacht war, mit Hitler verglichen wurde. Henryk Broder kommt hier zu Wort und betont, dass alle klassischen antisemitischen Klischees im Antizionismus wieder auftauchen.


Kehrtwendung der deutschen Linken

In einem längerem Teil widmet sich Richard Chaim Schneider dem jüdischen Leben in der DDR. Er selbst bezeichnet ihn als Versuch der Annäherung "eines Juden aus dem Westen, eines Juden, der in demokratischer Freiheit aufgewachsen ist". Herman Simon, Leiter des Centrum Judaicum, der schon im Vorstand der Ostberliner Gemeinde war, und auch im Vorstand der Jüdischen Gemeinde heute sitzt, erzählt davon, wie er zum Religionsunterricht in den Westen fuhr, als es im Osten keine Möglichkeit gab. Der Ost-West-Konflikt fand auch hier seinen Niederschlag, Yassir Arafat war ein gern gesehener Gast in Ost-Berlin, die DDR unterstützte die Palästinenser mit Waffen und Ausbildungsmöglichkeiten. Peter Honigmann weist das Paradox hin, dass man sich vielleicht in keinem Land konnte als Jude physisch so sicher fühlen konnte wie in der DDR, jedoch von einem zynischen Umgang, der sich in den 80er Jahren fortsetzen sollte, ständig umgeben war.

Die Politik der SED wurde in den 80er Jahren wesentlich von einem antisemitischen Klischee bestimmt. Dennoch, auf der Suche nach Möglichkeiten den Staat aus der Pleite zu führen, versuchte man eine Annährung an den Westen, getreu der Devise "der Weg nach Washington führt über Jerusalem". So wurde ein amerikanischer Rabbiner, Rabbi Neumann, nach Berlin gebracht, und natürlich ausspioniert. Damit war erstmals wieder ein Rabbiner in Ostberlin, am Prenzlauer Berg in der Synagoge Ryckestrasse, eingestellt. In der DDR-Zeit wurde auch noch die Renovierung der Synagoge in der Oranienburger Straße und die Gründung des Centrum Judaicum begonnen.

Auch das Thema Juden als Stasi-Informanten thematisiert Schneider. Dazu wollte er zwei Personen interviewen, die besonders prominent waren und immer noch sind. Peter Kirchner war schwer erkrankt, Irene Runge, die bis heute den jüdischen Kulturverein Berlin leitet, weigerte sich über ihre Stasi-Vergangenheit Auskunft zu geben. Nur eine wollte darüber sprechen, Salomea Genin. Sie hatte 1982 ihre Stasi-Tätigkeit beendet und erzählt von einem Vorfall mit ihrem Sohn, der dazu führte, dass ihr schließlich bewußt wurde, dass die Strukturen des Staates es sind, die Angst erzeugen, dass sie in einem Polizeistaat lebte, der nichts mit Sozialismus zu tun hatte und dem sie ihr Leben gewidmet hat.

Der Sprung zurück nach Westdeutschland beginnt mit der Wahl Helmut Kohls 1982. Die angekündigte geistig-moralische Wende der neuen Regierung erfüllte die Juden in Deutschland mit Skepsis. Zurecht, wie sich bald zeigen sollte. Der erste Auslandsbesuch Kohls als Kanzler führte ihn 1983 nach Israel, wo er so ziemlich alles falsch machte, was man falsch machen konnte und wo der unglückliche Satz von der "Gnade der späten Geburt" fiel. Auch Kohls Besuch gemeinsam mit Ronald Reagan am Soldatenfriedhof in Bitburg, auf dem auch SS Leute begraben liegen, wird u.a. von Richard von Weizsäcker kritisch beleuchtet.


Nach der Wahl Helmut Kohls

In das Gefühlsgemenge der 80er Jahre, in dem die Regierung Kohl Normalisierung erlangen wollte, gehört auch die Fassbinder Aufführung von "Der Müll, die Stadt und der Tod", die Juden auf einmal ins Rampenlicht brachte, nachdem man sich dazu entschlossen hatte, den Protest mit allen Mitteln zu führen. Heinz Galinski löste in dieser Zeit Werner Nachmann als Vorsitzender des Zentralrates ab und bemühte sich, alle Punkte im Skandal über die von Nachmann veruntreuten Gelder offen zu legen. Der Historikerstreit um Ernst Noltes Thesen oder auch die Jenninger-Rede sind weitere Stationen im deutsch-jüdischen Miteinander der 80er Jahre, das Schneider zusammenfasst: "Wir Juden waren mitten drin in diesem Gefühlschaos der 80er Jahre und dachten, so und nicht schlimmer würde es bleiben in der Bundesrepublik. Wir hatten uns schwer getäuscht!"

Die Wiedervereinigung weckte in den deutschen Juden Ängste und stand für eine Reise in eine unsichere Zukunft. Juden waren einerseits sehr viel skeptischer dem neuen geschichtlichen Abschnitt gegenüber, andererseits brach 1989 auch für die Juden in Deutschland ein neues Kapitel an. Der Schwerpunkt jüdischen Lebens in Berlin verlagerte sich in den Ostteil. Schneider berichtet über die Vereinigung der beiden deutschen Gemeinden in Berlin und das Wiederaufblühen liberalen jüdischen Lebens in Berlin. Eine neue Blüte des Judentums schien heranzureifen.

Doch kurz nach der Wende schallten die "Ausländer raus – Deutschland den Deutschen"-Rufe durch die Republik. Rostock, Mölln und Solingen lösten Unsicherheit und Angst bei den Juden aus. Dann brannte 1994 die Synagoge in Lübeck. "Wir Juden haben unsere Koffer ausgepackt, sollen wir sie wieder packen?" fragt Schneider. Doch die Zeit nach der Wende ist auch eine Zeit der Wiederbelebung vieler Gemeinden. Die Einwanderung russischer Juden, die ebenfalls zu Wort kommen, frischte kleine Gemeinden neu auf und bewahrte sie vor dem Aussterben.

In Deutschland begann die Debatte um Schindlers Liste, um Goldhagen und das Holocaust Denkmal. Die Juden sind mit ganz anderen Dingen beschäftigt, denn es rumort in den Gemeinden. Die vergangenen Jahre sind durch eine stark zunehmende Pluralisierung des deutschen Judentums gekennzeichnet. Auch das liberale Judentum gewinnt zunehmend an Bedeutung. Mit Walter Homolka und Steven Langnas kommen jeweils Vertreter des Reformjudentums und der Orthodoxie zu Wort.

Doch die letzten Jahre haben auch eine erneute Verschärfung gebracht. Als Martin Walser seine Dankesrede in der Paulskirche hielt und von Auschwitz als "Moralkeule" sprach, applaudierten die Deutschen, nur einer blieb sitzen, Ignatz Bubis. Bubis hat sich in seinem letzten Interview sehr pessimistisch geäußert, dass er fast nichts erreicht habe. Und es war sein Wunsch in Israel beerdigt zu werden. Auch wenn Deutschland um Ignatz Bubis trauerte, die Ereignisse schienen seiner Sorge, sein Grab könnte in Deutschland geschändet werden, Recht zu geben. Im Sommer 2000, im sog. Sommerloch, schien auch die weitere Öffentlichkeit zu verstehen, dass der Rechtsextremismus Realität in Deutschland ist. Aus der Debatte sind jedoch fast keine wirksamen Ansätze entstanden.


(Ohne) Juden in Deutschland

Für die Juden in Deutschland ist die Situation seitdem noch um ein vielfaches schwieriger geworden. Seit dem Erscheinen von Schneiders Dokumentation ist viel passiert, viel zu viel als dass man sich noch etwas von einer "Normalisierung" vormachen könnte. Möllemann hat ganze Arbeit geleistet, und auch an seinem Tod sind die Juden für viele Stammtischredner schuld. Die Affäre um Michel Friedman wird als weiterer dunkler Punkt in der Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland nach 1945 prangen.

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