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Gefahr im Ghetto

Rosa Hipp entführt ins mittelalterliche Venedig…

Von Katrin Diehl
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine, 15.10.2015

Erfolgsrezepte sind nicht ohne Risiko. Das gilt auch für die Buchbranche. Da gibt es Trends, auf die man setzt, und von heut’ auf morgen will der Leser nichts mehr davon wissen. Die Sache ist ausgelutscht. Im Kinder- und Jugendbuchbereich ist das ein bisschen anders. Es gibt Trends, die haben beinahe etwas Gesetzhaftes. Tierbücher gehen immer, auch Internatsgeschichten, Detektivromane … und Fantasy sowieso. Man darf es den Verlagen daher kaum verdenken, wenn sie in diesen harten Zeiten auf ein paar sichere Pferde setzen.

Zurück zum Erfolgsrezept. Wir werfen in einen großen Topf: etwas Fantasie, ein bisschen Zeitreise, eine Prise Mittelalter, einen Hauch Liebesgeschichte, viel Spannung und schlaue Kinderhelden. Dann kräftig rühren. Fertig. Nicht ganz. Ein Cover muss noch auf den Titel (von Claudio Prati), geheimnisvoll, fantastisch, ein bisschen düster, hyperrealistisch. Dann kann eigentlich nichts mehr schiefgehen.

Dass Myriam Halberstam, Leiterin des Ariella-Verlags, des bis dato einzigen jüdischen Kinder- und Jugendbuchverlags in Deutschland, Die Gondel mit dem magischen Schwert von Rosa Hipp in ihr Programm aufgenommen hat, hat sicher mehrere Gründe. Jedenfalls macht das Buch mit dem etwas schrägen Titel deutlich, wie breit das Spektrum ist, wenn man mit seinem Angebot ein junges jüdisches (und nichtjüdisches) Lesepublikum bedienen möchte. Ja, eigentlich lässt sich sagen, dass das Spektrum kein bisschen kleiner ist als bei den Riesenverlagen.

Venedig mit seinen Gässchen, in denen Geheimnisse lauern, ist schon seit geraumer Zeit von Autoren für Kinder und Jugendliche entdeckt worden (ganz prominent: Cornelia Funkes Herr der Diebe und Mirjam Presslers Shylocks Tochter). Kommt ein aktueller Anlass hinzu – das jüdische Ghetto von Venedig, das erste Ghetto überhaupt, wird im kommenden Jahr 500 Jahre alt –, müsste alles passen.

Das Buch ist mustergültig, fast schablonenhaft. Es beginnt mit einem Kurzurlaub in Venedig, der für die jugendliche Heldin Maja, etwa zwölf Jahre alt, nichts verspricht (viel lieber würde sie in der Küche bei ihrer norddeutschen Oma sitzen und Kartoffelpuffer essen), der aber dann so richtig Fahrt aufnimmt.

Deutsche Familie besucht italienische Familie, die Canettis nämlich, eine jüdische Mischpoche. Die Bekanntschaft beruht auf einer Brieffreundschaft zwischen den beiden Müttern. Dass das Jüdische in diesem Buch eine sehr unaufgeregte bis zufällige Rolle spielt (bis auf die eine, ein wenig pflichtbewusste Stelle, in der Maja ihre Mutter und Oma belauscht, die vom letzten Krieg und den Juden flüstern), ist eher angenehm. Zur Brieffreundschaft zwischen Gerlinde und Sarah ist es vor Jahren durch einen roten Luftballon mit Zettelchen daran gekommen, der es über die Alpen geschafft hatte.

Wo Konstruktion nötig ist, muss man konstruieren. Jedenfalls geraten das Mädchen Maja und der etwa gleichaltrige Sohn der italienischen Familie, Rafael, in eine Zeitmaschine und damit ins Ghetto des 16. Jahrhunderts, wo sie Rahel
kennenlernen. Der Leser erfährt die Enge, Armut und Bedrücktheit des Ghettos.

Überhaupt bemüht sich Rosa Hipp in ihrem ersten Buch um dichte Atmosphäre. Man kann die Sehnsucht von Rahel nachvollziehen, aus dem Ghetto auszubrechen und das Leben jenseits der Mauern zu genießen. Dort allerdings sind Juden nicht gern gesehen. Höchstens, wenn die Reichen und Schönen, aber auch die Schurken, einen Nutzen davon haben.

Rahels Vater, ein anerkannter Dottore, der auch außerhalb des Ghettos gefragt ist, wird denunziert, er wird für einen Giftanschlag auf die Wachen im Arsenale verantwortlich gemacht, um von den wirklich Schuldigen abzulenken. Die haben ein Feuer gelegt und wollen wichtige Unterlagen entwenden, die dem Feind zugespielt werden sollen. Dem Vater droht Folter oder Schlimmeres. Ganz Venedig ist in Gefahr. Die Rettungsaktion ist eine Jagd von Campo zu Campo.

Das alles ist Unterhaltung pur, liest sich runter wie nichts und macht Lust auf einen Tag Venedig, zu dem nicht nur die Gondeln gehören, sondern auch das Ghetto.

Rosa Hipp: »Die Gondel mit dem magischen Schwert«. Roman. Ariella, Berlin 2015, 228 S., 14,99 € (ab 10 Jahren), Bestellen?

LESEPROBE:

Draußen hat es aufgehört zu regnen, doch in den Unebenheiten im Boden hat sich überall Wasser gesammelt. Rasch wirft Rahel noch einen Blick nach oben zu Daphne Pontis Fenster. Aber dort ist es finster und nichts rührt sich.

„Avanti!“, sagt sie leise und läuft los. Geschickt weicht sie den vielen Pfützen aus, die wie hingeworfene Spiegelscherben aus der Dunkelheit hervorblitzen. Maja und Rafael folgen ihr langsam, denn sie haben Mühe, nicht in eine der zahlreichen Wasserlachen zu treten.

„Gibt es noch einen anderen Weg nach draußen als durch die Ghettotore?“ fragt Maja, als sie den weitläufigen Campo Nuovo überqueren. Doch Rahel schüttelt nur den Kopf, ohne sich dabei umzudrehen.

„Und was steht in deinen alten Büchern darüber geschrieben?“, fragt Maja und sieht Rafael an, der dicht neben ihr hergeht.

„Soweit ich weiß, gibt es nur die zwei bewachten Eingangstore und auch der Kanal rings um das Ghetto wird von Booten aus kontrolliert“

„Und wie wollen wir die Wachen ablenken, damit wir durch das Tor kommen?“

„Keine Ahnung, ich weiß es noch nicht, aber mir fällt bestimmt etwas ein“, brummt Rafael, denn ihm ist der ungeduldige Ton in Majas Frage keineswegs entgangen.

„Dann musst du dich aber beeilen!“, erwidert Maja und bleibt abrupt stehen, denn aus der Dunkelheit vor ihnen taucht schwer und mächtig das große Eingangstor auf. Es wird von mehreren Pechfackeln angeleuchtet und Maja sieht deutlich, dass eine der Bohlentüren nicht ganz geschlossen ist. Davor sitzen zwei Wachsoldaten, die ihnen glücklicherweise den Rücken zukehren. Sie unterhalten sich laut und vertreiben sich die Zeit mit Würfelspiel und einem Krug voll Wein. Maja und Rahel stehen dicht beieinander. Maja will etwas sagen, aber Rafael bringt sie zum Verstummen.

„Psst, bleibt hier stehen, ich schau mal nach, was da los ist.“ Bevor sie ihn zurückhalten kann, ist er schon in Richtung Tor unterwegs. Gespannt schaut sie ihm hinterher.

„Wenn sie ihn jetzt erwischen, dann ist es aus und wir kommen nie mehr nach Hause.“ Majas Herz pocht wie verrückt. Auf ihrem Rücken spürt sie Rahels Hand, die sich ängstlich in ihren Umhang krallt. Atemlos verfolgen sie Rafaels Alleingang. Er hat schon beinahe das Tor erreicht und will sich gerade durch die schmale Öffnung drücken, da dreht sich plötzlich einer der Wachsoldaten zu ihm um. Mit einem mutigen Sprung kann er sich in den dunklen Winkel hinter der angelehnten Tür retten.

„Das war knapp!“, denkt Maja und bekommt vor Schreck ganz weiche Knie. Sie überlegt fieberhaft, wie sie die Wachsoldaten von Rafael ablenken kann. Dann befolgt sie Oma Bertolts Rat für Krisensituationen und holt ein paar Mal ganz tief Luft. „Irgendwo muss ich doch meine Taschenlampe haben“, fällt ihr plötzlich ein. Ungeduldig nestelt sie an ihrem kratzigen Umhang herum und öffnet mit einem leisen „Zipp“ den Reißverschluss ihrer Umhängetasche. Rahel schaut ihr mit wachsendem Entsetzen dabei zu. „Verflixt – der Reißverschluss!“, denkt Maja. An Rahels weit aufgerissenen Augen erkennt sie sofort, dass die Nummer mit dem Reißverschluss sie total aus dem Takt gebracht hat, denn so ein Ding hat sie bestimmt noch nie vorher gesehen.

„Alles gut, hab keine Angst, Rahel!“ flüstert Maja ihr zu und sucht weiter in der Tasche. Dann holt sie ohne Vorwarnung eine kleine Taschenlampe aus dem Durcheinander hervor und hofft inständig, dass die Batterien noch nicht leer sind. „Hoffentlich halten ihre Nerven das durch“, betet Maja und sieht Rahel eindringlich an. Dann legt sie ihren Finger auf den Mund und versucht ihr per Zeichensprache klarzumachen, was gleich passieren könnte. Gleichzeitig überlegt sie fieberhaft, was sie tun soll, sollte Rahel gleich einen Schock bekommen und etwa schreiend auf und davon laufen. Dann knipst sie die Lampe an.

Ein gleißend heller Lichtstrahl erscheint blitzartig auf der gegenüberliegenden Wand. „Sie funktioniert! Gott sei Dank!“, denkt Maja überglücklich. Sie hält den Lichtstrahl geradeaus auf das nasse Mauerwerk und malt zackige Muster in die Luft. Ein bizarres Lichtgeflimmer huscht über die alten Steine, die in der Dunkelheit gespenstisch aufblitzen.

Da zerreißt ein schriller Aufschrei die Stille. Glücklicherweise kommt er nicht von Rahel, denn die steht ganz still und stumm neben Maja und rührt sich nicht. Ein Holzstuhl fällt laut krachend zur Seite und kurz darauf geht ein Weinkrug klirrend zu Bruch. Einer der Wachsoldaten ist vor Schreck vom Hocker gestürzt und stürmt schreiend auf das Tor zu und verschwindet dahinter. Auch der andere springt beim Anblick der Lichtblitze erschrocken hoch und folgt seinem Kollegen in die Dunkelheit.

„Sollte ein an Zauber und Magie gewöhnter Ort wie Venedig, tatsächlich auf den simplen Spuk einer Taschenlampe hereinfallen?“, fragt sich Maja und blickt stolz auf ihre Lampe, das Zauberwerkzeug in ihren Händen. Dann blickt sie gespannt auf die offene Bohlentür, denn jetzt ist Rafael dort wieder zu sehen. Er steht direkt am Tor und winkt die beiden Mädchen mit wild fuchtelnden Armen zu sich herüber. Maja dreht sich zu Rahel und zeigt auf Rafael. Sie streckt ihren Arm nach vorn, macht mit den Fingern ein paar trippelnde Bewegungen. Aber Rahel macht keine Anstalten sich zu bewegen. Stocksteif steht sie neben Maja und ist vor Schreck wie gelähmt. Zwar sind es nur wenige Meter bis zum Tor, aber Rahel rührt sich nicht vom Fleck.

Dann ergreift Maja entschlossen Rahels Hand und rennt mit ihr los. Rahel hat keine Wahl: Sie muss laufen, ob sie will oder nicht. Aber weit kommen die beiden nicht, denn schon nach wenigen Schritten löst sich das Band an Rahels rechter Sandale. Sie gerät ins Straucheln und stolpert. Maja lässt blitzschnell ihre Hand los, um nicht mitgezogen zu werden, da schlägt Rahel auch schon auf dem harten Boden der Länge nach hin. Noch haben sie das offene Tor nicht erreicht und die Wachsoldaten können jeden Augenblick zurückkommen. Maja steht hilflos neben Rahel und brüllt aus Leibeskräften: „R-a-f-a-e-l!!!“

Wie eine Rakete kommt er angeschossen und ihr zu Hilfe. Gemeinsam ziehen sie Rahel an den Armen hoch. Sie stöhnt laut auf und kommt nur mühsam wieder auf die Beine. Sie haben Glück: Von den Wachsoldaten ist weit und breit noch immer nichts zu sehen. Mit Majas Hilfe zieht Rahel sich die kaputte Sandale vom Fuß, nimmt sie in die Hand und läuft humpelnd weiter. So erreichen sie das Tor und die dahinterliegende Geländer losen Brücke. Auch draußen, jenseits des Ghettos, ist keine Menschenseele zu sehen. Offenbar haben auch die christlichen Wachposten die Flucht ergriffen.

Erleichtert atmet Maja auf, als sie die rettende Fondamenta auf der anderen Seite des Kanals erreichen. Obwohl Rahel sich beim Sturz verletzt hat, humpelt sie tapfer weiter.

Rosa Hipp: »Die Gondel mit dem magischen Schwert«. Roman. Ariella, Berlin 2015, 228 S., 14,99 € (ab 10 Jahren), Bestellen?